Frank J. Robertz, Robert Kahr (Hrsg.): Die mediale Inszenierung von Amok und Terrorismus rezensiert von Guido Keel

Amokläufe an Schulen, Terrorismus, Selbstmorde – diesen Phänomenen ist nicht nur gemeinsam, dass bei allen tödliche Gewalt im Zentrum steht, sondern auch, dass Medien eine Schlüsselrolle spielen. Aus gesellschaftlicher, insbesondere aber aus journalistischer Sicht interessiert deshalb die Frage, wie ein verantwortungsvoller Umgang der Massenmedien mit diesen Ereignissen aussieht.

Die beiden Herausgeber dieses interdisziplinären Sammelbandes (2016) warten mit einem jeweils punktgenauen Berufshintergrund auf: Frank J. Robertz leitet das Institut für Gewaltprävention und angewandte Kriminologie in Berlin, während Robert Kahr als Kommunikationswissenschaftler an der Deutschen Hochschule der Polizei Einsatzmanagement bei Schwerkriminalität lehrt. Sie haben Aufsätze internationaler Autoren zusammengetragen, um Erkenntnisse für eine mediale Berichterstattung über solche Gewaltakte zu finden, die das Leiden besonders bei den direkt Betroffenen minimieren kann.

In ihrem Grundlagenkapitel Am Anfang war das Wort beschreiben die Herausgeber zunächst, weshalb Gewalt aufgrund professioneller Routinen unausweichlich Thema journalistischer Berichterstattung ist (S. 13-28). Weiter werden psychologische Erkenntnisse zu den Themen Imitation und Selbstinszenierung dargelegt (S. 29-57) – Aspekte, die in allen drei Formen der Gewalt eine Relevanz besitzen.

Drei weitere Beiträge, aus Deutschland, Finnland und den USA (S. 61-108), schildern den journalistischen Umgang mit Amokläufen an Schulen in verschiedenen Fallbeispielen. Der internationale Vergleich zeigt Parallelen bzw. Grundmuster, die in ihrer Beschreibung allerdings redundant wirken.

Gleiches gilt für die separaten Betrachtungen von Jens Hoffmann (S. 109-118), Alice Ruddigkeit (S. 137-150) und Michael Kunczik (S. 151-172). In ihren Ausführungen über verantwortungsvollen Journalismus gelangen sie letztlich zu ähnlichen Erkenntnissen: Es gilt, durch eine angemessene Berichterstattung den Nachahmungseffekt zu verhindern – indem darauf verzichtet wird, den Täter, seine Motive, sein Vorgehen und seine Phantasien im Detail zu beschreiben, Namen und Bilder des Täters zu veröffentlichen und ihm dadurch posthum Ruhm zu verleihen. Jens Hoffmann schafft bezüglich dieser „Unsterblichkeit durch das Label des Terrors“ (S. 109) eine Verbindung zwischen Amokläufen, terroristischen Anschlägen (z. B. auf die Redaktion des französischen Satiremagazins Charlie Hebdo oder die Londoner Subway) und Suiziden. Er weist darauf hin, dass auch eine mediale Dämonisierung der Täter zu vermeiden sei, da dies deren Bedeutsamkeit ebenfalls weiter steigert. Alice Ruddigkeits Erläuterungen knüpfen daran an, indem sie hervorhebt, dass sich ein verantwortungsvoller Journalismus vielmehr auf die Opfer der Tat konzentriere – und das sind in manchen Fällen auch die Angehörigen (vgl. S. 148).

Michael Kunczik befasst sich in diesem Zusammenhang ganz gezielt mit der ,sekundären Viktimisierung’ (S. 151-172). Damit wird beschrieben, dass dem Opfer einer Gewalttat – oder, im Fall von Suiziden, den Angehörigen des Opfers – durch eine unsachgemäße Berichterstattung ein zweites Mal Leid zugefügt werden kann. Indem sich die Medien verstärkt den Opfern annehmen, würde deren Sichtweise präsenter, wobei dies eine große Sensibilität der Journalisten erfordere, wie Kunczik betont (S. 166). Auch wenn die Parallelen zwischen den Phänomenen Amok, Terror und Selbstmord interessant sind: Spätestens hier weist die Textsammlung Redundanzen auf, welche die Lektüre schwerfällig werden lassen. Wie häufig bei Werken, die sich aus Beiträgen verschiedener Fachautoren zu einem Thema zusammensetzen, wünscht man sich als Leser, dass die thematische Abgrenzung der einzelnen Aufsätze klarer wäre und gleichzeitig Gemeinsamkeiten ausdrücklicher herausgestrichen würden.

Der Abschluss der Textsammlung widmet sich der Frage, welche Schlüsse aus den Erkenntnissen für die professionelle Ethik gezogen werden sollen, konkret: Welche Rolle haben die Medien bei der Berichterstattung über Gewaltverbrechen einzunehmen? Zunächst beschreibt Hans Mathias Kepplinger (S. 173-184), wie Journalisten zwischen der professionellen Norm, Öffentlichkeit zu schaffen, und der gesellschaftlichen Norm, negative Folgen einer Berichterstattung zu vermeiden, abwägen müssen – und sich dabei viel häufiger zugunsten der professionellen Norm entscheiden. Kepplinger spricht von der „dominanten Orientierung am Prinzip der Publikation“ (S. 176). Dies führt er darauf zurück, dass Journalisten gemäß einer von ihm durchgeführten Befragung (Kepplinger 2011: 164) oft der Überzeugung sind, dass ihre negativen Berichte keine unbeabsichtigten negativen Nebenfolgen hätten (S. 182). Verstärkt wird diese Bevorzugung der professionellen Norm durch eine zunehmende Ko-Orientierung von Journalisten. Der darauffolgende Beitrag stammt von Frank Nipkau, Redaktionsleiter des Zeitungsverlags Waiblingen, der auch die Winnender Zeitung herausgibt. Er hinterfragt das Prinzip der Publikation aufgrund seiner Erfahrung des medialen Umgangs mit dem Amoklauf in Winnenden 2009. Hierzu formuliert Nipkau Regeln für die Berichterstattung in solchen Katastrophenfällen (S. 185-192).

In einem zusammenfassenden Kapitel (S. 193-203) tragen die Herausgeber die Empfehlungen nochmals in einer Liste von zwölf Punkten zusammen. Einige davon können als allgemeine journalistische Richtlinien betrachtet werden („Auf die Wortwahl achten“, „Quellen sorgsam prüfen“, „Sich nicht instrumentalisieren lassen“), sie erhalten aber im Kontext von Gewaltverbrechen besondere Bedeutung. Und sie ergänzen die weiteren, im Buch sorgfältig erarbeiteten Richtlinien so, dass sie für Praktiker einen sinnvollen Leitfaden für den Umgang mit Gewaltverbrechen darstellen.

Journalisten müssen immer zwischen den Interessen verschiedener Einflussgrößen abwägen: Objekte der Berichterstattung (in diesem Fall Täter und Opfer), dem Publikum und seinen berechtigten Interessen, den Quellen, der Gesellschaft. Daraus leiten sich berufsethische Standards ab, die im Widerspruch zu wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Absichten stehen können. Das Buch hilft –  mit theoretischem Wissen und praktischen Erfahrungen – Argumente zur Navigation zwischen diesen Intentionen zu finden.

Diese Rezension ist zuerst in rezensionen:kommunikation:medien (r:k:m) erschienen

Bibliography

Kepplinger, Hans Mathias: Journalismus als Beruf. Wiesbaden [VS Verlag für Sozialwissenschaften] 2011

Über den Rezensenten

Dr. Guido Keel ist Dozent am Institut für Angewandte Medienwissenschaft der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften. Zu seinen Schwerpunkten in der Forschung gehören Qualität im Journalismus, Wandel im Journalismus und Journalismus in nicht-europäischen Kontexten.

Über das Buch

Frank J. Robertz, Robert Kahr (Hrsg.) (2016): Die mediale Inszenierung von Amok und Terrorismus. Zur medienpsychologischen Wirkung des Journalismus bei exzessiver Gewalt. Wiesbaden [Springer Fachmedien], 203 Seiten, 29,99 Euro.