Lars Bauernschmitt, Michael Ebert: Handbuch des Fotojournalismus rezensiert von Evelyn Runge

Einige Ikonen des Fotojournalismus aus dem 20. Jahrhundert sind schnell benannt; man hat sie vor dem inneren Auge, auch ohne die Bilder vor sich zu sehen: etwa das Aufstellen der amerikanischen Flagge durch Soldaten in Iwo Jima von Joe Rosenthal (1945), die Selbstverbrennung des Mönchs Thich Quang Duc in Saigon von Malcolm Browne (1963) oder die verängstigten, fliehenden Kinder in Vietnam, im Bild festgehalten von Nick Ut (1972). Zu fotografischen Ikonen gehören jedoch nicht nur Aufnahmen aus Krisen- und Kriegssituationen, sondern auch solche aus Wissenschaft und dem Paparazzitum. Lennart Nilssons „legendäre Fotogeschichte über das Werden des menschlichen Lebens im Mutterleib“ (S. 268) wurde nach zwölf Jahren Vorbereitung 1965 im Magazin LIFE veröffentlicht – und konnte auch deshalb realisiert werden, weil die Firma ‚Karl Storz Endoskope‘ in Tuttlingen mit dem Fotografen entsprechende Aufnahmeeinrichtungen entwickelte (S. 268, 274f.). Der „King of the Paparazzi“ (White/TIME, o.J.) Ron Galella hingegen verlor bei der Ausübung seines Berufs die unteren Schneidezähne: Schauspieler Marlon Brando brach ihm den Kiefer – und Galella wurde selbst zum Fotoobjekt. Geschützt mit einem Football-Helm näherte er sich Brando wieder (S. 216f.).

All diese Fotografien und viele mehr bilden den Grundstock des Handbuchs des Fotojournalismus, das einen breiten Überblick über dessen Geschichte, Ausdrucksformen, Einsatzgebiete und Praxis gibt, wie der Untertitel verspricht. Das Handbuch lebt von der praktischen Expertise des Autoren-Teams Lars Bauernschmitt und Michael Ebert. Beide haben jahrzehntelange Erfahrung in der deutschen Fotobranche, Bauernschmitt unter anderem als Geschäftsführer der Agentur VISUM (1993-2008), Ebert seit 1979 als Fotojournalist für Medien, Unternehmen und als Mitglied in Bauernschmitts früherer Agentur. Beide unterrichten zudem Fotojournalismus an der Hochschule Hannover.

In 17 Kapiteln widmen sich die Autoren zunächst chronologisch der Geschichte der Fotografie und des modernen Bildjournalismus und spezifischen Ausdrucksmitteln. Die Kapitel 5 bis 11 sind einzelnen Sujets gewidmet, unter anderem dem Lokaljournalismus (S. 169ff.), der Sportfotografie (S. 183ff.), Paparazzi (S. 217ff.) und Politikern (S. 229ff.), aber auch dem Fotojournalismus in der Öffentlichkeitsarbeit (S. 245ff.) sowie in der Natur- und Wissenschaftsfotografie (S. 267ff.). Abgerundet wird das Buch durch Informationen über Ausrüstung (S. 281ff.), Hard- und Software (S. 297ff.) sowie Ausführungen zum Bildermarkt und den Rechten der Fotografen (S. 305ff.).

Hervorzuheben ist, dass Bauernschmitt und Ebert diesen breiten Ansatz gewählt haben – und nicht Bild- und Fotojournalismus mit Kriegs- oder Krisenfotografie gleichsetzen, wie es noch immer in jüngeren Publikationen geschieht (z.B. Pensold 2015). Der Vorteil dieser Perspektive liegt auch darin, die Komplexität des Fotojournalismus abzubilden, sei es durch die Reflektion der veränderten Publikationsformen aufgrund der Digitalisierung und Anforderungen ans Equipment (vgl. z.B. S. 137, 297ff.), sei es durch Tipps, wie ein Fotograf seine Nische(n) finden und sich dort selbst zur Marke machen kann (z.B. S. 305ff., 316ff., 327ff., 335ff.). Die Autoren betonen, wie sich der Markt der Fotoagenturen ausgedehnt hat, die nicht ausdrücklich journalistisch arbeiten: Am Beispiel von Getty Images beschreiben sie, wie sehr Fotos zur Ware geworden sind (S. 305ff.) – durch Bezahlformen wie Micropayment (S. 307f.), aber auch Lizenzierungsmodelle wie Royalty Free (S. 311) und die zunehmende Nutzung von Stockfotografie (S. 325; vgl. auch Glückler/Panitz 2013, Runge 2016).

Die Arbeitsbedingungen von Bildjournalisten – weniger von Bildredakteuren – werden in jedem Kapitel ergänzend thematisiert. Nach Angaben der Autoren verdienen in Deutschland etwa 4000 Menschen „direkt oder indirekt ihr Geld mit publizistischer Fotografie“ (S. vi). Trotz sinkender Auflagen und Honorare bei gleichzeitiger Übernahme zusätzlicher Aufgaben bleibt der Beruf des Fotoreporters attraktiv (S. vii), worauf auch die Absolventenzahl von jährlich 500 neuer professioneller Fotografen schließen lässt (S. 306): „Unser Beruf ist gewissermaßen wie eine Eintrittskarte in andere Welten. Man wird ständig zu ganz unterschiedlichen Menschen geschickt, um Bilder zu machen. Man taucht immer wieder in andere Situationen und Leben ein, zu denen ein Normalsterblicher kaum Zugang hat“, sagt Rolf Nobel, Professor für Fotografie an der Hochschule Hannover (S. 401).

Gemeinsam ist den Kapiteln, dass sie neben theoretischen und historischen Grundlagen eine Vielzahl an Interviews mit Praktikern aus den unterschiedlichsten Feldern des Fotojournalismus bieten. Lobenswert ist, dass dabei auch Frauen in Führungspositionen zu Wort kommen, die im ansonsten männlich dominierten Fotojournalismus auch in neueren Werken kaum angemessen beachtet werden (vgl. Isermann 2015, Pensold 2015). Die Interviewten berichten aus ihrer Alltagspraxis und gehen dabei auch auf Honorar und Aufwand ein. Haika Hinze als Art Direktorin der Wochenzeitung Die Zeit (S. 133ff.) ist sich darüber bewusst, dass hohe Konkurrenz besteht, obwohl nach ihrer Aussage Die Zeit Honorare zahlt, die „im Marktvergleich noch in Ordnung“ sind (S. 133). Dennoch „schmerzt das Gefühl, dass man den Fotografen nicht das zahlen kann, was die Arbeit ideell an Wert hat“ (S. 133). Ruth Eichhorn, von 1994 bis 2005 verantwortlich für die Fotografie der Zeitschrift Geo, erläutert, wie das Magazin große Reportagen realisiert – inklusive aufwändiger Vor-Ort-Recherche der Redaktion „gemeinsam mit dem Fotografen“ (S. 144).

Besonders hervorzuheben ist zudem Kapitel 10, das sich mit „Fotojournalismus in PR und Öffentlichkeitsarbeit“ befasst (S. 244ff.): Bauernschmitt arbeitet sehr gut heraus, wie Corporate Publishing zunehmend auf fotojournalistisches Storytelling setzt. Auf Grund geringerer Honorare im Pressebereich arbeiten Fotojournalisten auch für Publikationen von Unternehmen und Verbänden. Fotojournalistische Bildwelten wirken authentischer und wahrhaftiger als Werbefotografie, was Firmen zur Kundenbindung nutzen (vgl. 246, 250). Für Rezipienten wird es damit allerdings noch schwieriger, die Verwischung von Journalismus und Werbung zu erkennen (vgl. auch S. 397).

Es fällt auf, dass sich Bauernschmitt und Ebert oft auf ihre eigene Hochschule beziehen, sei es in Interviews, die sie mit Fotografen führten, die auch an der Hochschule Hannover unterrichten (z.B. S. 261, 379), oder in der wiederholten Darstellung des Fotofestivals Lumix, das mit der Hochschule ausgerichtet wird (z.B. S. 100, 152, 155, 157). Dieser Fokus erscheint recht einseitig, zumal andere renommierte Schulen wie der Lette-Verein Berlin, die Fachhochschule Bielefeld, die Staatliche Fachakademie für Fotodesign München oder die Fachhochschule Dortmund nicht mal erwähnt werden. Diese mögen vielleicht nicht „Fotojournalismus“ als Namensbestandteil haben, dennoch sind sie aus der Studien- und Ausbildungslandschaft für Fotografie in Deutschland nicht wegzudenken. Es wäre schön gewesen, wenn ein Serviceteil am Ende des Buches einige der Adressen aufgelistet hätte, sodass sich das Handbuch des Fotojournalismusnicht wie verdeckte Werbung für die Hochschule Hannover lesen lässt.

Das Buch ist reichhaltig mit Fotografien illustriert, darunter mit historischen Aufnahmen und relativ vielen Reproduktionen von Doppel- und Titelseiten etwa aus Zeitschriften wie LIFE oder Spiegel (z.B. S. 101, 106, 107, 196). Obwohl die Verfasser darauf hinweisen, wie wichtig detaillierte und kontextualisierende Bildbeschriftung ist (S. 341f.), setzen sie dies nicht in allen Fällen selbst um. Eine Fotostrecke mit sechs Aufnahmen von Pete Souza, dem Cheffotografen des Weißen Hauses, zeigt US-Präsident Barack Obama in verschiedenen Interviewsituationen (S. 236-238) sowie die berühmte Aufnahme aus dem Situation Room des Weißen Hauses, die ihn und seine engsten Mitarbeiter bei der Liveübertragung der Erstürmung des Wohnhauses von Osama bin Laden dokumentiert (S. 235). Über dieses Bild ist viel berichtet worden, doch im vorliegenden Buch fehlt ein Hinweis auf diese Debatte. Ähnlich dürftig ist die Einbindung wissenschaftlicher Quellen: Zwar präsentieren die Autoren im Anhang eine Literaturliste (S. 405 ff.), die einen soliden Überblick über Standardwerke gibt, die sich mit den Grundlagen der Fotografie und des Bildjournalismus, seiner Geschichte, Technik, Bildgestaltung, Markt und Recht befassen. Im Fließtext selbst fehlen allerdings direkte Verweise und Quellenangaben, was für wissenschaftlich geneigte Leser einen Minuspunkt darstellt.

Insgesamt ist das Handbuch des Fotojournalismus ansprechend gestaltet. Es überzeugt vor allem durch die Breite der Darstellung und der Kundigkeit der Autoren in Geschichte und Praxis des Fotojournalismus. Es zeigt darüber hinaus, wie viel Potenzial für Forschung über Fotojournalismus abseits kunstgeschichlicher Zugänge liegt, etwa in der Medienökonomie, der Bedeutung visueller Wissenschaftskommunikation sowie Produktion und der Wirkung digitaler Erzählformen wie der Webreportage.

Diese Rezension ist zuerst in rezensionen:kommunikation:medien (r:k:m) erschienen.

 

Literatur

Glückler, Johannes/ Panitz, Robert (2013): Survey of the Global Stock Image Market 2012. Part I bis III. Heidelberg: GSIM Research Group.Isermann, Holger (2015): Digitale Augenzeugen. Entgrenzung, Funktionswandel und Glaubwürdigkeit im Bildjournalismus. Wiesbaden: VS-Verlag.

Pensold, Wolfgang (2015): Eine Geschichte des Fotojournalismus: Was zählt, sind die Bilder. Wiesbaden: VS-Verlag.

Runge, Evelyn (2016): Ökonomie der Fotografie. In: Medienwissenschaft: Rezensionen, 3, S. 274-296.

White, Adam: Ron Galella, King of the Paparazzi. In: TIME. http://content.time.com/time/photogallery/0,29307,2008078,00.html, o.J., angerufen am 09.10.2016

Über die Rezensentin

Dr. phil. Evelyn Runge erforscht die Produktionsbedingungen von Fotojournalisten im digitalen Zeitalter („Image Capture“). Sie wird gefördert von der Martin Buber Society of Fellows in the Humanities and Social Sciences, Hebrew University of Jerusalem, Israel (Stiftungsfonds BMBF). Forschungsschwerpunkte: Fotografie in Theorie und Praxis, Mediensoziologie, Bilddatenbanken und Archive, Journalismus, Digital Storytelling. Sie hat Politikwissenschaft, Journalistik, Neuere deutsche Literatur und Soziologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München studiert und eine Ausbildung zur Redakteurin an der Deutschen Journalistenschule in München erhalten. Im Herbert von Halem Verlag ist 2016 ihre Publikation Motor/Reise. Handbuch für die Medienpraxis erschienen (mit Hektor Haarkötter). Journalistische Veröffentlichungen u.a. in Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, Cicero, Die Zeit, Süddeutsche Zeitung. Zudem ist sie Alumna der Jungen Akademie an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina (2011-2016).

Über das Buch

Bauernschmitt, Lars/ Ebert, Michael (2015): Handbuch des Fotojournalismus. Geschichte, Ausdrucksformen, Einsatzgebiete und Praxis. Heidelberg: dpunkt.Verlag. 423 Seiten. 39,90 Euro.