Die Matrix der Mediasierung Journalismus in einem neuen medialen Ökosystem

Von Thomas Birkner | Die Wechselbeziehungen und Interaktionen zwischen Politik und Medien werden in der Kommunikationswissenschaft breit diskutiert, und Medialisierung und Mediatisierung sind dabei zu beliebten und fruchtbaren Konzepten für die empirische Forschung geworden – in der Journalistik allerdings kaum. Der vorliegende konzeptionelle und theoriegeleitete Beitrag geht jedoch von der These aus, dass die Herausforderungen, denen sich der Journalismus heute gegenübersieht, mit Prozessen zusammenhängen, die wir in der Kommunikationswissenschaft mit den Konzepten Medialisierung und Mediatisierung erforschen. Hier werden diese Konzepte in die Journalismusforschung integriert. Dabei wird die Argumentation in vier aufeinander aufbauenden Schritten dargelegt. Erstens wird Journalismus in seinem interaktiven Medienökosystem verortet. Zweitens werden die beiden unterschiedlichen Traditionen von Medialisierung und Mediatisierung differenziert. In einem dritten Schritt werden Medialisierung und Mediatisierung jeweils erweitert und in einer Matrix zusammengeführt. Im abschließenden vierten Schritt wird bereits existierende empirische Journalismusforschung innerhalb dieser Matrix angeordnet, wobei wir uns auf die Wechselbeziehungen und Interaktionen zwischen mediatisiertem Journalismus und den medialisierten sozialen Systemen Politik, Wissenschaft und Sport konzentrieren. Schließlich werden neue Forschungsperspektiven eröffnet.

Gewalt gegen Frauen – Eine konstruktive Annäherung Wie durch Konstruktiven Journalismus eine verantwortungsvolle Berichterstattung über Gewalt gegen Frauen erreicht werden kann

Von Christina Fleischanderl | Die Daten der 2022 veröffentlichten polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) in Deutschland sind eindeutig: Sogenannte Partnerschaftsgewalt hat zugenommen, von wem sie ausgeht und wen sie trifft, ist klar. Bei 80,3% der Delikte wurde Frauen in verschiedenster Weise Gewalt angetan (vgl. BKA 2022: 33). Wie jedoch über diese Gewalt gegen Frauen berichten? Erhoben wird durch die Analyse überregional verbreiteter deutscher und österreichischer Zeitungen der Status quo der Berichterstattung über Gewalt gegen Frauen. Expert*inneninterviews geben Aufschluss über Defizite und Verbesserungsmöglichkeiten. Ausgehend vom Konzept des Konstruktiven Journalismus und einer Frame-Analyse ausgewählter Artikel werden Empfehlungen erarbeitet für eine ganzheitliche Berichterstattung über Gewalt gegen Frauen – ob in Breaking News oder in der Hintergrundberichterstattung.

Streitbar und umstritten Erinnerung an Karl Kraus

Von Walter Hömberg | Anfang April 1899 erschien in Wien eine neue Zeitschrift. Das feuerrote Titelblatt zeigt vor der Silhouette der Stadt eine riesengroße Fackel. Im Einleitungsbeitrag unterstreicht der Herausgeber die kämpferische Ansicht: »Das politische Programm dieser Zeitung scheint somit dürftig; kein tönendes ›Was wir bringen‹, aber ein ehrliches ›Was wir umbringen‹ hat sie sich als Leitwort gewählt.« Als Herausgeber der Fackel ist Karl Kraus Kennern der Pressegeschichte noch heute ein Begriff. Die einen verehren ihn als größten Satiriker des 20. Jahrhunderts, als brillanten Zeitdiagnostiker, sensiblen Lyriker und hellsichtigen Theaterautor. Für andere ist er ein gnadenloser Polemiker, ein unbarmherziger Spötter, ein heilloser Egozentriker, Besserwisser und Rechthaber, ein Querulant und Nestbeschmutzer. Der Wiener Literat Hans Weigel urteilt: »Seine Kritik war sakrosankt – Kritik an ihm war Majestätsbeleidigung.«

Der Weg zur Versöhnung Wie Leser:innen auf die Entschuldigungen von sieben Zeitungen für ihre rassistische Berichterstattung reagieren

Von Anna E. Lindner, Michael Fuhlhage, Keena Shante Neal und Kirby Phillips | Im Zuge der »Abrechnung mit dem Rassismus« im Jahr 2020 entschuldigten sich viele Institutionen für ihre Mitschuld am systemischen Rassismus. Die Nachrichtenbranche bildete da keine Ausnahme. Dieser Beitrag untersucht die Entschuldigungen der Zeitung Montgomery Advertiser, die sich bereits zwei Jahre vor dem Jahr der »Abrechnung« entschuldigte, sowie die sechs weiterer Blätter, die zwischen 2020 und heute Entschuldigungen veröffentlichten: Los Angeles Times; Kansas City Star; Baltimore Sun; Philadelphia Inquirer; Seattle Times; and Oregonian. Die vorliegende Studie untersucht die Entschuldigungen dieser Publikationen für ihre rassistische und andere problematische Berichterstattung unter dem Blickwinkel der christlichen Grundsätze der Versöhnung. Deren Ziel ist, vergangenes Unrecht auf den Tisch zu bringen und die Beziehungen zwischen Tätern und Geschädigten wiederherzustellen. Darüber hinaus untersuchen wir, wie die Öffentlichkeit auf diese Erklärungen und Entschuldigungen reagiert hat. Der Schwerpunkt liegt dabei auf Meinungsäußerungen in öffentlichen Foren, insbesondere von People of Color jener Gemeinschaften, die durch diese Medien geschädigt wurden; von Journalist:innen, die selbst Minderheiten angehören, Redaktionsmitgliedern und anderen an der Berichterstattung Beteiligten sowie von prominenten Vordenker:innen zum Thema Rassismus. Die Analyse der breitgefächerten Reaktionen auf die Entschuldigungen zeigt, welches Meinungsbild in den durch Rassismus geschädigten Gemeinschaften vorherrscht und welche künftigen Schritte hin zu einer gerechteren und faireren Berichterstattung möglich sind.

Gehaltlose Kritik Wie Journalismus Überwachungstechnologien fördert

Von Robert W. McMahon | Konsumgüter mit Überwachungsfunktionen verbreiten sich immer mehr, während zugleich der Journalismus unter stetig stärker werdenden wirtschaftlichen Druck gerät. Daraus ist ein fruchtbarer Boden entstanden, in dem Überwachungskapitalismus gedeiht und Journalismus zu seinem Erfüllungsgehilfen wird. Wie die Untersuchung eines Korpus mit journalistischen Texten nahelegt, lässt sich diese Komplizenschaft an einem Berichterstattungsstil erkennen, den wir hier als »gehaltlose Kritik« konzipieren.

Frauen an Fakultäten für Journalismus und Massenkommunikation Wie ergeht es Nachwuchswissenschaftlerinnen in der akademischen Welt der USA?

Von Lillian Lodge Kopenhaver, Dorothy Bland und Lillian Abreu | Frauen machen mehr als die Hälfte der US-Bevölkerung aus und stellen heute zwei Drittel der Absolvent*innen von kommunikationswissenschaftlichen Fakultäten an Hochschulen (York 2017). Dennoch sind sie oft nicht in gleichem Maße in Lehr- und Führungspositionen an US-Hochschulen vertreten. Das »Lillian Lodge Kopenhaver Center for the Advancement of Women in Communication« an der Florida International University untersuchte 2019 in seiner ersten nationalen Studie über Teilnehmerinnen des Programms »Women Faculty Moving Forward« (WFMF), wie effektiv dieses Programm die Karrieren von Frauen an Fakultäten für Journalismus und Massenkommunikation an Hochschulen unterstützt. Ziel war, Geschlechterungleichheiten und Karrierehindernisse in diesem Bereich aufzuzeigen. Die Befragten schätzten zwar das Mentoring-Programm, nannten aber als ihre Hauptanliegen Problembereiche wie Vereinbarkeit von Beruf, Familie und Privatleben, mehr Zeit für Forschung, mehr Mentoring-Möglichkeiten und mehr Transparenz und Gerechtigkeit in Bezug auf Gehälter.

Wie blicken Journalistinnen und Journalisten auf die Welt? Eine vergleichende empirische Analyse von Persönlichkeitsmerkmalen und politischen Einstellungen auf Basis des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP)

Von Katja Schmidt, Tanjev Schultz und Gert G. Wagner | Wie sehr unterscheiden sich Journalistinnen und Journalisten von der Bevölkerung, über die sie berichten? Welche Einstellungen und politischen Meinungen herrschen in der Berufsgruppe vor, welche Persönlichkeitsmerkmale, wie z. B. Risikofreude, weisen sie auf? Diese Fragen untersuchen wir für Deutschland auf Basis von Daten des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP). Wir nutzen diese große repräsentative Stichprobe, um die darin enthaltenen Journalistinnen und Journalisten anhand ihrer Tätigkeitsangaben zu identifizieren (unter Wahrung der Anonymität). Multivariate Analysen ermöglichen einen Vergleich mit der erwachsenen Gesamtbevölkerung, den Wahlberechtigten und der Gruppe der intensiv politisch Engagierten. Die Ergebnisse bestätigen frühere Studien, wonach Journalistinnen und Journalisten kein Spiegelbild der Bevölkerung sind. Ihre Biografien und Einstellungen entsprechen nur bedingt der Vielfalt der Gesellschaft. Zwar ist der Anteil an Journalistinnen und Journalisten mit Migrationsgeschichte inzwischen ähnlich hoch wie in der Gesamtbevölkerung, doch handelt es sich bei den Herkunftsländern überwiegend um europäische Staaten. Zudem entstammt die Berufsgruppe überdurchschnittlich häufig einem akademischen Milieu, neigt politisch leicht nach links und häufiger zu den Grünen. Journalistinnen und Journalisten halten sich für kreativer, wissbegieriger und fantasievoller als die Vergleichsgruppen; sie sind nach eigenen Angaben risikofreudiger und haben ein überdurchschnittlich hohes Vertrauen in andere Menschen.

Generative visuelle KI in Redaktionen Überlegungen zu Produktion, Präsentation, Auslegung durch das Publikum und Auswirkung auf das Publikum

Von T. J. Thomson und Ryan J. Thomas | KI-Dienste, die Antworten auf Anfragen bereitstellen, wie ChatGPT, haben leidenschaftliche Diskussionen über die Zukunft des Lernens, der Arbeit und der Kreativität entfacht. KI-gesteuerte Text-zu-Bild-Generatoren, wie Midjourney, werfen tiefgreifende Fragen nach dem Zweck, der Bedeutung und dem Wert von Bildern auf, haben jedoch trotz der aufgeworfenen Implikationen für die Produktion und den Konsum von Bildern wesentlich weniger Forschungsaufmerksamkeit erhalten. In diesem Essay werden grundlegende Überlegungen angestellt, die Journalist*innen und Nachrichtenmedien im Auge behalten sollten, wenn sie die Konzeption, Beschaffung, Präsentation oder Überprüfung von KI-generierten Bildern in Betracht ziehen. Insbesondere werden in diesem Essay die Transparenz bezüglich der Auswirkung von Algorithmen sowie Herkunft, algorithmische Vorurteile, Arbeitsethik und die Verdrängung von herkömmlichen Bildjournalist*innen diskutiert. Weiterhin werden in diesem Essay potenzielle Auswirkungen auf Präzision und Repräsentativität von Bildern angesprochen, die das Publikum in Nachrichten sieht, während auch der Mangel entsprechender Vorschriften und Initiativen zur Entwicklung von Richtlinien zur Nutzung von KI-generierten Bildern in Nachrichten bedacht wird. Die Autoren haben dazu acht Bildredakteur*innen bzw. Journalist*innen in entsprechenden Positionen in leitenden Nachrichtenorganisationen in Australien und den USA befragt. Insgesamt arbeitet dieser Essay Schlüsselfragen heraus, die Journalist*innen und ihre Nachrichtenorganisationen im Zeitalter von KI und synthetischen, visuellen Medien in Angriff nehmen müssen.

Trennung von Anzeigengeschäft und Journalismus Wie aktuell ist Karl Büchers Konzept für eine Pressereform von 1919?

Von Horst Pöttker | Der Beitrag soll für Grundprobleme der journalistischen Qualitätssicherung sensibilisieren, indem er Karl Büchers weitgehend vergessenes Reformkonzept von 1919 vor dem Hintergrund der aktuellen Medienentwicklung heute auf seine gesellschaftspolitische Sinnhaftigkeit, seine Vor- und Nachteile im Vergleich zu anderen, großenteils von Bücher damals bereits erwähnten Konzepten der journalistischen Qualitätssicherung, seine Anwendbarkeit auf verschiedene Medien sowie auf seine politische, rechtliche und ökonomische Durchsetzbarkeit hin analysiert. Am meisten Durchsetzungschancen, so die These, hat die Ausweitung des öffentlich-rechtlichen Organisationsprinzips vom Rundfunk auch auf andere Medienbereiche.

Echt jetzt?! Sophie Scholl auf Instagram Eine Analyse des journalistischen Diskurses

Von Martina Thiele und Tanja Thomas | Knapp achtzig Jahre nach ihrer Hinrichtung lässt das Projekt @ichbinsophiescholl die Widerstandskämpferin Sophie Scholl (1921-1943) medial auferstehen: Eine fiktionalisierte Version von Sophie Scholl, verkörpert von der Schauspielerin Luna Wedler, lässt im Jahr 2021 ihre Follower:innen auf ihrem Instagram-Account @ichbinsophiescholl ›live‹ an den letzten Monaten vor ihrer Verhaftung und Ermordung teilhaben. Nahezu alle deutschen Medien berichten über das gemeinsame Projekt von Südwestrundfunk und Bayerischen Rundfunk. @ichbinsophiescholl ist exemplarisch für einen sich verändernden Umgang mit Geschichte und für neue Formen der Vergegenwärtigung von Vergangenheit in digitalen Medienkulturen. Die Analyse rekonstruiert diskursive Muster, Diskursstränge und Diskurspositionen in der Berichterstattung über das Projekt vom 1. Mai 2021 bis 30. Juli 2022 und diskutiert, inwieweit ›der‹ Journalismus seiner öffentlichen Aufgabe und den verschiedenen ihm zugewiesenen Funktionen gerecht geworden ist.