Am Anfang des Journalismus war das Berufsethos Daniel Defoe über Öffentlichkeit, Pressefreiheit und ihre Grenzen[1]

von Horst Pöttker

Abstract: Daniel Defoe (1660 – 1731) hat nicht nur den Roman Robinson Crusoe geschrieben, ein Buch mit einer der höchsten Auflagen in der Weltliteratur. Er war auch Herausgeber und Verfasser von Englands erster politischer Zeitung The Review, die zwischen 1704 und 1713 dreimal in der Woche erschien. Defoe berichtete darin nicht nur über den damaligen Krieg in Frankreich, er schrieb für die Review auch, was man Theoriebeiträge nennen kann, in denen er sein Selbstverständnis und sein Berufsethos als Journalist offenlegte. Der Aufsatz befasst sich anhand einiger dieser Artikel mit Defoes Ideen von diversen Aspekten des Begriffs Öffentlichkeit sowie von Pressefreiheit und ihren notwendigen Grenzen.

Wenn es um Aufgaben und Gefährdungen des Journalismus geht, wird kaum ein anderer Begriff so häufig verwandt wie Öffentlichkeit. Kaum ein anderer Begriff ist aber auch so unklar und schillernd. Das zeigt sich z. B. bei der Übersetzung kommunikationswissenschaftlicher Texte. Für den deutschen Ausdruck Öffentlichkeit steht im Englischen eine ganze Reihe von Vokabeln zur Verfügung: public, public sphere, public opinion, public discours, public life, publicness[2], publicity usw. Bei der Auswahl einer dieser Möglichkeiten für eine sinngemäße Übersetzung muss sorgfältig auf den Kontext geachtet werden. In der Regel kommt der Übersetzer eines kommunikationswissenschaftlichen Textes nicht an allen Stellen mit derselben Vokabel aus, woran sich zeigt, dass der Ausdruck Öffentlichkeit in der deutschen Originalsprache unterschiedliche Bedeutungen hat.

Was bedeutet „Öffentlichkeit“?

Das Durcheinander geht nicht zuletzt auf Jürgen Habermas‘ berühmte Habilitationsschrift Strukturwandel der Öffentlichkeit zurück (Habermas 1971), die Anfang der 1960er Jahre zuerst veröffentlicht wurde. Wie der Titel andeutet, ist Habermas‘ Untersuchung historisch angelegt. Sie greift auf das 18. Jahrhundert zurück und (re-)konstruiert einen Verfall „der“ Öffentlichkeit seit der Aufklärungsepoche. Da aus einem Verfallsprozess nichts Positives resultieren kann, hat Habermas‘ Schrift dazu beigetragen, dass Öffentlichkeit heute oft als etwas Problematisches, ja Gefährliches betrachtet wird. Am deutlichsten kommt diese Unterstellung in einem Buchtitel zum Ausdruck: Öffentlichkeit als Bedrohung (Noelle-Neumann 1979). Und da nur etwas Substantielles seine Struktur verändern kann, haben viele sich angewöhnt, in „der“ Öffentlichkeit eine Art Substanz, ein Gebilde zu sehen. Diese Auffassung wiederum ist die notwendige Voraussetzung für den häufig zu hörenden Hinweis, es sei nicht (mehr) möglich, nur von einer Öffentlichkeit zu sprechen, es müsste vielmehr deren Differenzierung in zahlreiche (Teil-)Öffentlichkeiten zur Kenntnis genommen werden.

Erste Skepsis gegenüber diesen Auffassungen kommt auf, wenn man die Geschichte des Wortes zurückverfolgt. Lange Zeit war nur das Adjektiv öffentlich gebräuchlich. Wenn bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts überhaupt von Öffentlichkeit die Rede war, dann nur im Sinne des älteren Wortes Publizität. Letztlich muss die Unterstellung, Öffentlichkeit sei ein bedrohliches Gebilde, eine Art Monster, die mit dem Herstellen von Öffentlichkeit befassten Berufe, auch und besonders den Journalismus, in ein schlechtes Licht rücken. Um dies zu konterkarieren, greife ich auf einen Autor zurück, der nicht nur den höchsten Auflagenerfolg der Weltliteratur vorweisen kann, sondern der ganz am Anfang der Aufklärungsepoche auch bereits ein Selbstverständnis als Journalist entwickelt hat.

Daniel Defoe: ein Pionier journalistischer Mentalität

Seit Kindertagen ist uns Daniel Defoe als Autor des Robinson Crusoe bekannt. Weniger bekannt ist, dass der weltberühmte Schriftsteller, bevor er mit fast 60 Jahren seinen ersten Roman veröffentlichte, der dann in den Kanon des obligatorischen Allgemeinwissens eingehen sollte, lange als politischer Publizist tätig gewesen war.

Bevor Defoe fiktionale Texte zu verfassen begann, hatte er mit streitbar-ironischen Schriften wie The Trueborn Englishman (1701) und The Shortest Way with Dissenters (1702) zu schon damals aktuellen Tagesfragen wie der Fremdenfeindlichkeit (gegenüber dem Oranier-König William III.) oder religiöser Intoleranz (der anglikanischen Staatskirche) kritisch Stellung genommen. Das hatte ihn mehrmals ins Gefängnis oder an den Pranger gebracht. 1704 gründete Defoe vom Gefängnis aus die erste politisch-moralische Wochenschrift in England, die Review, der weitere wie Richard Steels Tatler (1709) und Jonathan Swifts Examiner (1710) folgten. Defoes Review erschien bis 1713, anfangs einmal und dann für die längste Zeit ihres Bestehens dreimal in der Woche im Umfang von vier Seiten. Ursprünglich gedacht, um über den langwierigen spanischen Erbfolgekrieg zu berichten, in dem sich England und Frankreich gegenüberstanden, nahm sich die Zeitschrift im Laufe der Zeit auch zahlreiche andere Gegenstände vor: „In den Beiträgen, die Defoe selbst verfaßte, standen neben (…) politischen Themen Überlegungen zu wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Fragen im Mittelpunkt. Die materiellen Lebensbedingungen einzelner Bevölkerungsgruppen, die berufliche Tätigkeit und daraus erwachsende gesellschaftliche Position, die Wirtschaftsaktivität des ganzen Landes und die Rolle des Handels als Quelle nationalen Wohlstands sind (…) Bereiche, mit denen Defoe sich beschäftigte.“ (Kalb 1985: 22)

In Defoes Welt, dem England um die Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert, liegt der Ursprung all dessen, was auch noch die Gegenwart demokratisch-kapitalistischer Gesellschaften prägt: Deklarierte Menschenrechte, Parlamentarismus, Marktregulierung, freies Unternehmertum und freie Medien, um nur einiges zu nennen. Kein Wunder, dass in diese Epoche auch die Entstehung eines Berufes fällt, der für das Zusammenspiel der Funktionselemente westlicher Gesellschaften unerlässlich ist: des Journalismus.

Wobei unter „Beruf“ nicht nur „jene Spezifizierung, Spezialisierung und Kombination von Leistungen einer Person“ zu verstehen ist, „welche für sie Grundlage einer kontinuierlichen Versorgungs- oder Erwerbschance ist“ (Weber 1972: 80), sondern im Unterschied zu dieser individualistischen und ökonomistischen Definition Max Webers auch ein Bündel besonderer Kompetenzen, das erforderlich ist, damit eine für Individuum und Gesellschaft wichtige Aufgabe optimal erfüllt werden kann. Zu diesen Fähigkeiten gehört nicht zuletzt das Bewusstsein von der beruflichen Aufgabe und von den Voraussetzungen, die für ihre Erfüllung notwendig sind. Defoe ist ein Beispiel dafür, dass sich diese professionelle Mentalität in ihren Grundzügen bereits um 1700 herausgebildet hatte. Als einer der ersten Journalisten dachte er öffentlich über seinen Beruf und dessen Erfordernisse nach.

Defoe über den gesellschaftlichen Nutzen der Pressefreiheit

Neben anderen Texten aus seiner Feder zeigt das ein Artikel, mit dem er am 29. März 1711 in der Review gegen die von der letzten Stuart-Königin Anne und den regierenden Tories geplante Besteuerung der Presse Stellung genommen hat, die nicht lange danach als „Stempelsteuer“ in Kraft trat:

In diesem Artikel hieß es u.a.:

Wer reden will, sollte sich gleich zu Wort melden; und wer wenig Zeit zum Reden hat, sollte schnell zur Sache kommen. Ich warte daher nicht, bis der Erlass gedruckt ist, sondern reagiere schon jetzt auf den ärgerlichen Hinweis im Examiner, dass mit der Erhebung einer Steuer auf Presseprodukte zu rechnen sei. (…)

Diese Steuer wird als klares Eingeständnis aufgefasst werden, dass ihre Befürworter auf Argumente nicht mit Vernunft und in offener Diskussion antworten können. Das wäre eine Demonstration gegen sich selbst, die zeigte, dass eine Verteidigung mit Worten nicht möglich ist, und die die Scheu offenbarte, die eigenen Argumente in der Auseinandersetzung mit Gegnern zu prüfen. (…)

Sie enthält ein klares Eingeständnis, dass weder in der Politik noch in der Moral die üblichen Praktiken das Licht der Öffentlichkeit ertragen würden; dass die hinter ihr stehenden Personen und deren Partei das Interesse haben, ihre Angelegenheiten geheim zu halten. (…)

Ein Anschlag auf die Presse, von welcher Seite er auch komme, ist immer ein Anschlag auf die Wahrheit. Denn wenn Fälschungen oder Verleumdungen veröffentlicht würden, sind die Gesetze ohnehin ein kräftiges Gegenmittel; und wo die Gesetze unzulänglich sein sollten, steht notfalls das Parlament bereit, um neue Rechtsnormen zu ergänzen. Aber eine generelle Last auf alles Veröffentlichte zu legen, oder, deutlicher gesagt, die Menschheit zum Schweigen zu bringen, ist ein Anschlag auf die Wahrheit, eine Maßnahme gegen die Freunde von Tugend, Bildung und Religion, was an vielen Beispielen gezeigt werden könnte.

So eine generelle Steuer ohne Berücksichtigung der Thematik würde auch alle öffentliche Kritik an Laster und Unmoral behindern sowie alle die Hilfen für Unterricht und Religion, alle die nützlichen Anregungen für Lernen und für Reformen im geistigen und materiellen Leben, die als Handreichungen oft gute Wirkungen auf die Gesellschaft gehabt haben und weiter hätten. (…)

Der Angriff auf die Unmoral wird den Generalangriff auf Presse und Wahrheit nicht überstehen. Dieser Generalangriff wird wie gesagt nützliche Veröffentlichungen unterdrücken und der Welt den Fortschritt nehmen, der durch die Werke redlicher Publizisten zustandekommt. (…)

Wenn eine generelle Beschränkung ohne Ausnahme auferlegt wird, sind vermutlich Machenschaften im Gange, die man die Bevölkerung nicht wissen zu lassen wagt. Sie sind darauf gerichtet, die freien Bürger Britanniens mundtot zu machen und ihrer rechtmäßigen und wirksamen Verteidigung zu berauben. Und sie werden, was m. E. besonders überlegt werden muss, zahllosen Familien, die in verschiedene Branchen des Pressegeschäfts investiert haben, das Eigentum, den Lebensunterhalt und die Beschäftigung nehmen. Zumindest jene, deren publizistische Tätigkeit nichts mit dem Staat oder der Regierung zu tun hat, müssten billigerweise von so einer Steuer ausgenommen werden. (…)

Darunter fallen die Urheberrechte an kleinen Büchern, z. B. Almanachen, Katechismen, Psalmen-Sammlungen, religiöse und moralische Broschüren mancherlei Art, die für viele Familien die Grundlage des Lebensunterhalts sind. (…)

Gleichwohl bin ich für gewisse Beschränkungen der Presse: Skandal machen, die Regierung beleidigen, Minister diffamieren, anderen den guten Ruf verderben usw. Solche Missbräuche der Pressefreiheit sollten durch die Verpflichtung jeden Autors unterbunden werden, seinen Namen unter das Geschriebene zu setzen, damit Entgleisungen persönlich zurechenbar werden; (…)

Rechtliche Schritte gegen solche Praxis werden die Zustimmung jedes klugen Mannes finden, je eher, desto besser. Alles andere aber riecht nach Parteiinteresse, Freiheitsberaubung und Willkürmaßnahmen gegen die Bevölkerung (…) (Payne 1951: 77-81; Übers.: H.P.)

Öffentlichkeit als notwendige Bedingung funktionierender Selbstregulierung

Der rote Faden dieses Textes ist die Idee der Öffentlichkeit, die allerdings nur an wenigen Stellen ausdrücklich benannt wird. Warum verzichtet Defoe auf eine explizite Klärung? Schon zu Beginn des bürgerlichen Zeitalters ist Öffentlichkeit offenbar ein zutiefst negativer, nur über die Verneinung seines Gegenteils bestimmbarer Begriff.

Seine konstitutive Komponente ist die Eigenschaft offen. Öffentlichkeit meint die Abwesenheit von Absperrungen, Blockierungen, Barrieren. Was öffentlich ist, ist der Wahrnehmung jedes Menschen zugänglich. Öffentlichkeit ist das von diesem Adjektiv abgeleitete Substantiv, mehr nicht. Jeder Versuch, den Begriff positiv zu füllen, etwa im Sinne einer Gruppe von Subjekten, die tatsächlich an der Kommunikation über bestimmte Themen teilnehmen, oder als eine Art von politischer, für das Funktionieren von Staatsorganen notwendiger Institution, führt nolens volens zum Verlust der Vorstellung von Unbeschränktheit, die für den Begriff Öffentlichkeit entscheidend ist.

Dass Defoe dieser negative Begriff von Öffentlichkeit vorschwebte, zeigt sich u. a. an seiner Bereitschaft, eine Beschränkung der Presse in Bezug auf ihre politischen Inhalte und Intentionen hinzunehmen. Heute erscheint es naheliegend, darin einen Ausdruck des Opportunismus gegenüber den Herrschenden zu sehen, weil wir uns seit den bürgerlich-demokratischen Revolutionen in den Vereinigten Staaten und Frankreich, die zur Beförderung der Öffentlichkeit in den Rang eines Verfassungsprinzips führten, an ihre institutionelle Einengung gewöhnt haben. Man kann darin aber auch einen Ausdruck von Defoes Sinn für die notwendige Offenheit der gesellschaftlichen Kommunikation erkennen. Er konnte noch auf die politische Funktion der Presse verzichten, weil es ihm um die Rettung des Prinzips Öffentlichkeit in einer viel umfassenderen, sozio-kulturellen Bedeutung ging.

Für diese Deutung spricht, dass dem Verzicht auf eine positive Definition bei Defoe eine bemerkenswerte Sensibilität für die Nützlichkeit, ja Notwendigkeit von Öffentlichkeit für die Gesellschaft und jedes ihrer Individuen gegenübersteht. Öffentlichkeit ist erforderlich, damit sich, wie er es ausdrückt, wissenschaftliche, moralische und religiöse Erkenntnisse verbreiten können. Insofern ist sie eine notwendige Voraussetzung dafür, dass das Individuum sein Leben auf der Höhe der Kulturentwicklung gestalten kann. Und Öffentlichkeit ist erforderlich, damit das Individuum sich erfolgreich gegen ungerechtfertigte Beschuldigungen und Angriffe zur Wehr setzen kann. Insofern ist sie ein Menschenrecht, was leicht zu kurz kommt, wenn über zuviel Öffentlichkeit als Bedrohung der Privatsphäre geklagt wird.

Defoes Hinweis, dass durch die Stempelsteuer nicht nur die schädliche, sondern auch die nützliche Presse eingeschränkt würde, nimmt demgegenüber die simple Einsicht vorweg, dass ein Mensch in der modernen, parzellierten Gesellschaft, dem eine Vielzahl von Medien zur Verfügung steht, sich ein zutreffenderes Bild von der Welt machen und deshalb besser mit ihr zurecht kommen kann als ein moderner Mensch, der bei seiner Konstruktion von Realität ganz auf seine Primärerfahrung ohne die Möglichkeit der Mediennutzung angewiesen wäre.

Aus dem Nutzen der Öffentlichkeit für das Individuum ergibt sich ihr Nutzen für die Gesellschaft: Nur wenn deren Mitglieder ihr Recht auf Unverletzlichkeit und Selbstbestimmung verteidigen und an den das gesellschaftliche Ganze betreffenden Entscheidungsprozessen teilnehmen (Partizipation), kann eine moderne Gesellschaft ihre Probleme wahrnehmen und lösen (Selbstregulierungskapazität).

Komplexe Sozialformationen, deren gesellschaftliche Kommunikation zu stark von ideologischen, politischen oder gesetzlichen Schranken eingeengt wird, sind auch drei Jahrhunderte nach Defoes Grundeinsicht in den Nutzen des Prinzips Öffentlichkeit auf die Dauer nicht existenzfähig. Das hat der Zusammenbruch der realsozialistischen Herrschaftssysteme in Osteuropa oder konservativ-autoritärer Regime in Lateinamerika und Südafrika gezeigt.

Am deutlichsten wird Defoes Idee von Öffentlichkeit, wenn er ihren Nutzen an die Abwesenheit von generellen Auflagen der Presse bindet, seien sie nun politisch-ideologischer oder – wie im 1711 von ihm bekämpften Fall – ökonomischer Art. Damit Journalisten ihrer Aufgabe gerecht werden können, Öffentlichkeit im Sinne möglichst unbeschränkter gesellschaftlicher Kommunikation zu stiften, ist eine prinzipielle Freiheit bei Themenfindung, Recherche und Darstellungsweise nötig, die durch eine professionelle Grundpflicht zum Publizieren komplettiert wird. Denn – so können wir nach den erkenntnistheoretischen Debatten seit der Aufklärungsepoche hinzufügen – die Entscheidung darüber, welche Themen öffentlichkeitsbedürftig sind und welche nicht, ist selbst ein öffentlichkeitsbedürftiges Problem. Antworten auf Fragen nach Relevanz können nicht besonderen Institutionen oder Personen (Zensoren, Kontrollgremien etc.) übertragen werden, sondern sind – weil niemand im Voraus wissen kann, was er oder sie noch nicht weiß – dem öffentlichen Diskurs zu überlassen, was die prinzipielle Abwesenheit von Kommunikationsbeschränkungen erfordert.

Bereits Defoe wusste: Pressefreiheit ist weder ein kultureller Luxus, den eine Gesellschaft sich leisten kann oder auch nicht, noch ein professionelles Privileg von Journalisten, sondern ein funktionsnotwendiges Element der modernen Sozialstruktur, von der ihre Problemverarbeitungskapazität und Selbstregulierungsfähigkeit, d. h. ihre Existenz abhängt. Jede Herrschaft, die die grundsätzliche Freiheit der publizistischen Arbeit von oben oder außen einzuschränken versucht, schadet über kurz oder lang der Gesellschaft und damit am Ende auch sich selbst. Generelle Beschränkung der Medienfreiheit bedeutet generelle Beschränkung von Öffentlichkeit; und generelle Beschränkung von Öffentlichkeit bedeutet das Eingeständnis, dass die von ihr ausgeschlossenen Verhältnisse und Praktiken einer offenen Auseinandersetzung, einer intersubjektiven Prüfung durch „Vernunft, Argumente und Tatsachen“ (Payne 1951: 78), wie Defoe es ausdrückt, nicht standhalten würden.

Ein interessanter Nebenaspekt ist Defoes Hinweis, die Stempelsteuer würde im Pressesektor tätige Familien ihrer wirtschaftlichen Existenz berauben. Anders als Karl Marx 130 Jahre später (vgl. Pöttker 2001: 49), als die publizistischen und die ökonomischen Berufsrollen sich im Zuge des beschleunigten Prozesses der funktionalen Differenzierung zu trennen begannen, blickt Defoe, noch Verleger, Redakteur und Autor in einer Person, nicht auf die Widersprüche, sondern auf die Gemeinsamkeiten von Presse- und Gewerbefreiheit. Das erscheint weitsichtig, wenn man bedenkt, dass gesellschaftlich tragfähige Öffentlichkeit sich bisher nur unter den Bedingungen von Kapitalismus und Marktsteuerung entwickeln konnte, nicht in Systemen, die von einem politisch-ökonomischen Machtzentrum aus gesteuert werden. Seriöse Wissenschaft kann zwar nicht mit Sicherheit behaupten, dass dies so bleiben muss. Dennoch spricht die historische Erfahrung bisher eher für Defoe als für Marx, was von der kritischen Kommunikationswissenschaft bisher kaum zur Kenntnis genommen, geschweige denn systematisch erklärt wird.

Im übrigen kann Defoe geradezu als Idealtypus des literarischen Journalismus der Aufklärungsepoche gelten, der die Information weder von der Meinung noch von der Eigenwerbung noch gar von der Fiktion getrennt, sondern sich diese subjektiven Beimengungen zunutze gemacht hat, damit aus Medieninhalten beim Publikum ankommende Informationen werden.

Defoes Kampf gegen gegen Lügen und Fälschungen der Presse

Ein Jahr später, die Stempelsteuer war mittlerweile in Kraft, schrieb Defoe einen weiteren Artikel über Probleme der Presse, den er am 19. Juli 1712 in der Review veröffentlicht hat. Darin finden sich folgende Absätze:

Ich habe immer gedacht, ein Recht der Engländer sei die Freiheit, offen über Angelegenheiten von allgemeinem Interesse zu sprechen, mit der einzigen Einschränkung, dass diese Rede wahr ist. Aber ich habe niemals daran gedacht, aus der Redefreiheit eine generelle Erlaubnis zum Fälschen werden zu lassen, zu einem Spielraum, um aus eigener Machtvollkommenheit ohne Respekt vor den Tatsachen sagen zu können, was einem gerade gefällt. (…)

Ich sage das mit einem traurigen Blick auf die Gegenwart, in der das Veröffentlichen eigener Erfindungen und deren Verbreitung als Nachrichten, um den Interessen der Partei zu dienen, mit der man sympathisiert, derart zur Praxis geworden ist, dass man es als Volkssport bezeichnen kann. Die Leute begrüßen sich am Morgen jetzt so: Hallo, Nachbar, was gibt’s Neues?

Keine Ahnung, sagt der andere, frag’ lieber: Was ist die Lüge der Woche? Oder: Welche Lüge läuft heute gerade um?[3]

In welches Elend sind wir geraten, daß wir Lügen als wahr akzeptieren, um uns voller Vergnügen zu streiten und um die Skandale zu verdecken, in die wir verwickelt sind.

Es wäre eine zu schmutzige Arbeit, im üblichen Parteiendickicht zu harken und besondere Erbärmlichkeiten hervorzukehren: Wie unsere Nachrichtenschreiber den Krieg anheizen, indem sie sich in jeder Ausgabe mit Lügen bewerfen, so wie unsere Buben sich auf der Straße mit Schmutz bewerfen.

Warum, zur Hölle, läßt sich dagegen kaum etwas unternehmen? Z.B., weil eine erfundene Geschichte als “eine Korrespondenz aus Holland” aufgemotzt wird. Die Verantwortung für die Richtigkeit ist dann abgeschoben auf irgend jemand Unbekannten in Übersee. Jeden Tag haben wir auf beiden Seiten ganze Pakete von gefälschtem Stoff dieser Art, was nicht mehr erträglich ist. Ich werfe das keiner Partei besonders vor, dieses Vergehen findet sich überall.

Und was ist jetzt die Lüge der Woche? Sie ist schwer zu bestimmen, weil gerade diese Woche besonders reich an Lügen war. Ich glaube aber, die Meisterlüge, die Vorbildfälschung am Kopf des Schwarms ist die über die Truppen des Herzogs von Ormond, von denen behauptet wird, sie hätten eine Kirche niedergebrannt und darin, indem man sie in dem angezündeten Gebäude einsperrte, 270 arme Einwohner des Orts bei lebendigem Leib verbrennen lassen. Ist diese Geschichte glaubhaft? Handeln Engländer so? Ist der Herzog von Ormond ein derart blutrünstiger und barbarischer Mann? Ich kann nicht umhin, mich dies zu fragen. In welcher Zeit leben wir, daß wir so eine Nachricht durchgehen lassen? (…)

Ich habe mich manchmal über die Torheit von Leuten gewundert, die mit Fälschungen zufrieden sind, selbst wenn eine gedruckte Lüge nur einen Tag standhält, und die selbst dann dabei bleiben, wenn sie schon am nächsten Tag entlarvt wird. Aber neuerdings bin ich überzeugt, daß diese Art Fälschungen den Lügnern selbst dann Nutzen bringen, wenn sie sich nur ein paar Stunden aufrecht erhalten lassen. Wie oft sind Falschmeldungen noch heiß aus dem Ofen an die Börse gekommen, wo sie ihren Erfindern zwischen 9.00 Uhr und 2.00 Uhr zwei oder drei Prozent Zinsen auf ihre Aktien gebracht haben. Obwohl sie wieder kalt wurden, bevor der Abend da war, obwohl sie sogar innerhalb weniger Stunden ausdrücklich richtig gestellt werden mussten, hat ihren Erfindern die Wahrheit am Ende nicht geschadet. Sie verkauften ihre Aktien zu einem guten Preis und lachten sich am Ende noch schadenfroh ins Fäustchen. Sie schlugen nämlich sogar noch Vorteil aus dem Aufdecken ihrer eigenen Fälschungen, machten einen zweiten Gewinn, indem sie billig zurückkauften, was sie vorher für zwei oder drei Prozent teurer verkauft hatten.

In der Politik ist es das Gleiche. (…) (Payne 1951: 73-75; Übers.: H.P.)

Defoes Bewusstsein von inneren Grenzen der Pressefreiheit

Trotz seines Plädoyers für ein öffentlichkeitsorientiertes Verständnis von Medienfreiheit als Freiheit von Beschränkungen und nicht als Freiheit zur Publikation bestimmter Botschaften lässt Defoe keinen Zweifel, dass damit kein Freibrief für die Publikation beliebiger Aussagen gemeint ist. Wessen (berufliche) Aufgabe darin besteht, Öffentlichkeit herzustellen, braucht wegen seiner Grundpflicht zum Publizieren, zur umfassenden Berichterstattung keinen anderen zureichenden Grund, um einen Sachverhalt zu recherchieren und die Ergebnisse der Recherche in publikumswirksamer Form zu veröffentlichen. Es kann aber durchaus geschehen, dass es für ihn zureichende, ja zwingende Gründe gibt, um auf die Publikation eines bestimmten Inhalts in einer bestimmten Darstellungsform zu verzichten: Nicht auf die Frage, warum er etwas veröffentlicht, aber auf die Frage warum er etwas zu veröffentlichen unterlässt, muss ein professioneller Journalist befriedigend antworten können. Zureichende Gründe für das Nicht-Veröffentlichen können sowohl ein Mangel an publizistischen Qualitäten sein, als auch eine Verletzung der universellen Moral, die nach Abwägung mit konkurrierenden professionellen Geboten als nicht hinnehmbar erscheint.

Defoe befasst sich weniger mit der Konkurrenz zwischen professionellen Geboten und universellen Verboten, worauf sich die medienethischen Debatten der Gegenwart konzentrieren, sondern er diskutiert die zentrale publizistische Qualität der Wahrheit, aus deren Anforderungen sich im konkreten Fall ein Verzicht darauf ergeben kann, die für die Herstellung von Öffentlichkeit notwendige generelle Pressefreiheit für die Publikation eines bestimmten Inhalts zu nutzen, der diesen Anforderungen nicht entspricht. Ist die Qualität der Wahrheit nicht gegeben, liegt für den professionellen Journalisten ein zureichender Grund vor, die Publikation zu unterlassen.

Drei konstitutive Elemente von Wahrheit

Drei Komponenten von Wahrheit als publizistischer Qualität kommen in Defoes Texten von 1711 und 1712 ausdrücklich vor: Richtigkeit, Wahrhaftigkeit und Unabhängigkeit.

Die Wahrheitskomponente Richtigkeit betrifft die zentrale Frage, ob dem Grundgebot zum Publizieren gefolgt werden kann oder nicht. Sie schimmert in der Streitschrift gegen die Stempelsteuer nur auf, wird dafür aber in der Polemik gegen die Kriegshetze der Parteipresse um so stärker betont. Bereits im ersten Absatz ist vom notwendigen “Respekt vor den Tatsachen” (“respect to matters of fact”) die Rede. Viel weiter hat uns der Fortschritt der Erkenntnistheorie in drei Jahrhunderten nicht gebracht: Richtigkeit bedeutet, dass eine Aussage mit dem übereinstimmt, was nach intersubjektiv überprüfbarer Sinneswahrnehmung (Erfahrung, Empirie) als “Tatsache” gelten kann. Das ist trotz aller konstruktivistischen Einsichten, wie sie z. B. schon der bald nach Defoe formulierten Erkenntnisphilosophie Immanuel Kants zugrunde lagen (vgl. Kant 1956), eine unverzichtbare Forderung an journalistische Informationen: Sie müssen zutreffen, stimmen, intersubjektiver Überprüfung standhalten – und nicht nur, wie wissenschaftliche Hypothesen, im Prinzip intersubjektiv empririsch überprüfbar sein. Ist das nicht der Fall oder in einem nicht tolerierbaren Maße unsicher (völlige Sicherheit kann es aus hier nicht zu erörternden Gründen nicht geben), dann ist eine Publikation nicht oder nur unter Angabe der bestehenden Zweifel zulässig.

Letzteres bringt uns auf die zweite bereits von Defoe benannte Wahrheitskomponente, die die Frage betrifft, wie publiziert werden sollte. Wegen der grundsätzlichen subjektiven Selektivität und darauf beruhenden Konstruiertheit aller Erkenntnis und wegen der nie völlig ausräumbaren Zweifel an der Richtigkeit aller Information lässt sich Wahrheit gerade in der auch von Aktualitätsanforderungen bestimmten Praxis des Journalismus nicht als substanzielle Beschaffenheit einer einzelnen Aussage realisieren, sondern nur als im Prinzip unvollendbarer Prozess der Korrektur und Vervollständigung, der intersubjektiv durch Kommunikation zustande kommt. In dieser für den Journalismus allein in Frage kommenden Konzeption ist Öffentlichkeit vor allem eine Voraussetzung von Wahrheit, während umgekehrt Wahrheitsprüfung als Voraussetzung von Öffentlichkeit von sekundärer Wichtigkeit ist. In Gang gehalten wird der Prozess der Wahrheitsfindung dadurch, dass das Subjekt einer Aussage, dessen durch Borniertheiten und Interessen gelenkte Selektion Zweifel an der Objektivität der Aussage begründet, sich als solches zu erkennen gibt. Dieses Deklarieren von unvermeidlichen möglichen Wahrheitsbeeinträchtigungen, das sich in der Nachrichtenroutine z.B. im Standard der Quellenangabe an der Spitze einer Meldung niederschlägt, kann als Wahrhaftigkeit bezeichnet werden. Defoe fordert diese Wahrheitsqualität besonders engagiert, wenn er das Verbreiten anonymer Meldungen als einen der schlimmsten Missstände im Nachrichtenwesen bezeichnet. Dass die Verpflichtung zur Deklaration des hinter einer Veröffentlichung stehenden Subjekts der beste Schutz gegen Missbrauch der Pressefreiheit ist, weil dieses Subjekt öffentlich zur Verantwortung gezogen werden kann und so Selbstregulierung stimuliert wird, hält Defoe für ein derart durchschlagendes Argument gegen allgemeine Beschränkungen der Presse, dass er sogar gesetzliche Schritte für gerechtfertigt hält gegen den Usus, nur die Initialen von Autoren anzugeben.

Die dritte Wahrheitsqualität, von der Defoe spricht, betrifft die Verhältnisse und das Handeln des Subjekts der journalistischen Aussage. Um wahr berichten oder kommentieren zu können, muss der Journalist unabhängig sein von politischen Parteien und anderen Institutionen mit ihren Sonderinteressen. Er soll allein seiner beruflichen Aufgabe verpflichtet sein, Öffentlichkeit herzustellen, was freilich auch ein Partikularinteresse besonderer Art ist. Defoes unermüdlicher Kampf gegen die von den Whigs oder Tories, den großen Parteien seiner Zeit beeinflusste Presse verweist darauf, dass das Herstellen von Öffentlichkeit und die Teilnahme am Kampf um Herrschaft auf unvereinbare Weise unterschiedliche Anforderungen an das Handeln und Sich-äußern stellen. Dass Organisationen wie Parteien, Gewerkschaften oder Kirchen, die maßgeblich am Vollzug von Herrschaft teilhaben und dabei auf Prinzipien wie Hierarchie und Vertraulichkeit angewiesen sind, im Gegensatz zu kommerziellen, in erster Linie am Zuspruch des Publikums interessierten Unternehmen auf die Dauer zu publizistischen Misserfolgen verurteilt sind, könnte sich kaum deutlicher zeigen als an der Medienentwicklung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

Nicht schreiben zu müssen, was eine Partei, ein Verband, eine Kirche oder eine Regierung verlangen, ist sowohl ein wesentliches Stück der publizistischen Freiheit als auch eine Bedingung für die Orientierung am Ziel der Wahrheitsfindung, was beides für das professionelle Herstellen von Öffentlichkeit erforderlich ist. Das wussten im 19. Jahrhundert sogar Karl Marx und Friedrich Engels, die sich entgegen einem verbreiteten Vorurteil darin einig waren, “nur ein auch von der Partei selbst pekuniär unabhängiges Blatt haben” zu wollen. Denn “Abhängig zu sein, selbst von einer Arbeiterpartei, ist ein hartes Los”, wie Engels an August Bebel geschrieben hat (Fetscher 1969: 234).

Trennung von Fakt und Meinung, Nachricht und Kommentar?

Aufschlussreich ist, dass Defoe nicht von einem Qualitätsstandard spricht, der sich tatsächlich auch erst im 19. Jahrhundert, im Zuge der sozialen Ausdifferenzierung von Lohnarbeit und Familie, Männlichkeit und Weiblichkeit, E- und U-Kultur, Information und Unterhaltung usw. entwickelt und durchgesetzt hat: der Trennung von Fakt und Meinung, Nachricht und Kommentar. Unter dem Aspekt der Wahrhaftigkeit ist dieser Standard außerordentlich problematisch, weil er die Illusion nährt, Wahrheit als Substanz einer einzelnen Nachricht, als völlige Abwesenheit von subjektiven Beimengungen und Selektionen sei möglich. Nach ideologiekritischer Grundeinsicht wird dieser Objektivitätsanspruch gebraucht, um den Einfluss von Partikularinteressen auf die Informationsgebung zu verbrämen und damit besonders wirksam zu machen.

Im Gegensatz zu Blättern wie der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, die mit dem keineswegs selbstverständlichen Trennungsgrundsatz sogar Werbung für sich treiben, hat ein seriöses Weltblatt wie die Neue Zürcher Zeitung, deren Tradition hinter das 19. Jahrhundert in die Aufklärungsepoche zurückreicht, bis heute nie emphatisch eine strikte Trennung von Nachrichtengebung und Kommentierung beansprucht. Das vorherrschende journalistische Genre ist hier der Korrespondentenbericht, in dem sich Informationsreichtum und -präzision mit ungeschützter, als solcher deutlich erkennbarer Meinung der Korrespondenten mischt. Auch das ist Wahrhaftigkeit, bei der sich das Subjekt hinter einem Text im Dienst einer als offener, unabschließbarer Kommunikationsprozess verstandenen Wahrheit zu erkennen gibt.

Die Dialektik von Freiheit und Wahrheit

Bei der Komponente Unabhängigkeit wird deutlich, dass die Wahrheitsbindung des Journalismus und seine grundsätzliche Freiheit keineswegs Gegensätze sind, wie oft unterstellt wird. Beides sind notwendige Voraussetzungen für das Gelingen publizistischer Arbeit, die sich nicht ausschließen, sondern ergänzen und – etwa beim Kriterium der Unabhängigkeit von Machtinteressen – teilweise sogar überschneiden.

Gleichwohl gibt es eine Dialektik der Pressefreiheit: Wird sie von Journalisten genutzt, ohne dass die Wahrheitsbindung mit ihren verschiedenen Anforderungen beachtet wird, führen die daraus erwachsenden Fehlleistungen der Medien zur Legitimität äußerer Maßnahmen, die eine ungebührliche Einschränkung der grundsätzlichen Kommunikationsfreiheit bedeuten können. Vom professionellen publizistischen Standpunkt aus ist dies besonders bedauerlich, weil es eine Einschränkung der Möglichkeit bedeutet, Öffentlichkeit herzustellen. Journalisten müssen also nicht zuletzt deshalb richtig, wahrhaftig und unabhängig berichten, um die Medienfreiheit als notwendige Voraussetzung für die Erfüllung ihrer beruflichen Aufgabe zu verteidigen. Es kann zwar geschehen, dass die konkreten Bedingungen der journalistischen Praxis oder sogar andere journalistische Qualitätsanforderungen wie Aktualität, Verständlichkeit und Unterhaltsamkeit in Einzelfällen zu unbeabsichtigten Verletzungen der Wahrheitspflicht führen. Aber Journalisten können es sich im Interesse ihrer beruflichen Aufgabe nicht leisten, Richtigkeit, Wahrhaftigkeit und Unabhängigkeit regelmäßig außer acht zu lassen.

Defoes Irrtum

In einem Punkt allerdings hat sich Defoe geirrt: Was wir Deutsche in unserer Neigung zum Biologischen den „gesunden Menschenverstand“ nennen, reicht nicht aus, um die Behauptung als unwahr zu erweisen, dass Hunderte von Menschen von anderen Menschen in eine Kirche getrieben und dort bei lebendigem Leibe verbrannt worden sind. Spätestens seit Daniel Jonah Goldhagens Buch Hitler’s Willing Executioners (Goldhagen 1996) wissen wir, dass genau dieses Unvorstellbare bei den Todesmärschen mit KZ-Häftlingen am Ende des Zweiten Weltkriegs geschehen ist. Im Angesicht der militärischen Niederlage haben Deutsche Hunderte von Juden in Scheunen getrieben und dort bei lebendigem Leibe verbrannt (vgl. Goldhagen 1996: 433). Als das US-Magazin Live im Mai 1945 Fotos von diesen unvorstellbaren Verbrechen veröffentlichte, konnten viele amerikanische Bürger das nicht glauben und hielten es für Kriegspropaganda ihrer Regierung, ähnlich wie Defoe über zwei Jahrhunderte zuvor.

Die Lehre daraus: Ob etwas richtig ist oder nicht, bemisst sich nicht daran, ob wir es uns vorstellen können. Sondern es bemisst sich allein daran, was unsere Augen sehen, unsere Ohren hören und unsere Hände fühlen. Und die Sinneswahrnehmung sollte frei sein von dem, was Logik oder Humanität uns vorstellbar erscheinen lassen, besonders, wenn es die professionell trainierte Wahrnehmung von Journalistinnen und Journalisten ist.

Über den Autor

Horst Pöttker, Univ.-Prof. Dr. phil.-hist., Jg. 1944, Technische Universität Dortmund (i.R.)/Universität Hamburg (Seniorprofessur); hat im Rahmen eines DFG-Projekts zur medialen Integration ethnischer Minderheiten in Deutschland und Nordamerika die Wirksamkeit von journalistischen Antidiskriminierungsregeln untersucht. E-Mail: horst.poettker@tu-dortmund.de

Literatur

Iring Fetscher (Hrsg.) (1969): Karl Marx; Friedrich Engels: Pressefreiheit und Zensur. Frankfurt a.M.; Wien, Europäische Verlagsanstalt.Goldhagen, Daniel Jonah (1996): Hitler’s Willing Executioners: Ordinary Germans and the Holocaust. New York, Random House.

Goldhagen, Daniel Jonah (1996): Hitlers willige Vollstrecker: Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust. Berlin, Wolf Jobst Siedler.

Habermas, Jürgen (19715): Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft. Neuwied; Berlin, Luchterhand.

Habermas, Jürgen (1989): The Structural Transformation of the Public Sphere: An Inquiry into a Category of Bourgeois Society. Übers. v. Thomas Burger. Cambridge, MIT Press.

Kalb, Gertrud (1985): Daniel Defoe. Heidelberg, Winter.

Kant, Immanuel (1956): Kritik der reinen Vernunft. Hamburg, Felix Meiner.

Noelle-Neumann, Elisabeth (19792): Öffentlichkeit als Bedrohung. Beiträge zur empirischen Kommunikationsforschung. Hrsg. v. Jürgen Wilke. Freiburg i. Br.; München, Karl Alber.

Payne, William L. (Hrsg.) (1951): The Best of Defoe’s Review. New York, Columbia University Press..

Pöttker, Horst (1999): Berufsethik für Journalisten? Professionelle Trennungsgrundsätze auf dem Prüfstand: In: Holderegger, Adrian (Hrsg.): Kommunikations- und Medienethik. Interdisziplinäre Perspektiven. Freiburg i. Ue.; Freiburg i. Br.; Wien, Universitätsverlag Freiburg Schweiz; Herder, S. 299-327.

Pöttker, Horst (Hrsg.) (2001): Öffentlichkeit als gesellschaftlicher Auftrag. Klassiker der Sozialwissenschaft über Journalismus und Medien. Konstanz, UVK.

Secord, Arthur Wellesley (Hrsg.) (1938): Defoe’s Review. Faksimiliert von der Originalausgabe, mit einer Einführung und bibliographischen Anmerkungen. 22 Bde. mit einem Index von William L. Payne. New York, Columbia University Press.

Weber, Max (19725): Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie. Hrsg. v. Johannes Winckelmann. Studienausgabe. Tübingen, J. C. B. Mohr (Paul Siebeck).

Fußnoten

[1] Der Aufsatz beruht auf einem Vortrag, der beim Euricom Colloquium Foundations of Communication Studies in pre-20th Century European Thought, 3. – 5. 4. 2003, in Piran (Slowenien) gehalten wurde.

[2] Der Begriff publicness meint die Qualität oder den Zustand des Öffentlich-Seins. Auch wenn er nicht mehr gebräuchlich ist – publicness taucht in englischen Texten aus der Zeit von Defoes publzistischer Tätigkeit auf.

[3] Hier spielt Defoe im englischen Orginal auf den Daily Courant an, die erste, 1702 gegründete Tagungszeitung Großbritanniens, die Defoe wegen ihrer Fehlerhaftigkeit oft kritisiert hat.