Anna Jehle: Welle der Konsumgesellschaft rezensiert von Konrad Dussel

Rundfunkgeschichtsschreibung beschränkt sich in der Regel auf die Kultivierung einer Nische, die jenseits ihrer engen Grenzen zu Recht kaum wahrgenommen wird. Anna Jehle hat nun mit ihrer von Frank Bösch betreuten preisgekrönten Dissertation ein Buch vorgelegt, das breitere Aufmerksamkeit verdient. Ihre Geschichte der CLR/CLT – der Compagnie Luxembourgeoise de Radiodiffusion bzw. Télédiffusion – und ihres französischsprachigen Radioprogramms nach dem Zweiten Weltkrieg ist nicht nur eine akademische Abhandlung über einen x-beliebigen Privatsender und sein Angebot, sondern der Versuch, ein ganz spezielles Medienangebot nicht nur im Kontext seiner wichtigsten direkten Konkurrenten zu verorten, sondern auch die Interdependenzen zwischen allgemeiner ökonomischer, kultureller und medialer Entwicklung zu analysieren – genauso klar konzipiert wie überlegt ausgearbeitet und flüssig geschrieben.

Zu den Stärken von Jehles Buch gehört, dass es sich nicht auf die Schilderung der Geschichte der letztlich französisch dominierten Luxemburger Gesellschaft und ihres damals primär auf Langwelle gesendeten Radioprogramms beschränkt. Stets werden auch die wichtigsten Konkurrenten in den Blick genommen – der Rundfunk des französischen Staates einerseits und die anderen Sender jenseits seiner Grenzen andererseits, worunter der im Saarland beheimateten privaten Alternative “Europe No. 1“ seit 1958 die größte Bedeutung zukam. Da Jehle nicht nur alle französischsprachigen Zitate übersetzt, sondern auch von Fall zu Fall sprachliche Eigenheiten ausdrücklich kommentiert, brauchen auch des Französischen weniger Kundige die Lektüre nicht zu scheuen.

In früheren Zeiten wurde heftig darüber diskutiert, in welcher Form die bis dahin gängige Rundfunkgeschichte als Institutionengeschichte am besten durch Programmgeschichte zu ergänzen sei, ohne dass die Theoretiker praktische Beispiele beigesteuert hätten. Anna Jehle verzichtet auf die Theorie und liefert einen konkreten Beitrag, der auch gleich zwei Kapitel und damit ungefähr ein Drittel ihres Textes umfasst. Im einen widmet sie sich den Programmen und ihren Gestaltungsprinzipien im Allgemeinen, im anderen den Nachrichten insbesondere, da sie diese als “entscheidenden Faktor in der Programmkonkurrenz“ betrachtet, wie sie schon in der Kapitelüberschrift mitteilt. Geschickt verbindet sie in beiden Kapiteln den Blick auf die spezifischen Konkurrenzsituationen mit dem auf die die Entwicklungen ebenfalls vorantreibenden technischen Neuerungen, einzelne Kreative und konkrete Programmangebote.

Neben der Darstellung von Institution und Programm darf auch die des Publikums nicht fehlen. Weil es dazu an Daten und Quellen fehlt, die eine ähnlich umfassende Analyse wie bei den beiden anderen Bereichen ermöglichen könnten, widmet sich Anna Jehle zumindest einem interessanten Ersatz. In einem Kapitel untersucht sie die “Zielgruppenansprache“ des Luxemburger Senders und akzentuiert dabei zum einen die Rolle der Frauen und zum anderen – in sich wandelnden Zeiten – die der neuen Zielgruppe “Jugendliche“; und in einem zweiten Kapitel geht sie ausführlich auf die diversen Marketingaktionen des Senders ein, also seiner Angebote jenseits der eigentlichen Rundfunktätigkeit.

Dramaturgisch geschickt kommt Anna Jehle erst ganz zum Schluss zum “Dreh- und Angelpunkt des privatkommerziellen Rundfunks“, dem “Geschäft mit der Werbung“, so die Überschrift des sechsten und letzten Kapitels. Auch hier holt sie weit aus und thematisiert als erstes die damalige Markt- und Hörerforschung als flankierendes Moment der Preiskalkulation für die diversen Werbeofferten, ehe sie die wichtigsten Werbeformen und Werbekunden behandelt. Es wird nicht überraschen, dass hier dem Forscherdrang die engsten Grenzen gesetzt worden sein dürften. Ausgiebig darf zwar thematisiert werden, dass L’Oréal zu den wichtigsten Nutzern der Luxemburger Werbezeiten zählte, welche Beträge aber da flossen und wie sich am Ende die Bilanzen der Gesellschaft im Einzelnen gestalteten, dazu sucht man vergebens aussagekräftige Zahlen.

Zeigt bereits dieser Überblick, dass Jehles Buch für vielfältige Interessen Anknüpfungspunkte liefert, so muss am Ende noch ihr zentraler Roter Faden als viel weitergehende Lektüremotivation eigene Erwähnung finden. Die zeitliche Begrenzung ihrer Untersuchung ist nicht zuletzt auch in der ökonomischen Phase der “trente glorieuses“, der „glorreichen Dreißig“, begründet, jener dem deutschen “Wirtschaftswunder“ vergleichbaren Zeit, in denen sich die sozioökonomischen Gegebenheiten Frankreichs von Grund auf wandelten. Zu ihren zentralen Charakteristika zählte der neue Massenkonsum. Der erforderte aber nicht nur materielle Veränderungen, sondern auch solche des Bewusstseins breiter Bevölkerungsschichten. Und gerade hier lokalisiert Anna Jehle ihren Untersuchungsgegenstand: “Unter diesen Bedingungen konnte ‘Radio Luxembourg‘ als Bestandteil, als Katalysator sowie als Agent des Massenkonsums fungieren“ (20). Wie dies im Einzelnen geschah, wird immer wieder überzeugend Thema.

Anna Jehle hat ein durchaus Maßstab setzendes Stück westeuropäische Rundfunkgeschichte geschrieben. Bleibt zu hoffen, dass auch die nahe liegenden Ergänzungen in Angriff genommen werden: Radio Luxemburg war nicht nur mit seinem französischen Programm zwischen 1945 und 1975 Richtung Frankreich von großer Bedeutung, schon zuvor bildete sein englisches Programm für die BBC eine große Herausforderung. In den 1960er Jahren galt dasselbe für sein neues deutschsprachiges Angebot und die selbstgenügsam gewordenen deutschen öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten in seiner Nachbarschaft. Vor diesem Hintergrund relativiert sich dann auch der Neuigkeitswert des Dualen Rundfunksystems der 1980er Jahre. Die Auseinandersetzung zwischen privatkommerziellen und öffentlich-rechtlichen oder staatlichen Rundfunkorganisationen ist auch in Europa weitaus älter. Und seit 1933 beherbergt Luxemburg den wichtigsten Akteur der einen Seite.

 

Diese Rezension ist zuerst in rezensionen:kommunikation:medien (r:k:m) erschienen.

Über den Rezensenten

Dr. Konrad Dussel ist apl. Professor für Neuere Geschichte an der Universität Mannheim. Seine Forschungsschwerpunkte sind Mediengeschichte und südwestdeutsche Lokal- und Regionalgeschichte.

Über das Buch

Anna Jehle: Welle der Konsumgesellschaft. Radio Luxemburg in Frankreich 1945-1975. Reihe: Medien und Gesellschaftswandel im 20. Jahrhundert, Bd. 9. Göttingen [Wallstein] 2018.