Irma Nelles: Der Herausgeber. Erinnerungen an Rudolf Augstein rezensiert von Beatrice Dernbach

Sie beginnt mit dem Abschied. Rudolf Augstein liegt am 31. Oktober 2002 mit einer schweren Lungenentzündung im Israelitischen Krankenhaus Hamburg. Er stirbt einige Tage später, am 7. November, kurz nach seinem 79. Geburtstag. Auf der Taxifahrt nach Hause beginnt sie zu weinen. „Was Schlimmes passiert?“, fragt der Fahrer. „Nein, etwas Normales.“ – „Ihr Freund?“ Sie denkt: „… in seltenen, flüchtigen Augenblicken waren wir sogar befreundet“ (S. 11).

Irma Nelles, geboren 1946, stieß im Sommer 1973 über das Bonner Büro zum Spiegel. Sie begann als Sekretärin, reduzierte diese Tätigkeit zwischen 1976 und 1983 für ein Studium als Grundschullehrerin. Danach siedelte Nelles nach Hamburg um und war für das Magazin als Leserbriefredakteurin tätig. 1993 wechselte sie schließlich ins zwölfte Stockwerk des Spiegel-Hochhauses und leitete bis zu seinem Tod das Büro des Herausgebers. Von Freundinnen animiert, schrieb sie für den Aufbau Verlag nun ihre Erinnerungen auf.

Die Autorin erzählt in diesem Buch sehr viel über sich selbst: Sie wächst in einem Pfarrhaus auf der nordfriesischen Insel Nordstrand auf. Der Vater bringt zweimal im Monat aus Hamburg den Spiegel mit. „Die Texte im Spiegel fand ich kompliziert und schwer zu verstehen. Außerdem kamen darin fast nur Männer und selten Tänzerinnen oder Schauspielerinnen vor“ (S. 13). Der Vater hält viel vom Magazin und dessen Herausgeber: „Der kriegt alles raus und lässt sich nichts gefallen.“ Tochter Irma merkte sich „diesen Augstein (…), weil er eine Art Meisterdetektiv Kalle Blomquist zu sein schien, der sich auch mal die Großen vorknöpft“ (S. 14).

Mit 22 heiratet Nelles und zieht mit ihrem Mann und zwei Kindern ans Bonner Rheinufer. Fünf Jahre später entdeckt sie eine Stellenanzeige im Bonner Generalanzeiger, bewirbt sich und beginnt als Sekretärin im Bonner Spiegel-Büro. Im Spätsommer 1973 kündigt der Verleger Rudolf Augstein seinen Besuch an: „Ich war sehr gespannt: Rudolf Augstein persönlich! Dass er ins Haus stand, fiel sofort auf. An solch einem Tag wirkten die Redakteure rasierter und frisierter als sonst und trugen ordentliche Anzüge, sogar mit Krawatte“ (S. 24f.). Nelles spürt, wie sich die sonst entspannte Atmosphäre im Büro ändert: „Aber jetzt schien der liebe Gott persönlich vor der Tür zu stehen. So etwas wie Angst machte sich breit“ (S. 25).

Die Abstände, in denen Nelles in den ersten Jahren dem Herausgeber begegnet, sind groß, weshalb die Autorin die Lücken mit vielen irrelevanten biografischen Elementen füllt. Da sie nie als Journalistin gearbeitet hat, fehlt ihr die Routine, zu bewerten und zu selektieren, was wichtig ist und was nicht. Politische Turbulenzen, wie die Affäre Günter Guillaume und der Rücktritt Willy Brandts 1974 werden erwähnt, spielen aber keine tragende Rolle. Stattdessen schildert sie sehr ausführlich, wie der Herausgeber sie regelmäßig in seine Urlaubsorte in der Schweiz oder Frankreich beordert. Dort lernt die Mitarbeiterin den Chef auch von seiner persönlichen Seite kennen. Diese Schilderungen sind allerdings nur selten amüsant und wiederholen sich auf den rund 300 Seiten. Ganz offensichtlich besitzt Nelles nicht das schriftstellerische Naturtalent, eine spannende Geschichte aus Alltagsbeobachtungen heraus zu erzählen. Dadurch bereichert die Lektüre nicht, sondern langweilt.

Zwar festigt die Autorin ein Bild des Herausgebers, das durchaus in anderen Erzählungen (wie der Biografie Augstein von Dieter Schröder, 2004) skizziert wird, aber in der privaten, ja fast intimen Tiefe besonders ist. Von einem „Sittenbild der bundesrepublikanischen Mediengeschichte seit den siebziger Jahren“ (PR-Text des Verlags) ist diese sehr unmittelbare, tagebuchartige Aufzeichnung hingegen weit entfernt. Es ist ein persönliches Portrait über einen sicherlich für die deutsche Mediengeschichte bedeutenden Mann und kauzigen Menschen – nicht mehr, nicht weniger.

Je näher Irma Nelles dem Herausgeber über die Jahrzehnte kommt, desto mehr scheinen andere sich abzuwenden. Die Bonner Redakteure wirken genervt, wenn er sein Kommen ankündigt; auch in der Hamburger Zentrale ist er kein gern gesehener Gast. Die wenigen echten Freunde machen sich Sorgen: Hörfunk- und Fernsehproduzent Henri Regnier und seine Frau Antonia verbringen viel Zeit mit Augstein und beobachten, wie er sich mehr und mehr zurückzieht, nahezu „manisch-depressiv“ wirkt und zu viel Alkohol trinkt. „Ein so berühmter und reicher Mann, wieso hat der niemanden und weiß nicht, wo er hinsoll?“, fragt Nelles (S. 49). Augsteins Beziehungen zu Frauen nennt Antonia Regnier „Donjuanismus“ (ebd.); das Ehepaar versucht, Nelles zu gewinnen, sich mehr um den Mann Augstein zu kümmern: „Er braucht eine Frau, die ihm Suppe kocht“ (ebd.).

Aber die Sekretärin lässt nie eine sexuelle und intime Annäherung zu. Sie schreibt es nicht, aber es ist herauszulesen, dass sie mit dem äußerlich mächtigen, reichen, berühmten, jedoch gleichzeitig empfindlichen, sich selbst bemitleidenden, depressiven, alkoholsüchtigen, oft ruppigen, verschlossenen, alternden kurz: widersprüchlichen Mann keine Beziehung will. Auch wenn sie immer wieder in der Nachbarschaft oder sogar unter seinem Dach wohnt, laufen Augsteins Annäherungsversuche ins Leere.

Kein Wunder, denn seine Strategie ist alles andere als galant: Nach einem Vortrag über den unzurechnungsfähigen griechischen Reeder Aristoteles Onassis, der einen millionenschweren Ehevertrag mit der Witwe Jacqueline Kennedy abgeschlossen habe, „die dafür nichts, aber auch gar nichts liefern würde“, sagt Augstein zu Nelles: „Nun ja, wir können es ja so machen: zweimal in der Woche.“ Auf ihr verwundertes Schweigen reagiert Augstein trotzig: „Zweimal (…). Das wird doch wohl nicht so schwierig sein“ (S. 139f.). Seine engste Mitarbeiterin denkt an ihren Job, an ihren Partner, der weit weg in Bonn lebt, und weist Augstein sanft ab: „Können wir nicht einfach abwarten, wie wir miteinander klarkommen? Vielleicht entwickelt sich ja mit der Zeit irgendetwas“ (S. 141).

Entwickelt hat sich in dieser Hinsicht nichts; Irma Nelles ist bis zum Schluss nie Augsteins Jagdtrieb erlegen, aber immer in seiner Nähe geblieben. Ins Büro ist der Herausgeber nur noch selten gegangen. Auch als Autor von Kommentaren und Titelgeschichten zog er sich zurück. Mit 78 Jahren war er körperlich zerbrechlich und lebte in der Vergangenheit. Selbst seinen ehemaligen Kontrahenten begegnete er nun „friedfertig und versöhnungsbereit“ (S. 313). In dieser „todesnahen, fast kindlichen Zartheit wirkte Rudolf Augstein, als wolle er nun zeigen, wie verwundbar er wirklich sei. Der derbe Schutzpanzer, der ihn häufig so kampfeslustig erscheinen ließ, war verschwunden“ (ebd.).

Diese Rezension ist zuerst in rezensionen:kommunikation:medien (r:k:m) erschienen.

Über die Rezensentin

Dr. Beatrice Dernbach ist Professorin für Praktischen Journalismus im Studiengang Technikjournalismus / Technik-PR der TH Nürnberg. Zu ihren Schwerpunkten gehören Fachjournalismus, Nachhaltigkeit und Ökologie im Journalismus, Narration im und Vertrauen in Journalismus sowie Wissenschaftskommunikation.

 

Über das Buch

Irma Nelles (2016): Der Herausgeber. Erinnerungen an Rudolf Augstein. Berlin: Aufbau. 314 Seiten. 22,95 Euro.