Ausrangierte Nachrichten Über Nachrichtenvernachlässigung, Agenda Cutting und News Ignorance

von Hektor Haarkötter

Abstract: Wichtige Nachrichten finden nicht ihre Bestimmung, nämlich das politisch interessierte und gesellschaftlich aufgeschlossene Publikum. Man kann diesen Vorgang als Agenda Cutting bezeichnen. Der Beitrag stellt die wichtigsten theoretischen Positionen zu diesem bislang noch wenig erforschten Phänomen dar, präsentiert wichtige Studienergebnisse und auch eigene empirische Ergebnisse zu innerredaktionellen Entscheidungsfindungsprozessen, bei denen Themen von der Agenda gestrichen werden. Zuletzt wird auch die Rolle des Publikums als Akteur beim Vorgang des Agenda Cuttings kritisch beleuchtet, die man als »news ignorance« beschreiben könnte.[1]

Die schleichende Abschaffung der Lernmittelfreiheit in den deutschen Bundesländern steht im Jahr 2022 auf Platz 1 der Top Ten der ›Vergessenen Nachrichten‹, die die Initiative Nachrichtenaufklärung (INA) e.V. jedes Jahr in die Öffentlichkeit lanciert. Der Chef des Fernsehnachrichtenmagazins Tagesthemen und stellvertretender Chefredakteur von ARD-Aktuell, Helge Fuhst, konzedierte in der Mediensendung eines öffentlich-rechtlichen Radiosenders, dass er dieses Thema für hochrelevant halte und es tatsächlich in seiner TV-Nachrichtensendung nicht behandelt worden sei. »Was das Schwierigste ist, ist tatsächlich Themen wegzulassen«, so Fuhst. »Es schmerzt uns jeden Tag, wenn wir Themen weglassen müssen. Es gibt wenige Tage im Laufe des Jahres, wo wir absolut keine Idee haben, was wir in die Sendung nehmen sollen« (WDR 2022).

Der Vorgang der Nachrichtenselektion ist redaktionelle Routine, und zu dieser Routine zählt auch, Themen wegzulassen, auszusortieren, fortzuschmeißen. Wenn dieser negative Prozess intentional erfolgt, kann man auch von Agenda Cutting sprechen. Dieser kommunikationswissenschaftliche Begriff beschreibt eine eigene Form redaktioneller Routine, die bislang nur wenig untersucht worden ist und deren Mechanismen mit ihrem erheblichen Einfluss auf die öffentliche Meinungsbildung dringend unter das Seziermesser der Medienforschung gehören.

Theorie – Konzept – Wissenschaft

Über die Nachrichtenselektion betreibt der Journalismus Agenda Setting. Dieses ursprünglich als Hypothese von Bernhard C. Cohen formulierte Großtheorem wurde insbesondere von Maxwell McCombs und Donald Shaw ausgearbeitet und postuliert eine Medienwirkungsaussage, derzufolge die von journalistisch-redaktionellen Medien auf die Medienagenda gesetzten Themen auch diejenigen werden, die die Publikumsagenda und damit den gesellschaftlichen Diskurs bestimmen (Cohen 1963; McCombs/Shaw 1972).

Ist Nachrichtenselektion ein quasi naturwüchsiger Vorgang, so mutiert sie in ihrer intentionalen Variante zum Gegenkonzept von Agenda Setting, nämlich zum Agenda Cutting. Der Begriff Agenda Cutting wurde erstmals in den 1980er-Jahren von Mallory Wober aufgebracht und später von Rita Colistra etwas systematischer ausgearbeitet. Schon McCombs und Shaw wiesen darauf hin, Nachrichteninhalte seien »not treated equally when presented to the audience. Some are used at length, some are severely cut« (McCombs/Shaw 1984: 69). Erstmals wird das Konzept Agenda Cutting bei Mallory Wober und Barrie Gunter in ihrem Buch Television and Social Control (1988) erwähnt. Ihre Ausgangsbeobachtung ähnelt dabei sehr derjenigen von Johan Galtung und Maria C. Ruge, als sie zum ersten Mal systematisch den Begriff des news value ausgearbeitet haben (Galtung/Ruge 1965). Während die norwegischen Forscher_innen sich in den 1960er-Jahren wunderten, wie wenig in internationalen Zeitungen über Krieg und Frieden berichtet wird, staunten Wober und Gunter, warum große friedliche Demonstrationen so oft keine Erwähnung finden, während andererseits nicht-repräsentative Geschehnisse eine unangemessene mediale Aufmerksamkeit erfahren:

»Selection for inclusion in the news has been entitled ›agendasetting‹ […]. We also need a term for the exclusion of material from the news. For this, we suggest ›agenda-cutting‹, referring to the cutting off from access to the stage of public attention events that are judged to be ›non-newsworthy‹ (by journalists, that is)« (Wober 1988: 81).

In der gleichen Zeit untersuchte Robert Entman, dass Agenda Setting nicht nur die Publikumsagenda beeinflusst, sondern auch, wie das Publikum über die verhandelten Themen denkt (Entman 1989, 1991). Er verglich die Berichterstattung über den Abschuss eines iranischen Passagierflugzeugs durch US-Militär sowie den Abschuss eines koreanischen Flugzeugs durch sowjetisches Militär. Die mediale Bewertung dieser katastrophalen Zwischenfälle, so das Ergebnis, war sehr unterschiedlich und diese Unterschiede fanden sich auch in der Publikumsbewertung wieder – und dies nicht nur im positiven, sondern auch im negativen Sinn. Aspekte und Sachverhalte, die in der Berichterstattung knapp gehalten wurden, prägten entsprechend auch nicht das Bewusstsein der Rezipient_innen. Ohne den Terminus Agenda Cutting zu benutzen, verweist Entman bei diesem negativen oder substraktiven Effekt auf

»de-emphasized information suggesting that the human cost was not worth the (controversial) benefits of the U.S. presence, by reducing its salience in the text and making it harder to discern in the onrush of news« (Entman 1991: 23).

Rita Colistra hat in den 2000er-Jahren empirische Untersuchungen zum Agenda Cutting unter US-amerikanischen Fernsehjournalist_innen angestellt und das Konzept auch zum ersten Mal etwas ausführlicher theoretisch reflektiert (Colistra 2008, 2012, 2018). Colistra unterscheidet drei Ausprägungen von Agenda Cutting: »(1) by placing an item low on the news agenda (burying it); (2) by removing it from agenda once it is there; or (3) by completely ignoring it by never placing it on the agenda in the first place« (Colistra 2008: 60).

Colistra fußt besonders auf den theoretischen Explorationen von Pamela Shoemaker und Stephen Reese, die in ihrer Studie Mediating the Message: Theories of Influences on Mass Media Content (1996) besonders den Einfluss externer Größen auf Medieninhalte untersucht haben (Shoemaker/Reese 1996).

In einer jüngeren Arbeit hat Yosuke Buchmeier den Versuch unternommen, die Möglichkeiten einer Konzeptualisierung und Operationalisierung des Begriffs Agenda Cutting für eine tiefergehende empirische Untersuchung auszuloten. Dabei geht er vor allem von einem »epistemic dilemma« aus, das jede empirische Analyse vor ein Problem stelle: »How can one empirically study the absence of content« (Buchmeier 2020: 2008; vgl. auch Buchmeier 2022). Für Buchmeier ist Agenda Cutting immer ein intentionaler Akt, es geht ihm also um das absichtsvolle Auslassen oder Ignorieren bestimmter Themen, mit dem ein_e Akteur_in bestimmte Ziele verfolgt (»claim of purposiveness«; Buchmeier 2020: 2021). Nur auf diese Weise könne man echtes Agenda Cutting von »regulärer« Nachrichtenselektion unterscheiden. Diese Themen müssen seiner Meinung nach spezifische Eigenschaften haben, nämlich Relevanz und Kontroversität. Was als »soft news« bezeichnet wird, hat diese Relevanz nicht und kann darum Buchmeier zufolge niemals Ziel von Agenda Cutting sein. Mit Kontroversität meint Buchmeier, »the coverage of a specific issue would be to the disadvantage of particular interest groups« (Buchmeier 2020: 2015).

Buchmeier als Japanologe untersucht das Phänomen Agenda Cutting vor allem am Beispiel des Mediensystems Japans und seiner ausgeprägten Schweigekultur. Gerade was den Blick in andere Länder und Kontinente angeht, lassen sich empirisch Spuren von Agenda Cutting dingfest machen. Hierauf soll im folgenden Abschnitt eingegangen werden.

Nachrichten – Gerechtigkeit – Geographie

Der »Nachrichtenatlas« der ARD-Tagesschau zeigt im Internet graphisch auf einer Weltkarte, aus welchen Ländern in einem definierten Zeitraum berichtet wurde (ARD 2022). Schon auf den ersten Blick ist zu ersehen, dass weite Teile des Globus nachrichtlich in den Fernsehnachrichtensendungen des Ersten Deutschen Fernsehens nicht vorkommen. Diese Beobachtung ist nicht ganz neu, wurde aber bislang noch nicht mit dem Konzept Agenda Cutting in Beziehung gesetzt. Wilbur Schramm konstatierte schon in den 1960er-Jahren programmatisch:

»We must conclude that the flow of news among nations is thin, that is unbalanced, with heavy coverage of a few highly developed countries and light coverage of many less developed countries, and that, in some cases at least, it tends to ignore important events and to distort the reality it presents« (Schramm 1964: 65).

Nach ausführlichen Diskussionen über eine »New World Information and Communication Order« (NWICO) in den 1970- und 1980er-Jahren legte die sogenannte MacBride Commission der UNESCO, benannt nach dem Nobelpreisträger Sean MacBride, einen Bericht unter dem Titel Many Voices, One World vor, der eine starke Unausgewogenheit jener Berichterstattung diagnostizierte, in der die Medien der westlichen Industrienationen vor allem über sich selbst berichten, während der Globale Süden journalistisch außen vor bleibt (Galtung et al. 1992: 54ff.; Padovani 2005). Während die Kommission Vorschläge unterbreitete, die in der Konsequenz etwa zur Proklamation der »Windhoek Declaration for the Development of a Free, Independent and Pluralistic Press« (und in der Folge zur Ausrufung eines Internationalen Tags der Pressefreiheit am 3. Mai, dem Jahrestag der Deklaration) führte, muss man andererseits konstatieren, dass sich an der grundsätzlichen Diagnose bis heute nichts geändert hat. In der betreffenden Forschung, die unter dem Rubrum Nachrichtengeographie erfolgt, wird heute zwischen Nachrichtenzentren, Nachrichtennachbarn und der meist ignorierten Nachrichtenperipherie unterschieden (Kamps 1998: 275f., 2008: 89). Die Vernachlässigung bestimmter Regionen, gar Kontinente kann so weit gehen, dass sogar von »areas of invisibility« gesprochen werden kann (Sreberny-Mohammadi 1985: 52). Kamps resümiert: »Der Globus der Fernsehnachrichten gleicht einem umgekehrt proportionalen Schweizer Käse: nicht die Substanz, sondern das Fehlende dominiert« (Kamps 1998: 293).

Neben den von der UNESCO initiierten Untersuchungen gab und gibt es, was Nachrichtengeographie und Nachrichtenverteilungsgerechtigkeit angeht, eine Reihe von Einzelanalysen, die es nahelegen, von Agenda Cutting sprechen zu dürfen. Josef Eckhardt hat ebenfalls schon in den 1980er-Jahren etwa die Berichterstattung über die sogenannte Dritte Welt im ARD-Programm und im Westdeutschen Fernsehen untersucht (Eckhardt 1982). Guy Golan wies eine Vernachlässigung des afrikanischen Kontinents in der US-amerikanischen Fernsehberichterstattung nach (Golan 2008). Ähnliches leisteten Astrid Lüttich u. a. für die Austria Presse Agentur und Inter Press Service (Lüttich et al. 1985). Eine Forschergruppe um Thorsten Quandt hat bei einer großangelegten Analyse von internationalen Fernsehnachrichten festgestellt, dass in der Auslandsberichterstattung gerade bestimmte Themenfelder, zum Beispiel Wirtschaft/Handel oder Kultur »insgesamt kaum ins Gewicht fallen« (Quandt et al. 2014).

Auch in jüngster Zeit wurde das Phänomen des Agenda Cutting gerade mit Bezug zur Nachrichtengeographie detailliert untersucht. Dass etwa gerade der afrikanische Kontinent in der ARD-Tagesschau eine terra incognita ist, macht nicht nur der hauseigene Nachrichtenatlas deutlich. Auch wissenschaftlich lässt sich das belegen. Fabian Sickenberger hat in seiner Dissertation die Afrikaberichterstattung der ARD-Tagesschau zwischen 1952 und 2018 empirisch untersucht. In seiner quantitativen Inhaltsanalyse hat er 1.685 Beiträge aus sieben Jahrzehnten Tagesschau näher unter die Lupe genommen. Dabei zeigt sich, dass über die allermeisten afrikanischen Staaten kaum, über einige sogar überhaupt nicht berichtet wird. Vor allem in Bezug auf Zentral- und Westafrika ist diese Form des Agenda Cuttings evident. Thematisch liegt der Fokus der Afrika-Berichterstattung klar auf politischen, militärischen und gesellschaftlichen Perspektiven, wobei negativ gerahmte Nachrichtenthemen (Krisen, Kriege, Konflikte) im Vordergrund stehen. Sickenberger bringt dies auf die schneidende Formel: »Cutting Africa« (Sickenberger 2021, 2022).

Die deutsche Afrika-Berichterstattung als Beispiel für besonders prägnantes Agenda Cutting hat auch Ladislaus Ludescher in aufwändigen empirischen Untersuchungen näher beleuchtet. Neben den deutschen Fernsehnachrichten wurden dabei auch führende in- und ausländische Printmedien in einem Zeitraum zwischen 1996 und 2019 analysiert. Ludeschers Folgerung: Nicht nur Afrika, sondern die Länder des Globalen Südens insgesamt werden in den deutschen Leitmedien stark marginalisiert oder sogar ignoriert. Soziopolitische Entwicklungen und Katastrophen im Globalen Süden werden, bis auf wenige überwiegend militärische Ausnahmen, medial kaum wahrgenommen. Im »Pandemiejahr« 2020 hat sich diese Situation nach Ansicht Ludeschers sogar noch zugespitzt (Ludescher 2022).

Neuere Untersuchungen

Zwar notiert Rita Colistra, dass, anders als das Agenda Setting, »the reverse phenomenon, keeping an item off the agenda, has largely been ignored in scholarly research« (Colistra 2008: 59). Dennoch gibt es einige empirische Untersuchungen, die starke Indizien dafür liefern, dass Agenda Cutting nicht nur existiert, sondern auch manifest, nachweisbar und messbar ist.

Eine der bekannteren Einzeluntersuchungen stammt von den Kom­muni­ka­tionswissenschaftler_innen des Forschungsinstituts Media Tenor. Diese haben Anfang der 2000er-Jahre den Zusammenhang zwischen der Berichterstattung über Rinderwahnsinn und dem Konsum von Rindfleisch im Berichterstattungsgebiet untersucht (Media Tenor 2003). Als diese Tierkrankheit, die im Verdacht der Zoonose stand, die Berichterstattung in deutschsprachigen Medien dominierte, ging auch der Konsum von Rindfleisch stark zurück. Als im Folgejahr trotz nahezu gleicher Fallzahlen die Berichterstattung deutlich zurückging, stieg proportional auch der Rindfleischkonsum wieder.

Nagwa Fahmy hat die besondere Rolle journalistischer Blogs in der ägyptischen Öffentlichkeit untersucht. Gerade weil bestimmte Themen aufgrund staatlicher Pression im regulären Journalismus dem Agenda Cutting unterliegen, werden sie in einem autoritär regierten Staat wie Ägypten in Inter­­netblogs publiziert (Fahmy 2014). Hasmah Zanuddin u. a. haben zwei Tages­zeitungen und eine Reihe von Facebook-Accounts während der Parlamentswahlen in Malaysia im Jahr 2013 analysiert und sind zu dem Ergebnis gekommen, dass von 17 ausgewählten Themengebieten ganze acht Themen bewusst aus der Öffentlichkeit gehalten worden sind (Zanuddin et al. 2017). Beide Aufsätze könnten eine Hypothese Buchmeiers bestätigen, dass Agenda Cutting sich einerseits auf kontroverse Themen bezieht, andererseits aber viele Themenfelder in der westlichen Hemisphäre ihre kontroverse Energie verloren haben, während sie im Globalen Süden als »taboo topics« angesehen werden können und deswegen eher ein Fall für Agenda Cutting werden (Buchmeier 2020: 2015). In der Untersuchung von Fahmy waren vor allem die Themen Menschenrechtsverletzungen, Folter und Korruption messbar von Agenda Cutting betroffen. Bei Zanuddin u. a. waren es messbar die Themen Kriminalität, Soziales, Umwelt, nationale Einheit, Nationalismus, Gesundheitssystem, internationale Beziehungen und Immigration.

In Deutschland wie auch in den USA haben sich Nicht-Regierungsorganisationen der Aufklärung über Themenvernachlässigung und Agenda Cutting verschrieben. Die Initiative Nachrichtenaufklärung (INA) e.V., die 1997 an der Universität Siegen gegründet wurde, veröffentlicht jedes Jahr eine »Top Ten der Vergessenen Nachrichten« (Pöttker/Schulzki-Haddouti 2007; Haarkötter/Nieland 2018). Auch die US-amerikanische Schwesterorganisation Project Censored veröffentlicht jedes Jahr eine Liste mit in der Medienöffentlichkeit ignorierten Themen (Roth 2022). Bei beiden Organisationen, die jeweils vornehmlich an Universitäten angesiedelt sind und hinter denen studentisch-akademische Recherche-Crews stecken, sind es aus Wissenschaftler_innen und Journalist_innen besetzte Jurys, die über diese Toplisten abstimmen und den Grad der Vernachlässigung bestimmen. Die Recherche-Crews führen dazu neben Sachverhaltsrecherchen auch Medienanalysen durch, sichten Pressedatenbanken und Internetarchive. Zu den Kriterien für die Auswahl zählen jeweils gesellschaftliche Relevanz und eine ausführliche Prüfung der medialen Ignoranz oder De-Publikation.

Empirische Belege für Agenda Cutting in Redaktionen

In einer eigenen Kommunikator_innenbefragung wurden 43 Journalist_innen vorwiegend aus dem Köln/Bonner Raum befragt und diese Interviews qualitativ ausgewertet (vgl. hierzu ausführlicher Haarkötter/Kalmuk 2022). Berücksichtigt wurde bei dieser Befragung auch das Beschäftigungsverhältnis (fest oder frei) und der Finanzierungstyp des beauftragenden Mediums (privat oder öffentlich-rechtlich). Die forschungsleitende Frage hinter den Interviews war die nach den inner-redaktionellen Entscheidungsfindungsprozessen bei der Ablehnung von Themen.

Nur zwei der Befragten gaben an, noch nie von Themenablehnung betroffen gewesen zu sein. Mehr als die Hälfte der befragten Journalist_innen erklärten, eher oft mit solchen Ablehnungen zu tun zu haben. Mitarbeiter_innen bei öffentlich-rechtlichen Medien sind dabei häufiger von Themenablehnungen betroffen als solche bei privaten Medien.

Von wesentlichem Interesse bei der Befragung waren die Gründe, weswegen Themen in Redaktionen abgelehnt wurden. Der am häufigsten vorgebrachte Grund war, dass ein Thema schon vergeben oder in der Vergangenheit bereits realisiert worden war. Am zweithäufigsten gaben die Befragten an, dass inhaltliche und/oder publikumsorientierte Gründe für die Ablehnung eines Themas genannt wurden. Ein inhaltliches Argument schildert einer der befragten Journalist_innen so: »Es gibt Themen, die sehr gut laufen, aber es gibt auch Themen, die nicht so gut laufen. Also wenn wir über kambodschanische Textilarbeit für Marken hier in Deutschland berichten, dann ist es natürlich interessant. Aber wenn es um innenpolitische Fragen von Thailand geht, hat es nicht so viel Relevanz für die Zielgruppe hier in Deutschland« (Int. 12, Frage 8). Publikumsorientierte Gründe sind solche, bei denen Redaktion und Journalist_innen unterschiedliche Einschätzungen haben, was die Zielgruppeninteressen angeht. Eine Themenablehnung wird dann etwa so begründet: »In unserer Sendung erwartet das Publikum ganz andere Geschichten« (Int. 4, Frage 8). Auch wirtschaftliche Motive werden als Grund für redaktionelle Themenablehnungen genannt, etwa zu hohe Produktionskosten: »Es kann vorkommen, dass ein Dreh, den man sich wünscht, nicht stattfindet, weil der zu teuer ist und du ihn dann durch etwas anderes ersetzen musst« (Int. 21, Frage 8).

Immer wieder werden auch zeitliche Gründe für die Ablehnung eines Themas genannt, »wenn es sehr aufwändig ist, diese Informationen zu recherchieren, und die Zeit nicht mehr vorhanden ist« (vgl. Int. 34, Frage 8). Aktualitäts- und Termindruck als wesentliches Einflussmoment redaktioneller Arbeit prägt die Themensetzung. Ressourcenknappheit als Grund für Agenda Cutting wird in diesem Punkt besonders deutlich.

Andere Gründe, wie die Bildstärke eines Themas, moralische Bedenken oder Platzgründe in Zeitung oder Sendung finden sich zwar selten erwähnt, wurden aber auch in einigen Fällen als Motive aufgeführt, derentwegen Redaktionen Themen abgelehnt hätten. Was die moralischen Bedenken angeht, führt etwa ein Interviewpartner eine bestimmte Fallgeschichte an, »da ging es um ein neues Krebsmedikament und da hat man dann aus moralischen Gründen überlegt, ob das nicht schwierig ist, dass man mit etwas, was noch nicht komplett erprobt ist, nicht einem Menschen Hoffnung macht. Also ob man das darf, also das war dann moralisch bedenklich« (Int. 10, Frage 8).

Themenentscheidungen und Themenablehnungen sind redaktionsinterne Prozesse. Problematisch werden sie, wenn es einen externen Einfluss gibt, weil dann zumeist nicht-journalistische Gründe zum Tragen kommen. Mehr als die Hälfte der befragten Journalist_innen gab an, dass gelegentlich oder sogar häufig ein externer Einfluss auf die Themenentscheidungen dingfest zu machen ist. Eine Einflussnahme durch Wirtschaftsvertreter_innen, Unternehmen oder Anzeigenkunden wurde insgesamt zehnmal genannt. Ein Interviewpartner erzählt: »Wenn da eine finanzielle Abhängigkeit besteht, dann ist es oft so, dass in der regulären Berichterstattung dieser Werbepartner stark zur Geltung kommt« (Vgl. Int. 5, Frage 12). Auch folgende Aussage zeigt die Einflussnahme gerade von Anzeigenkunden auf die Redaktionen: »Dann möchten diejenigen, die uns die Anzeigen abkaufen und in unserem Magazin mit Werbung einen Platz haben, natürlich so dargestellt werden, wie sie das gerne hätten« (Int. 39, Frage 12).

Insgesamt acht Mal wurde in den Interviews eine Einflussnahme durch Politiker_innen, politische Parteien oder auch ausländische Mächte geschildert. So berichtet ein Befragter über einen konkreten Fall von transnationalem Agenda Cutting: »Der Staat Aserbaidschan hat mir ein Visum verweigert und hat mich nicht einreisen lassen, weil sie mich nicht im Land haben wollten, wir sind überwacht worden vom Geheimdienst in einem europäischen Staat, das sind so ein paar Beispiele« (vgl. Int. 1, Frage 12). Eine andere weiß von politischer Einflussnahme durch den nordkoreanischen Staat (vgl. Int.12, Frage 12) zu erzählen. Doch nicht nur die politischen Akteur_innen anderer Länder versuchen, auf die hiesige Berichterstattung Einfluss zu nehmen. Auch im Lokaljournalismus versuchen Politiker_innen auf einzelne Teile der Berichterstattung einzuwirken, wie in einem Interview berichtet wird: »Da wollte eine Partei gerne nachträglich etwas geändert haben, wo ich dann aber nachweisen konnte, dass ich allen Parteien die gleichen Optionen und Konditionen gegeben hatte« (Int. 18, Frage 12).

Auch eine Einflussnahme durch Privatpersonen, die keine herausgehobene Position in der Zivilgesellschaft einnehmen, also beispielsweise Leser_innen, wurde fünf Mal genannt. Ein Journalist berichtet von der Berichterstattung über einen ortsansässigen Verein, bei der versucht wurde, Einfluss auszuüben. »Wenn du nicht ganz so berichtest hast, wie es ein Vereinsvorsitzender möchte, dann sagt der schonmal ›Ich sag allen meinen Vereinsmitgliedern Bescheid, dass sie die Zeitung kündigen sollen‹« (Int. 11, Frage 12).

Insgesamt elf Mal wurde eine Einflussnahme durch sonstige externe Player genannt. Hierzu zählen insbesondere anwaltliche Interventionen, die oft schon im Vorfeld der Berichterstattung bei der Recherche mit juristischen Drohgebärden Themen von der Agenda nehmen möchten. Diese Taktik kann im Extremfall bis zu gerichtlichen Klagen führen. In diesem Fall spricht man von »strategic lawsuit against public participation« (auf deutsch: »Strategische Klage gegen öffentliche Beteiligung«), kurz: SLAPP (vgl. Solmecke 2022). Eine der befragten Journalistinnen erzählt: »Also wenn da Kolleginnen wirklich was ausgegraben haben, versuchen Betroffene das tatsächlich durch den Anwalt zu verhindern. Da wird versucht, dass die Ausstrahlung verhindert wird« (Int.17, Frage 12).

Erklärungen für innerredaktionelles Agenda Cutting

Zur Erklärung der innerredaktionellen Entscheidungsfindungsprozesse bieten sich neben inhaltlichen und sozialstrukturellen Gründen (Pöttker 2014) drei theoretische Folien an: Das Konzept einer journalistischen Ökonomik und der Journalist_innen als »homo oeconomicus maturus«, wie vor allem Susanne Fengler und Stephan Russ-Mohl es ausgeführt haben (Fengler/Russ-Mohl 2005); ein abgewandeltes Rational Choice-Modell, wie es aus der Politikwissenschaft bekannt ist und wie vor allem Anthony Downs es expliziert hat (Downs 1957); und schließlich das sogenannte Mülleimer-Modell der Organisationstheorie, wie Cohen, March und Olsen es beschrieben haben (Cohen u. a. 1972).

Der »homo oeconomicus«-Ansatz geht davon aus, dass die Akteur_innen stets unter Knappheitsbedingungen handeln, ihre Entscheidungen auf persönlichen Präferenzen beruhen, ihre Handlungsmöglichkeiten durch Restriktionen begrenzt sind und in Interaktionen die Akteur_innen sowohl gemeinsame als auch konfligierende Interessen haben (Kirchgässner 1991: 12ff.). Gerade unter Bedingungen knapper Ressourcen, begrenzter Information und nur eingeschränkter Rationalität können die Akteur_innen eine totale Maximierung ihrer Erträge – was in unserem Zusammenhang bedeutet: Die Realisierung aller möglichen relevanten Themen und damit die Herstellung einer Informationstotalität für das Publikum – nicht erreichen. Sie müssen sich stattdessen laut Herbert Simon in der Regel mit gerade noch zufriedenstellenden Ergebnissen abfinden, für die er das Kunstwort »satisficing« aus den Bestandteilen »satisfying« (befriedigend) und »sufficient« (ausreichend) gebildet hat (Simon 1955: 99; 1983: 75ff.).

Wenn wir die Auswahl von Themen als Interaktionen verstehen, bei der mehrere Akteur_innen in sozialer Kooperation zusammenwirken, sind auch die spieltheoretischen Überlegungen und Modelle der Ökonomik eine Option zur Erklärung der Themenselektion (Neumann/Morgenstern 1944; Simon 1983: 87; Braun 1999: 196ff.). Hierbei könnte insbesondere der Gedanke relevant sein, dass es sich bei redaktionellen Verhandlungen um iterative Spiele handelt, die Akteur_innen aus dem Verhalten ihrer Kolleg_innen in vergangenen Situationen Rückschlüsse auf ihre möglichen Entscheidungen in der aktuellen Situation ziehen können. Die Entscheidungssituation einer Themenkonferenz kann darum auch mit dem aus der Ökonomik bekannten Stichwort des »tit-for-tat« (»Wie du mir, so ich dir«) beschrieben werden: Die Kooperation der einen Akteurin steht dann in Abhängigkeit von der Kooperation der anderen Mitspieler. Agenda Cutting, also der Ausschluss oder die Nicht-Selektion von gesellschaftlich relevanten Themen im redaktionellen Alltag, erscheint dann als Akt der Nicht-Kooperation, die im Jargon der Ökonomik als Defektion bezeichnet wird (Fengler/Ruß-Mohl 2005: 55).

Unsere Interviews mit Journalist_innen haben diese Sichtweise bestätigt. Hier zeigt sich besonders stark, dass Themensetzung und Themenvernachlässigung Produkte interpersoneller Interaktionen sind, bei denen unterschiedliche Präferenzen der Akteur_innen zu Dilemmata führen können, die letztlich der Realisierung eines Themas im Wege stehen. Aufgelöst werden solche Dilemmata häufig nach dem Prinzipal-Agenten-Modell, sprich: der/die Chef_in entscheidet. So hat es frank und frei einer der Interviewpartner_innen dargestellt: »Es hängt auch manchmal vom Chefredakteur ab« (vgl. Int. 30, Frage 8).

Auswirkungen hat jene Defektion, die wir als Agenda Cutting identifizieren und als negativen Auswahlprozess im redaktionellen Alltag verstehen können, nicht nur auf die Redaktionsmitglieder in Form von entgangenen Realisationsgewinnen, sondern es gibt unter Umständen auch gravierende negative externe Effekte für Dritte, die selbst nicht direkt Mitspieler_innen bei der Interaktion waren, sprich: für das Publikum oder die Gesellschaft. Der positive externe Effekt wäre die Wohlinformiertheit der Gesellschaft über relevante Themen und Storys. Der negative externe Effekt ist entsprechend die fehlende Informiertheit der Gesellschaft.

Eine andere mögliche theoretische Matritze zur Erklärung von Agenda Cutting-Prozessen ist der Rational Choice-Ansatz. Er stammt eigentlich aus der Politikwissenschaft und versucht, das Wahlverhalten in Demokratien zu erklären (Downs 1957; Mueller 2003). Das Entscheidungsverhalten bei der Auswahl von Parteien in demokratischen Wahlen könnte durchaus auch mit dem Entscheidungsverhalten bei der Auswahl von Themen in Redaktionen verglichen werden. Die Auswahlentscheidungen beim Rational Choice-Ansatz sollen, wie der Name schon andeutet, rational verlaufen, das heißt im Sinne dieser Theorie, dass sich die Akteure angesichts der von ihnen wahrgenommenen gegebenen Umstände und auf Grundlage ihrer eigenen Präferenzen mit ihrer Auswahl die bestmöglichen erreichbaren Folgen ausrechnen. Auch der Rational Choice-Ansatz geht davon aus, dass vor der Auswahlentscheidung Informationen benötigt werden und entsprechend Informationskosten anfallen. Gerade deswegen werden sich die Akteur_innen mit unvollständigen Informationen begnügen und ihre Entscheidungen unter bestimmten Ungewissheitsbedingungen treffen. In der Wahlforschung geht man davon aus, dass die Ungewissheit dadurch begrenzt werden kann, dass ein Teil der Informationskosten auf Dritte übertragen wird. Bei der Themen- und Nachrichtenselektion des Journalismus kann dies auch dadurch geschehen, dass man sich bei der Themenauswahl auf solche Themen stützt, die schon woanders als Nachricht veröffentlicht worden sind. In der Nachrichtenwertforschung wird dieser Selektionsprozess sogar als eigener Nachrichtenfaktor betrachtet, nämlich der der Kontinuität (Schulz 2009: 391; vgl. Mast 2018: 80f.).

Das Garbage Can Model (Mülleimer-Modell) könnte eine weitere Möglichkeit darstellen, um journalistische Auswahlverfahren zu erklären. In ihrem Aufsatz über das Mülleimer-Modell der Organisationstheorie beschreiben Cohen, March und Olsen eine Organisationsform, die sie als »organisierte Anarchie« bezeichnen (Cohen et al. 1972). Wer einmal selbst in einer journalistischen Redaktion gearbeitet hat, wird spontan Sympathie für einen solchen Ansatz in der Journalistik empfinden – auch wenn die Autoren selbst die Universität als beispielhafte anarchische Organisation angenommen haben (wofür es auch gute Gründe gibt). Rationale Entscheidungsfindungsmodelle kranken häufig daran, dass sie von eindeutigen Strukturen und rational handelnden Akteuren ausgehen. Nach Ansicht von Cohen et al. werden solche Modelle indes einer komplexen, ambivalenten und sich ständig ändernden Welt nicht gerecht. Die Autoren gehen davon aus, dass die Basis von Organisationsentscheidungen in Institutionen von organisierter Anarchie vier voneinander unabhängige dynamische Ströme sind, die wie in einem »Mülleimer« ständig durcheinandergeworfen werden, nämlich a) Probleme, b) Lösungen, c) Teilnehmer_innen und d) Entscheidungsgelegenheiten. Ein rationales Entscheidungsverhalten wird dadurch desavouiert, dass es von diversen Unsicherheiten geprägt ist. Dazu zählen problematische Präferenzen, unklare Technologien und fluide Teilnahme (vgl. hierzu ausführlicher Haarkötter/Kalmuk 2022).

Es ist zeit- und kontextsensitiv, welche Entscheidungen überhaupt getroffen werden. Das heißt, es hängt nach diesem Modell sehr häufig davon ab, in welcher zeitlichen Reihenfolge Entscheidungselemente (zum Beispiel Themenvorschläge in Redaktionen) in den »Mülleimer« geworfen werden. Auch die häufig von Zufallskonstellationen definierten situativen Rahmenbedingungen prägen das Auswahlverhalten. Dass es bei solchen Entscheidungsverfahren zu echten Problemlösungen kommt (»decision by resolution«), ist nicht völlig ausgeschlossen, aber doch eher selten. Wahrscheinlicher ist die Entscheidung durch Übersehen (»decision by oversight«), die einfach wesentliche Aspekte aktivierter Probleme außer Acht lässt oder zentrale Probleme sogar vollständig übersieht. Bei der Entscheidung durch Flucht (»decision by flight«) wandern gar nach über längerer Zeit erfolglosen Problemlösungsversuchen die Probleme in andere Entscheidungskontexte ab, während die Organisation zur scheinbar einfacheren Alternativenwahl in den ursprünglichen Entscheidungskontext zurückkehren kann (Scherm/Pietsch 2007: 32). Cohen et al. fassen diese anarchischen Prozesse wie folgt zusammen:

»Although decision making is thought of as a process for solving problems, that is often not what happens. Problems are worked upon in the context of some choice, but choices are made only when the shifting combinations of problems, solutions, and decision makers happen to make action possible« (Cohen et al. 1972: 16).

News find me? Rolle des Publikums und News Ignorance

Das Publikum ist in diesem »news game« beileibe nicht nur das Opfer, das der negativen Informationspolitik der Medienunternehmen ausgeliefert, den ignoranten Routinen der Redaktionen preisgegeben und schutzlos gegen die Einflussnahme diverser gesellschaftlicher Interessengruppen ist. Ein etwas tieferer Blick in die Medienrezeptionsforschung zeigt, dass auch die Rezipient_innen eine aktive Rolle bei dem spielen können, was hier als Agenda Cutting identifiziert wurde. Es wird im Zusammenhang mit der Agenda Setting-Forschung zu selten darauf hingewiesen, dass die Rezipient_innen ja ihrerseits eine ganz eigene Form der, auch negativen oder subtraktiven, Nachrichtenselektion betreiben und damit selbst Gestalter_innen ihrer persönlichen Agenda sind. Und dies sind Vorgänge, die im Digitalzeitalter sich womöglich sogar noch verstärkt haben.

Die durchschnittliche Dauer des Fernsehkonsums in Deutschland oder die Zugriffszahlen auf journalistisch-redaktionelle Angebote im Internet erwecken vorderhand den Eindruck, als seien Otto und Ottilie Normalmedienverbraucher_in tatsächlich medial nicht nur vollversorgt, sondern sogar überversorgt.

Doch diese Zahlen trügen, besonders was die Internetnutzung angeht: Denn unter den Top Ten der meistgenutzten journalistischen Internetangebote rangieren nur drei Websites, die man zum »Qualitätsjournalismus« rechnen könnte und die entsprechend mit valider journalistischer Information aufwarten können. Die Userzahlen dieser Qualitätsangebote sind zwar auf den ersten Blick im Vergleich zur traditionellen Mediennutzung (also etwa der verkauften Auflage oder den Einschaltquoten linearer Fernsehprogramme) exorbitant hoch, allerdings um den Preis extrem geringer Nutzungsdauer. Das Angebot tagesschau.de kommt auf Basis der sehr hochwertigen Datenbasis des Crossmedia Link Panels der Gesellschaft für Konsumforschung (GfK) auf eine durchschnittliche Nutzungszeit von 20 Minuten, spiegel.de verzeichnet eine Verweildauer von 18 Minuten und sueddeutsche.de eine von neun Minuten – und zwar im Monat! Keines dieser drei Qualitätsangebote erreicht beim durchschnittlichen User auch nur eine Nutzungsdauer von einer Minute pro Tag (Andree/Thomsen 2020: 94ff.).

Gerade die mobile Internet-Nutzung hat Studien zufolge die Zugriffszeiten auf Nachrichtenangebote noch weiter verkürzt. Es wird bereits vom »News Snacking« gesprochen: Nachrichten werden nicht mehr bewusst rezipiert, sondern nur noch nebenbei wie Kartoffelchips konsumiert, etwa als Zeitvertreib bei Bahnfahrten oder in Warteschlangen (Costera Meijer/Groot Kormelink 2015: 6; Eimeren 2015: 3). Eine andere Untersuchung hat gezeigt, dass diese Art der Nachrichtennutzung Auswirkungen darauf hat, wie Menschen sich in politische Prozesse einbringen: Politische Partizipation ist wahrscheinlicher, wenn Informationen aktiv gesucht und Nachrichten über unterschiedliche Kanäle rezipiert werden (Diehl et al. 2019; Gleich 2020: 33). Eine wachsende Zahl von Mediennutzer_innen geht gar nicht mehr bewusst auf journalistische Webseiten und sucht auch nicht aktiv nach Nachrichten im Netz, sondern lebt seinen digitalen Lifestyle in dem trügerischen Bewusstsein, dass sie relevante Nachrichten über kurz oder lang auf den diversen Social Media-Kanälen automatisch zu Gesicht bekämen. »News find me« wird diese Haltung genannt, die besonders unter jüngeren Mediennutzer_innen verbreitet ist. Gerade diese Haltung allerdings geht mit weniger ausgeprägtem politischem Interesse oder Wissen einher – oder sorgt gerade für diesen negativen Effekt (Gil de Zúñiga/Weeks 2017).

Es mag gute Gründe geben, den Medien- und Nachrichtenkonsum einzuschränken. Allerdings stehen solchen Gründen für ein rezeptives Nicht-Handeln medienethische Obligationen gegenüber, die alle Mediennutzer_innen als Staatsbürger_innen eines demokratischen Gemeinwesens darauf verpflichten, sich ein Minimum an Information über die gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Vorgänge anzueignen. Und diese Aneignung erfolgt in der Mediengesellschaft klassischerweise und unumgänglich primär über Medien. Andree und Thomsen fragen: »Implodiert der Journalismus durch die winzigen digitalen Aufmerksamkeitsspannen?« (Andree/Thomsen 2020: 98). Man kann dies auch als »Agenda Cutting von unten« bezeichnen.

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Hektor Haarkötter, Prof. Dr., lehrt Kommunikationswissenschaft mit Schwerpunkt Politische Kommunikation an der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg in Sankt Augustin. Er forscht zu Onlinekommunikation, aktueller Desinformation und Fake News, Medienethik und Erzähltheorie. Er fungiert außerdem als geschäftsführender Vorsitzender der Initiative Nachrichtenaufklärung (INA) e.V., die jedes Jahr die Top Ten der Vergessenen Nachrichten veröffentlicht. Zuletzt ist von ihm eine große Studie zur Theorie und Geschichte des Notizzettels erschienen (Notizzettel. Denken und Schreiben im 21. Jahrhundert. Frankfurt/M. S. Fischer Wissenschaft). Kontakt: hektor.haarkoetter@h-brs.de

Die englische Version dieses Beitrags wurde übersetzt von Kerstin Trimble.

Literatur

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Top Ten der Vergessenen Nachrichten 2022

Top-Thema 1: Die schleichende Abschaffung der Lernmittelfreiheit

Eigentlich sollen Lernmittel – also vor allem Schulbücher und Übungshefte – für alle Schulkinder in Deutschland kostenlos sein, denn Schulbildung darf nicht vom Geldbeutel abhängen. Doch in vier Bundesländern gibt es bereits gar keine Lernmittelfreiheit für Schulbücher etc. mehr, und der wirtschaftliche Druck auf die anderen Länder, diese Mittel einzuschränken, steigt. Das Thema geht alle Menschen in Deutschland mit schulpflichtigen Kindern an. Dennoch wird darüber in den großen Medien viel zu wenig berichtet.

Top-Thema 2: Lücke im deutschen Gesundheitssystem: Unzählige Menschen nicht krankenversichert

Der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen zufolge hat jeder Mensch das Recht auf einen Lebensstandard, der Gesundheit und Wohlergehen gewährleistet. Und trotzdem fallen in Deutschland rund 61 000 Menschen durch das soziale Netz unserer Solidargemeinschaft. Bürokratische Hürden und Gesetzeslagen verhindern oftmals eine Versicherung bestimmter Personengruppen. Als ehemalig selbstständige oder privatversicherte Person, kann es zum Abrutschen in den Unversicherten-Status kommen.

Viele Betroffene wissen dabei nicht um ihre Möglichkeiten der medizinischen Versorgung und sogar bei den Leistungserbringern herrscht zum Teil Unkenntnis. Auch Reformen, wie die Möglichkeit der Versicherung innerhalb des Notlagentarifs, beziehen irreguläre Migrant*innen oder weitere Personen, die nicht in Melderegistern eingetragen sind, nicht ein. Das Ausmaß dieser Lücke im Versicherungssystem ist vielen Menschen nicht bewusst, auch aufgrund mangelnder Berichterstattung. Diesem wichtigen Thema muss zunehmend Aufmerksamkeit zuteilwerden, sowohl medial als auch gesamtgesellschaftlich.

Top-Thema 3: Pflegende Kinder und Jugendliche

In Deutschland sind etwa 480.000 Kinder und Jugendliche regelmäßig an der Pflege ihrer Angehörigen beteiligt. Obwohl sie damit einen enormen Dienst für die Gesellschaft leisten, spielen junge Pflegende kaum eine Rolle in der öffentlichen Diskussion. Nach großer, aber nur zeitweiliger Medienaufmerksamkeit in den Jahren 2018 und 2019 sind weitreichende Veränderungen in Bezug auf altersgerechte Hilfestellungen ausgeblieben. Stattdessen sind pflegende Kinder und Jugendliche wieder weitestgehend von der Medien-Agenda verschwunden. Die fehlende Thematisierung dieser besonderen Pflegenden birgt allerdings das Risiko eines Zusammenbruchs des deutschen Pflegesystems, das gesamtgesellschaftlich nicht zu unterschätzen ist. Darüber hinaus wird übersehen, dass die Kinder und Jugendliche keine Lobby besitzen, die ihre Interessen vertreten und für eine Verbesserung ihrer schwierigen Situation eintreten, da die Pflege erhebliche Ressourcen bindet. Dies ist erforderlich, um Überforderungen der Minderjährigen zu vermeiden, die neben der allgemeinen psychischen und physischen Belastung auch eine Einschränkung der Arbeits- und Freizeitoptionen bedeuten können.

Top-Thema 4: Palliativversorgung für Wohnungslose

Quälerisch und unbemerkt, so lässt sich der Tod vieler der 417.000 Wohnungslosen in Deutschland beschreiben. Nun folgt nach dem Kampf um das Überleben auf der Straße der Kampf um einen würdevollen und schmerzfreien Tod. Dabei können Hospize helfen, welche eine Palliativversorgung gewährleisten.

Jedoch kann keine Aufnahme in ein Hospiz ohne Diagnose erfolgen, die jedoch oftmals nicht vorliegt, da sich Wohnungslose aus psychosozialen Motiven oder Angst heraus nicht ärztlich behandeln lassen. Die größte Hürde stellt jedoch die fehlende Krankenversicherung bei vielen Wohnungslosen dar, die die Übernahme der Kosten für eine Palliativversorgung nach dem Hospiz- und Palliativgesetz ausschließt. Denn die Kosten für die Behandlung können nach demnach lediglich bei Versicherten übernommen werden.

Während die Berichterstattung zu diesem relevanten Thema fast ausschließlich durch Hospize, wohltätige Vereine sowie Lokal- und Fachzeitungen erfolgt, ist das Schicksal der Wohnungslosen auf der Agenda großer Medienhäuser kaum nachzulesen.

Top-Thema 5: Keine Macht den Räten? Betriebsrätemodernisierungsgesetz fast unbekannt

In Deutschland arbeiten weniger als die Hälfte der Beschäftigten in einem Betrieb mit Betriebsrat – Tendenz sinkend. Die Änderungen durch das Betriebsrätestärkungsgesetz sollte die längst überfällige Reform des Betriebsverfassungsgesetzes werden und die Gründung sowie die betriebliche Mitbestimmung in der sich verändernden Arbeitswelt stärken. Aber nicht nur der Name, auch der Inhalt wurde wesentlich eingeschränkt. Am 18.06.2021 trat das Betriebsrätemodernisierungsgesetz in Kraft und stellt im Kontrast zum vorangegangenen Referentenentwurf insgesamt nur eine geringere Weiterentwicklung des Betriebsverfassungsgesetzes dar. Trotz der Wichtigkeit für die Beschäftigten in ganz Deutschland wurde das Thema nur in Fachkreisen erörtert und kommuniziert.

Top-Thema 6: Nachhaltige Autobahn aus Asche

Seit über 2.000 Jahren nutzen Menschen Zement als Baustoff für Gebäude und Straßen. Die Herstellung ist jedoch durch den hohen Ausstoß von CO2 enorm klimaschädlich. In mehreren europäischen Ländern wird derzeit eine Alternative getestet: Im Autobahnbau wird der Zement dabei durch Flugasche ersetzt. Zwar ist das Thema Klimaschutz in der Öffentlichkeit allgegenwärtig. Konkrete Berichte über solche Pilotprojekte gibt es jedoch in vielen Medien noch zu wenig. Eine vielfältigere Berichterstattung und mehr Positivbeispiele könnten dazu beitragen, die Klimakrise nicht als abstraktes Schicksal wahrzunehmen.

Top-Thema 7: Sexismus in politischen Parteien

Vier von zehn Politikerinnen haben im politischen Arbeitsalltag schon Sexismus und Belästigungen erlebt, zeigt eine Studie der europäischen Akademie für Frauen in Politik und Wirtschaft (EAF). Die Studie zeigt auch: Wenn Frauen sich in kleinen, ländlichen Gemeinden politisch engagieren möchten, müssen sie mit erschwerten Bedingungen rechnen. Dabei wünscht sich die Mehrheit der Deutschen mehr Frauen in verantwortungsvollen Positionen, wie eben in politischen Ämtern. Um das zu erreichen, versuchen viele Parteien mit einer selbst auferlegten Quote den Frauenanteil zu erhöhen, um in den Parlamenten für eine Ausgewogenheit der Geschlechter zu sorgen. Die Herausforderungen der Parteien auf Bundes- und Landesebene, Parität zu erreichen, zeigen sich auf Kommunalebene noch viel deutlicher. Sexismus, intransparente Nominierungsprozesse und sogenanntes Platzhirschgehabe sorgen dafür, dass Frauen gar keinen Zugang zu politischem Engagement bekommen und dass Männer bei den Mandaten und leitenden kommunalen Aufgaben überrepräsentiert sind.

Auch wenn das Thema Sexismus in verschiedenen Kontexten medial thematisiert wurde, ist die Berichterstattung über Sexismus in Parteien mit Fokus auf die Ortsverbände bislang weitgehend unbeachtet geblieben.

Top-Thema 8: Das Aussterben der Schmetterlinge

Bereits ein Drittel aller Schmetterlingsarten sind von unserem Planeten verschwunden. Gründe hierfür sind der fehlende Lebensraum, der Mangel an Futterpflanzen, der Einsatz von Pestiziden in der Landwirtschaft und schließlich der Klimawandel. Schmetterlinge erfüllen jedoch – so ähnlich wie Bienen und andere Insekten – eine elementare Rolle für das Ökosystem: Sie tragen zur Bestäubung von Pflanzen bei und schaffen damit eine wesentliche Basis für die Nahrungsmittelproduktion; sie und vor allem ihre Raupen dienen als Nahrungsquelle für viele andere Tiere; schließlich stellt ihre Präsenz einen sichtbaren Bioindikator für den Zustand von Naturräumen dar und bildet damit ein wichtiges »Frühwarnsystem« für deren Gefährdung. Der Artenschwund von Schmetterlingen ist nicht nur als solcher bedauerlich, sondern er hat gravierende Auswirkungen auf das ökologische Gleichgewicht. Auch wenn der Rückgang von Insekten wiederholt medial thematisiert wurde, ist das Aussterben der Schmetterlinge bislang weitgehend unbeachtet geblieben.

Top-Thema 9: Nachhaltige Bauinnovation durch »Lego«–Konstruktion und Baumaterial aus verwertetem Kunststoff und Reststoffen

Wohnungsnot, Erdbeben, Flutkatastrophen, Kriege, … es gibt vielfältige Szenarien, welche einen schnellen und nach Möglichkeit nachhaltigen Wiederaufbau erfordern. Im ökologischen Fokus steht hierbei nicht nur die Gewinnung von Baustoffen, sondern auch deren Wieder- bzw. schnelle Weiterverwertung.

Die australische Nichtregierungsorganisation »Classroom of Hope« hat in Zusammenarbeit mit dem finnischen Start-Up »Block Solutions« eine nachhaltige, ressourcenschonende und bautechnisch unkomplizierte Alternative zu Ziegelsteinen entwickelt. Dieser »Eco-Block«, einem überdimensionierten Lego-Stein nicht unähnlich, besteht zur Hälfte aus recyceltem Plastik und zu 50 % aus Fasern, zum Beispiel aus abgenutzter Kleidung, Fasern aus der Forstwirtschaft, Resten von Zellstoff oder Sägemehl.

Die »Lego-Konstruktion« erlaubt es auch bautechnisch unausgebildeten Helfer*innen, sehr schnell bauliche Erfolge zu erzielen. Besteht dennoch Umbau- oder gar erneuter Aufbaubedarf, so können die »Eco-Blocks« in der Regel rasch erneut verbaut werden. Erste Projekte im (warmen) Indonesien nach der Erdbebenkatastrophe 2018 und im (kalten) Finnland verlaufen erfolgversprechend.

Top-Thema 10: Psychischer Missbrauch im Tanzsport

Tänzerinnen und Tänzer sind im Gegensatz zu den Teilnehmenden anderer Sportarten weitaus häufiger von Essstörungen, ungesundem Leistungsdruck, Bodyshaming und sexuellen Übergriffen betroffen. Die Bereitschaft im Breiten- und Freizeitbereich des Tanz- und Ballettsports, den Missbrauch anzuzeigen und sich psychologische Hilfe zu suchen, ist jedoch in dieser Branche aufgrund des autoritären Unterrichtsstils sehr gering. Dieser vermittelt, dass alles, was von der Perfektion abweicht, Schwächen sind. Es handelt sich hierbei um ein systematisches Problem, das immer noch von vielen Lehrenden gefördert wird. Tanz- und Ballettsport wird von vielen Kindern und Jugendlichen betrieben; in einer, gerade für Mädchen, oftmals schwierigen Lebensphase. Während Missbrauch im Profisport sowie in zahlreichen Amateur-Disziplinen aufgedeckt, diskutiert und zu Teilen vor Gericht gebracht wird, vernachlässigt die Berichterstattung die aktuellen Zustände im Tanz- und Ballettsport und deren Gründe.

Quelle: Der blinde Fleck. Initiative Nachrichtenaufklärung. Online unter: http://www.derblindefleck.de/top-ten-der-vergessenen-nachrichten-2022-2/

Fussnote

1 Dieser Aufsatz resümiert die wichtigsten Positionen und Ergebnisse eines Sammelbandes, der im Laufe des Jahres in der neuen Schriftenreihe der Initiative Nachrichtenaufklärung (INA) e.V. (Medien – Aufklärung – Kritik. Wiesbaden: Springer VS) erscheinen wird (Haarkötter/Nieland 2022).


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Zitationsvorschlag

Hektor Haarkötter: Ausrangierte Nachrichten. Über Nachrichtenvernachlässigung, Agenda Cutting und News Ignorance. In: Journalistik. Zeitschrift für Journalismusforschung, 2, 2022, 5. Jg., S. 123-145. DOI: 10.1453/2569-152X-22022-12277-de

ISSN

2569-152X

DOI

https://doi.org/10.1453/2569-152X-22022-12277-de

Erste Online-Veröffentlichung

Juli 2022