Wie das Internet in Russland unschädlich gemacht wird Chronik der staatlichen »Versicherheitlichungs«-Maßnahmen

Von Yulia Belinskaya

Abstract: Als kommunikativer Raum wird die russische Öffentlichkeit in dramatischer Weise bedrängt und leidet unter pathologischen Bestrebungen, sie systematisch auszuschalten. Der Artikel blickt zurück auf die Geschichte der jüngeren restriktiven Mediengesetze und ihr Framing in den Staatsmedien. Die Analyse zeigt, wie, mit welchen Instrumenten und durch welche Bedingungen der Staat die »Versicherheitlichung« der Öffentlichkeit ermöglicht und legitimiert. Es soll die Frage beantwortet werden, ob es noch einen Raum gibt, in dem dissidente Stimmen gehört werden können und in dem digitaler Aktivismus und Widerstand möglich sind, oder ob das russische Mediensystem eine Sphäre ständiger Manipulation, Zensur und Einschränkung ist.

Einführung

Am 24. Februar 2022 wurde die Welt von der Nachricht über den russischen Einmarsch in die Ukraine geweckt. Der Präsident der Russischen Föderation, Wladimir Putin, wandte sich an die Nation und kündigte seine Entscheidung an, eine »spezielle Militäroperation« zu starten, um »die Menschen zu schützen, die in den letzten acht Jahren vom Kiewer Regime gedemütigt und ermordet wurden« (Ria Novosti 2022). Zehn Monate später darf der Krieg in den Medien immer noch nicht als »Krieg« bezeichnet werden und die Zensur wird durch noch strengere Mediengesetze als bisher abgesichert. Unabhängige Medien, die bis dahin dem ständig zunehmenden Regulierungsdruck standgehalten hatten, mussten ihre Dienste einstellen, ihre Büros schließen und ihre Mitarbeiter verlegen.

Gleich in den ersten Sätzen seiner Rede malte Putin Sicherheitsbedrohungen für die Russische Föderation aus, die durch die NATO-Erweiterungen entstanden seien. Er sprach auch von einer Fähigkeit Russlands, den Terrorismus zu bekämpfen und Nachbarländer zu schützen. Außerdem appellierte er an die traditionellen Werte, die »anerkannten Normen der Moral und Ethik«, und an die Wahrheit im Gegensatz zu Lüge und Heuchelei sowie an Bemühungen, den Konflikt mit friedlichen diplomatischen Mitteln im Gegensatz zur »Kriegsmaschinerie des Westens« zu lösen. Russland wurde dabei klar dem »kollektiven Westen« und den USA gegenübergestellt, die von ihm als »Lügenimperium« bezeichnet wurden.

Das war allerdings keine neue Entwicklung, das antiwestliche oder antiamerikanische Framing ist keine Überraschung im von den Machthabern gelenkten politischen Diskurs in Russland. Wie von Zimmerman et al. (2020) beschrieben, ist das Publikum dort stark antiamerikanisch eingestellt und seit Anfang der 1990er-Jahre steigt diese Tendenz. Jüngste Umfragen (Levada 2022) bestätigen den Trend und lassen erkennen, dass der Antiamerikanismus im Januar 2015, nach der Annektion der Krim, seinen bisherigen Höhepunkt erreichte. Nach einer Periode gewisser Schwankungen stieg er 2022 wieder deutlich an.

Putins Rede gab eindeutig das vorherrschende Framing im russischen Mediendiskurs wieder. Der Krieg wird als »Sondereinsatz« bezeichnet, der den »historischen russischen« Gebieten, die »von der ukrainischen Regierung terrorisiert werden«, Frieden bringen solle. Die Militäraktion wird durch eine angenommene Bedrohung aus dem Westen legitimiert. So etwas wird von Buzan, Wæver und Wilde (1998) von der »Copenhagen School of Security Studies« als Versicherheitlichungideologie bezeichnet. Balzacq (2005) behauptet, dass die zentrale Rolle im Prozess der Versicherheitlichung dem Publikum zukomme und die Wirksamkeit dieser Art der Rechtfertigung zunächst akzeptiert werden müsse.

Warum hat das Publikum dann also die militärische Intervention akzeptiert? Der derzeitige Zustand der Medienumwelt gibt eine einfache Antwort. Die staatlichen Medien schaffen den von der Regierung gelenkten Diskurs. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts wurden die neuen Medien und der Online-Bereich als Auflösung der Einschränkungen von öffentlichen Diskursen durch Herrschaftssysteme angesehen. Die umfassende Entwicklung der Kommunikationstechnologie brachte alle verfügbaren Informationen auf den ständig mit dem Internet verbundenen mobilen Geräten in unsere Taschen. Aber auch die Zensurmaschinerien entwickelten sich weiter. Das Internet kann z. B. während einer Demonstration einfach abgeschaltet werden. Es gibt aber auch etliche andere innovative Praktiken, die von Regimen wie dem russischen angewendet werden.

Das russische Mediensystem durchlief mehrere Wellen zunehmender Einschränkungen der Meinungsfreiheit. Manche Autoren behaupten, dass es zwischen dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der Verstaatlichung des privaten Fernsehsenders NTV im Jahr 2001 nie ein »Jahrzehnt der Demokratie« gegeben habe (Regionen 2001).

Im Folgenden wird ein Rückblick geworfen auf die Geschichte der restriktiven Mediengesetze, deren Texte und ihre Umsetzung in den staatlichen Medien. Dabei wird versucht zu beantworten, ob es noch einen Raum gibt, in dem dissidente Stimmen gehört werden können und digitaler Aktivismus und Widerstand möglich sind, oder ob das russische Mediensystem nun nur noch ein Ort ständiger Manipulation, Zensur und Einschränkungen ist.

Versicherheitlichungstheorie

Der Begriff von Sicherheit, den Putin in seiner Rede verwendete, ist nicht objektiv, sondern wird durch soziale Praktiken konstruiert. Nach Buzan (1983) können Themen zu Sicherheitsthemen gemacht werden, wenn sie im öffentlichen Diskurs als »alarmierend«, »gefährlich« und »bedrohlich« dargestellt werden. Die Theorie solcher »Versicherheitlichung« macht deutlich, dass Sicherheitspolitik nicht einfach vom Staat an die Gesellschaft weitergegeben, sondern dass sie von Politikern und Entscheidungsträgern entworfen und sorgfältig vermittelt wird.

Das Objekt, auf das sich die Forderung nach Sicherheit bezieht, kann ein beliebiger Gegenstand oder sogar eine Idee sein, wenn sie als existenziell bedroht und schutzbedürftig dargestellt wird. In der klassischen Tradition der Sicherheitsideologien lag der Schwerpunkt auf dem Überleben des Staates, was üblicherweise militärische Interventionen und eine Logik des Krieges rechtfertigte (Williams 2003). Die Konstruktion unmittelbarer Gefahr kann aber auch mit nationaler Identität, gesellschaftlichen Belangen oder z. B. mit geographischen Gegebenheiten wie einem bestimmten See oder Wald verbunden sein. Die Themen, die versicherheitlicht werden, wie die »Flüchtlingskrise«, sind nicht von Natur aus bedrohlich, sondern werden rhetorisch so konstruiert, dass sie bedrohlich erscheinen (Buzan/Wæver/de Wilde 1998).

Um ein bestimmtes Thema als besonders bedrohlich erscheinen zu lassen und damit und über die übliche Politik hinauszugehen, bringen Machthaber, um gesellschaftliche und institutionelle Veränderungen herbeizuführen, deutlich zum Ausdruck, dass ihm hohe Priorität gegeben werden muss. Der Vorgang der Rahmung des Themas wird als Sprechakt bezeichnet. Akteure, die die Versicherheitlichung konstruieren, sind Gruppen oder Einzelpersonen, die den sicherheitspolitischen Sprechakt vollziehen, um den jeweiligen Gegenstand als sicherheitspolitisches Thema zu formulieren. Die Versicherheitlichungslandschaft wird von zahlreichen Akteuren gebildet, zu denen nicht nur Politiker, sondern auch Polizei, Militär oder Einwanderungsbehörden gehören können. Faktisch sind die Akte der Versicherheitlichung aber Vorgänge der diskursiven Legitimation von Regierungshandeln.

Der konzeptionelle Rahmen der Versicherheitlichung ist das »Othering«, der Prozess der Konstruktion, wer der »Andere«, der Gegensatz zu »uns« ist (Buzan/Waever 2003), und die Verdrängung des »Anderen« aus der Legalität. Die Versicherheitlichung einer konstruierten Gefahr führt unweigerlich zum Verschwinden der Gefahr aus dem normalen politischen Diskurs, was eine günstige Voraussetzung dafür ist, das Ergreifen außergewöhnlicher Maßnahmen durch angebliche Sicherheitsprobleme zu legitimieren.

Deibert (2008) unterstreicht die Bedeutung eines Mediums, das die Rezeption von Sprechakten grundlegend beeinflusst. Medien formen die kulturelle Landschaft und den Diskurs, auch wenn sie nicht notwendig an die Institutionen gebunden sind, die sich am Prozess der Versicherheitlichung beteiligen (Deibert 2008). Herkömmlich werden Medien als funktionale Akteure gesehen – sie wählen den Gegenstand der Versicherheitlichung nicht aus, haben aber einen erheblichen Einfluss auf deren Prozess (Balci/Kardas 2012).

Die Vesicherheitlichungstheorie nimmt an, dass das Publikum der medial konstruierten Bedrohung zustimmen und sie akzeptieren soll. Versicherheitlichung eines Themas erfordert daher, das Publikum mit den Mitteln des Sprechakts zu überzeugen. »Die Konzeptualisierung der Versicherheitlichung als Sprechakt ist wichtig, da sie zeigt, dass Worte nicht nur die Realität beschreiben, sondern die Realität konstituieren, was wiederum bestimmte Reaktionen auslöst.« (Eroukhmanoff 2017: 106) Dennoch ist nach Wæver (2015) das Publikum in demokratischen Gesellschaften nicht sprachlos und verfügt über Handlungsfähigkeit und soziale Verantwortung.

Die »Copenhagen School of Security Studies« nimmt daher an, dass Versicherheitlichung scheitert, wenn das Publikum den Sprechakt des Versicherheitlichungs-Akteurs ablehnt. Versicherheitlichung wird dabei als ein Prozess der Aushandlung zwischen Entscheidungsträgern und Publikum verstanden. In autoritären Gesellschaften muss mit dieser Prämisse jedoch anders umgegangen werden: »Das Verlangen nach Rechten kann sich unter autoritären Regimen anders äußern und in Staaten, in denen die Allgemeinheit keine direkte Kontrolle über die Regierung hat, andere Konsequenzen haben.« (Dietrich/Crabtree 2019: 352) Die Regierung als wichtigster Sicherheitsakteur hat die Macht zu entscheiden, an welchem Punkt bei bestimmten Themen die demokratische Praxis zu unterbrechen und die Bevölkerung zu manipulieren ist. Eine autoritäre Gruppe von Entscheidungsträgern kann zu außergewöhnlichen Maßnahmen und Politikformen greifen, ohne die Unterstützung des Publikums suchen zu müssen. Nach Waever (2015) gibt es aber auch dann immer noch Zielgruppen, die überzeugt werden müssen, etwa das Militär.

Die Theorie der Versicherheitlichung will laut Wæver (2015) nicht auf die Frage antworten, warum ein Thema zu einer Frage der nationalen Sicherheit wird, sondern zielt darauf, wie, d. h. durch welche Instrumente und Bedingungen der Staat die Versicherheitlichung eines Themas ermöglicht oder legitimiert. Um die modernen Versicherheitlichungsstrategien und deren Instrumente zu erkennen, blicken wir zunächst auf die Zensurpraktiken im kommunistischen System Sowjetrusslands zurück.

Zensur im 20. Jahrhundert

In den letzten zehn Jahren sah sich die unabhängige russische Presse mit etlichen Herausforderungen konfrontiert, die in Form von restriktiven Gesetzen und staatlicher Einflussnahme auf die Medien auftraten und zur Selbstzensur zwangen. Diese verhaltenen Praktiken sehen anders aus als die Zensur im 20. Jahrhundert, die mit direkteren Instrumenten und Wirkungsweisen arbeitete.

Der Journalismus generell hat in Russland eine andere Entwicklung genommen als im Westen. Die erste reguläre staatliche Zeitung, die Vedomosti aus Sankt Petersburg, erschien 1702, in der Sowjetunion gab es die Iskra (»Funken«), die später von der Pravda (»Wahrheit«) abgelöst wurde. Es gab nur eine kurze Zeit zwischen den 1860er-Jahren und 1917, in der Russland ohne staatliches Informationsmonopol war. Aber schon 1895 wurde die Zensur angewiesen, »keine Werke zur Veröffentlichung zuzulassen, deren Inhalt nicht sicher als unbedenklich für die Lektüre durch das Volk angesehen werden kann.« (zitiert nach Blum 1998) Tausende von Büchern wurden »gemäß dem Rundschreiben vom 8. Mai 1895 verboten«.

Im Oktober 1917 unterzeichnete der Rat der Volkskommissare ein Pressedekret, um dissidente Zeitungen zu unterdrücken, das besagte, dass jedes Blatt, das zum »offenen Widerstand oder Ungehorsam gegen die Arbeiterregierung aufruft; das durch eine eindeutig verleumderische Entstellung von Tatsachen Verwirrung stiftet; das zu eindeutig kriminellen, d. h. strafbaren Handlungen aufruft« (Pressedekret 1917), geschlossen werden sollte. Auf dieser Grundlage wurde bis Juni 1918 tatsächlich 470 Zeitungen der Garaus gemacht.

Im Jahr 1921 gründete die sowjetische Regierung das Glavlit[1], das zum wichtigsten institutionellen Organ der staatlichen Zensur wurde. Es handelte sich um ein System der Kontrolle vor der Veröffentlichung, bei dem die Zensoren entschieden, ob ein Buch erscheinen durfte, sowie um eine Nachzensur, bei der eine bereits gedruckte Ausgabe vernichtet werden konnte, bevor sie in die Läden kam, oder die Beschlagnahme von Büchern, die bereits im Umlauf waren (Fox 1992). Ähnlich dem Index der abgelehnten Bücher (Kobjal, o.J.) gab es die »Liste der Informationen, die Staatsgeheimnisse darstellen«, mit verbotenen Autoren und Texten, die vom Moskauer Glavlit an seine regionalen Niederlassungen verteilt wurde (Plamper 2014).

Während der gesamten Sowjetzeit zielte die Zensur darauf ab, abweichende Meinungen auszuschalten, negative Informationen über die Lage im Land zu unterdrücken und die sogenannte »antisowjetische Propaganda« zu vernichten; die Zensoren bemühten sich auch, die Möglichkeit unabsichtlich abweichender Interpretationen des Informationsmaterials auszuschalten (Plamper 2014). Im Zweiten Weltkriegs war jede Information verboten, die die offiziellen Angaben nicht bestätigte, und »die Verbreitung falscher Gerüchte in Kriegszeiten« wurde mit bis zu fünf Jahren Gefängnis bestraft (Dekret Nr. 32 1941).

Nach Stalins Tod 1953, während des sogenannten »Chruschtschov-Tauwetters«, wurden einige Zensurbeschränkungen aufgehoben, aber von 1964 bis 1966 wurden die Verbote wieder eingeführt. Seit dieser Zeit kümmerte das Glavlit sich weniger um den Schutz von Staats- und Militärgeheimnissen als um die Umsetzung ideologischer Richtlinien.

Eine der Möglichkeiten, sich der staatlichen Zensur zu widersetzen, war der »Samizdat«, die inoffizielle, illegale und daher unzensierte Produktion und Verbreitung verschiedener Arten von Texten unter der Hand. Am Ende der Sowjetära, im Jahr 1989, gab es mehr als 300 alternative Medien, die als Samizdat arbeiteten (vgl. Mjalo/Sokolov/Sverdlov 1990). Eine neue Theorie der Zensur behauptet, dass sie kein repressiver Akt von außen ist, der die Freiheit einschränkt, sondern ein notwendiges Instrument zur Gestaltung des Diskurses und in einigen Fällen ein produktives und emanzipatorisches Werkzeug (Bunn 2015). Darüber hinaus wird dem einfachen Weglassen oder Verbieten von Inhalten eine Selbstkontrolle gegenübergestellt, die in sozialen Normen, Branchenregeln und wirtschaftlichen Bedingungen verankert ist. Diesem Ansatz folgend stellten Literaturwissenschaftler fest, dass die sowjetische Zensur »die Entwicklung literarischer Formen, insbesondere die der Ironie und der Anspielung, förderte und die Autoren zu figurativeren und anspruchsvolleren Ausdrucksformen zwang, die den Interpretationsprozess in einen positiven ästhetischen Effekt überführen« (Bunn 2015: 42).

Es ist anzunehmen, dass am Ende der Sowjetära, zwischen den 1980er- und 1990er-Jahren, objektive Bedingungen für die Entwicklung von Öffentlichkeit bestanden, die zwischen den 1990er- und 2000er-Jahren weiter befreit und erweitert wurde (Glukhih/Eliseev 2018), da die russische Verfassung von 1993 die freie Meinungsäußerung als ein zentrales Verfassungsrecht festschrieb. Es ist jedoch umstritten, ob es in der Sowjetunion überhaupt Öffentlichkeit gab. Alle internen offiziellen Verbreitungskanäle, darunter Zeitungen, Radio, Fernsehen, Kino, Theater und Literatur, aber auch externe Kanäle wie ausländische Radiosender oder Druckerzeugnisse, wurden kontrolliert, und auch Selbstzensur war weit verbreitet. In einem solch repressiven Umfeld scheint eine sinnvolle öffentliche Debatte einfach nicht möglich zu sein (Beyrau 2014).

Atnashev und Velizhev (2020) vertreten, dass auf die UdSSR das klassische Modell von Öffentlichkeit nicht angewendet werden kann. Sie schlagen ein Konzept verschiedener Modi von Öffentlichkeit vor, die von den jeweiligen Regeln, soziopolitischen und kulturellen Kontexten abhängen, die von den Teilnehmer­Innen in einem bestimmten Diskussionsgenre akzeptiert werden. Zu diesen Genres können Zeitungen, offene Briefe, Kunstausstellungen, TV-Talkshows und auch Küchendebatten gehören, die unterschiedliche Merkmale z. B. hinsichtlich von Zugangsbarrieren oder Publika haben (Atnashev und Velizhev 2020). Diese fragmentierten Formen von Öffentlichkeit können als alternative Kanäle betrachtet werden, in denen die »Graswurzel«-Strategien der Aneignung öffentlicher Räume selbst in einer überadministrierten, manipulierten und kontrollierten öffentlichen Sphäre umsetzbar sind.

Die neuen restriktiven Gesetze

Als kommunikativer Raum wird die russische Öffentlichkeit massiv verfolgt und leidet unter krankhaften Bemühungen, sie systematisch auszuschalten. Die sechste Legislaturperiode (2011-2016) der russischen Staatsduma, die aufgrund des hohen Tempos, mit der Gesetze verabschiedet wurden, als »wahnsinniger Druckmacher« bezeichnet wird, führte nach einer Reihe von Protestaktionen in den Jahren 2011 und 2012 neue Einschränkungen des Internets ein. Der erste größere Angriff auf die Meinungsfreiheit erfolgte 2012 nach dem Vorfall vom Bolotnaja-Platz, als in Moskau eine friedliche Kundgebung zu einer Konfrontation mit der Polizei eskalierte und mit Massenverhaftungen von AktivistInnen endete. In einem Bericht von Amnesty International heißt es, der Bolotnaja-Fall sei »ein massiver Verstoß gegen die Verfassung der Russischen Föderation und russische Gesetze, der von den Behörden im Voraus, bewusst und zielgerichtet mit besonderer Grausamkeit und Zynismus geplant wurde.« (2014) In rekordverdächtiger Geschwindigkeit wurden die Gesetze über Kundgebungen und über Ordnungswidrigkeiten geändert und eine ganze Reihe neuer restriktiver Gesetze erlassen.

Im Jahr 2012 wurde in Russland auch die erste Fassung des Gesetzes über »Ausländische Agenten«[2] verabschiedet. Danach können Organisationen, die Finanzmittel aus dem Ausland erhalten und sich politisch betätigen, als »ausländische Agenten« eingestuft werden. Im Gegensatz zu Putins späteren Erklärungen war bereits in der ersten Fassung des Gesetzes (FZ-121) eine Strafbarkeit von bis zu zwei Jahren für »ausländische Agenten« vorgesehen. 2017 beschloss die russische Staatsduma dann Änderungen des Gesetzes »Über die Massenmedien«, die dem Justizministerium erlaubten, Medienunternehmen in die Liste der ausländischen Agenten aufzunehmen. 2019 wurde das Gesetz nochmals dahingehend geändert, dass jede Person, die Informationen von einem ausländischen Medienagenten weiterverbreitet und irgendwann Finanzmittel aus dem Ausland erhalten hat, ebenfalls als »ausländischer Agent« zu behandeln ist. Das Gesetz richtete sich direkt gegen einzelne JournalistInnen und oppositionell Aktive. Im Dezember 2022 schließlich trat das neue Gesetz »Über die Kontrolle der Tätigkeit von Personen unter ausländischem Einfluss« in Kraft. Gegen »ausländische Agenten« richtet sich danach eine Reihe von diskriminierenden Normen, unter anderem ist es ihnen verboten zu unterrichten, im öffentlichen Dienst zu arbeiten, Mitglieder von Wahlkommissionen zu sein und öffentliche Veranstaltungen inklusive Protestdemonstrationen zu organisieren.

Ein Jahr nach der ersten Fassung des Gesetzes über ausländische Agenten verabschiedete die Staatsduma 2013 ein Gesetz, das eine verwaltungsrechtliche Haftung für »Propaganda für nicht-traditionelle Beziehungen unter Kindern« festlegt. Das Gesetz sah Geldstrafen für Einzelpersonen und für Organisationen eine Aussetzung ihrer Tätigkeit von bis zu 90 Tagen vor. Im Juni 2017 befand der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) das russische Gesetz über LGBT-Propaganda als diskriminierend und wies darauf hin, dass es gegen die entsprechenden Artikel der europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte verstößt. Im Dezember 2021 wies Wladimir Putin die Regierung an, Vorschläge für ein aktualisiertes Konzept für die Informationssicherheit von Kindern vorzulegen. Das aktualisierte Konzept ging der Neuauflage des Gesetzes[3] voraus, das ein Jahr später, im Dezember 2022, verabschiedet und vom Präsidenten unterzeichnet wurde. Artikel 6.21 des Gesetzes über Ordnungswidrigkeiten, der zuvor die »Propaganda« für Geschlechtsumwandlung und Pädophilie unter Minderjährigen verbot, wurde geändert und verbietet nun die entsprechende »Propaganda«, ohne das Alter zu nennen. Das Gesetz unterscheidet außerdem sehr vage zwischen »Propaganda«, »Aufdrängen von Informationen« und »Demonstration«. Die Strafen für all diese Verstöße wurden verschärft und ermöglichen in allen Artikeln des Gesetzes die Höchststrafe. Das Gesetz zielt darauf ab, die kulturelle Produktion (einschließlich Büchern) zu kontrollieren, indem z. B. Lizenzen für Filme vom Kulturministerium nur dann erteilt werden, wenn die Szenen mit LGBT+-ProtagonistInnen herausgeschnitten werden. Dies betrifft Online- und Offline-Kinos, soziale Medien mit einem großen Publikum, Online- und Offline-Buchhandlungen und Nachrichtenportale. Einer der Online-Abonnementdienste für Bücher hat die AutorInnen aufgefordert, »den Inhalt zu ändern«, damit ihre Werke wieder in die Regale gestellt werden können (Meduza 2022a): der Präzedenzfall einer Zensur, die nicht von einer staatlichen Stelle ausgeübt wird, sondern direkt von der Industrie ausgeht.

Im Jahr 2016 wurden die als »Gesetz über Nachrichtenportale«[4] bekannten Änderungen verabschiedet, die zu einem der kritikwürdigsten Schritte wurden, die die russische Regierung unternommen hat, um den Zugang für Millionen von BürgerInnen zu Online-Informationen einzuschränken. Mit diesem Gesetz wurden die Websites von Nachrichtenportalen mit mehr als einer Million Besuchern pro Tag verpflichtet, die Richtigkeit der eingestellten Informationen zu überprüfen, falls diese von nicht lizenzierten Medien stammen. Wie der Verfasser des Gesetzes, der Abgeordnete Aleksey Kazakov, feststellte, sind die Nachrichtenportale die beliebtesten Quellen für Nachrichten und es gibt kein einziges Medienunternehmen, das mit deren Datenverkehr konkurrieren könnte. Im Jahr 2021 wurde zum Beispiel der Dienst Yandex.news monatlich von 70 Millionen Menschen besucht, nach Angaben von Meduza waren es 2016 täglich 6,5 Millionen gewesen. Im September 2022 verschwanden die Nachrichten von dieser Seite, als die VK-Holding das Geschäft für den Kauf der Rubriken Zen und News von Yandex abschloss.

Im Juni 2016 wurde auch das Anti-Terror-Gesetz, das sogenannte »Jarowaja-Paket« oder »Jarowaja-Gesetz«[5], benannt nach seiner Verfasserin Irina Jarowaja, verabschiedet. Es enthält eine Reihe von Maßnahmen zur Bekämpfung von Extremismus und Terrorismus im Internet. Insbesondere betont es die Verantwortung für die »öffentliche Rechtfertigung terroristischer Handlungen«. BürgerInnen sollen nach denselben Regeln wie die Medien abgeurteilt werden und müssen mit einer Freiheitsstrafe von bis zu sieben Jahren rechnen. Alle »Organisatoren von Online-Informationsverbreitung« wurden verpflichtet, sämtliche von Nutzern erstellten Inhalte zu speichern. Die Nachrichtendienste erhielten das Recht, ohne Gerichtsbeschluss auf diese Daten zuzugreifen, wenn dies für Ermittlungen oder die öffentliche Sicherheit erforderlich ist. Darüber hinaus sind die Unternehmen verpflichtet, den staatlichen Stellen Instrumente zur Entschlüsselung sicherer Dienste zur Verfügung zu stellen.

Das Gesetz verstößt eindeutig gegen das auch in der russischen Verfassung garantierte Recht der BürgerInnen auf Vertraulichkeit. Es hat die politische Polizei in die russische Realität zurückgebracht: Durch die Legalisierung des uneingeschränkten Zugriffs der Strafverfolgungsbehörden auf Informationen über das Privatleben der BürgerInnen kann der Staat das erhaltene Datenmaterial noch präziser nutzen, um das politische Feld zu »säubern«, zivile Aktivitäten zu unterdrücken und all jene zu überwachen, die er für verdächtig hält. In dieser Hinsicht wurde der Kampf des russischen Staates gegen mythische »ausländische Agenten« zu einer neuen Etappe bei der Unterdrückung zivilgesellschaftlicher Initiativen.

Erst kürzlich, im März 2022, unmittelbar nach Beginn der Invasion in der Ukraine, ist das »Gesetz über fakes« mit rekordverdächtiger Geschwindigkeit erlassen worden. Es markierte eine neue Trennlinie zwischen pseudodemokratischer Gesetzgebungspraxis und offen autoritärer Kriegszensur. In der Presse wurde es als »vollständige Niederlage des unabhängigen Journalismus« bezeichnet (Meduza 2022b). Die Verbreitung von »fakes« über die russische Armee, Antikriegsaufrufen und Aufrufen zu Sanktionen gegen Russland wird mit einer Gefängnisstrafe von bis zu 15 Jahren geahndet. Das Gesetz wurde neben anderen Maßnahmen vorbereitet, die die Umsetzung des Föderations-Gesetzes von 2018 »Über Schritte gegen unfreundliche Handlungen der Vereinigten Staaten von Amerika oder anderer ausländischer Staaten« sicherstellen sollen. Es beschreibt die Notwendigkeit des Schutzes der »Sicherheit der Russischen Föderation, ihrer Souveränität und territorialen Integrität« und verbietet Inhalte, die »auf die wirtschaftliche und politische Destabilisierung der Russischen Föderation gerichtet sind« (FZ-127). Am 25. März 2022 unterzeichnete Präsident Wladimir Putin ein neues Gesetz, das die Verbreitung von »Fakes über die Tätigkeit russischer Staatsorgane im Ausland« (»Desinformationsgesetz«) unter Strafe stellt. Ähnlich wie beim ersten Gesetz über »fakes« beträgt sie bis zu 15 Jahren Gefängnis.

Tabelle 1
Zeitlicher Ablauf der Gesetze

Titel, unter dem das Gesetz bekannt ist

Gesetz Nr.

Eingeführt

Lesungen

Unterschrift des Präsidenten

1.

2.

3.

Über ausländische Agenten (2012)

121-FZ

29.06.2012

6.07.2012

13.07.2012

13.07.2012

20.07.2012

Über ausländische Agenten (2017)

327-FZ

29.09.2017

26.10.2017

15.11.2017

15.11.2017

25.11.2017

Über ausländische Agenten (2019)

426-FZ

19.12.2017

12.01.2018

19.11.2019

21.11.2019

2.12.2019

Über ausländische Agenten (2022)

255-FZ

26.04.2022

7.06.2022

28.06.2022

29.06.2022

14.07.2022

Über LBGT-Propaganda (2013)

135-FZ

22.03.2012

25.01.2013

11.062013

11.06.2013

29.06.2013

Über LBGT-Propaganda (2022)

479-FZ

20.10.2022

27.10.2022

23.11.2022

24.11.2022

5.12.2022

Über Nachrichten-

portale (2016)

208-FZ

25.02.2016

19.04.2016

8.06.2016

11.06.2016

23.06.2016

Jarowaya-Gesetz (2016)

374-FZ; 375-FZ

7.04.2016

13.05.2016

24.06.2016

24.06.2016

6.07.2016

Über Fakes (2022)

32-FZ

14.05.2018[6]

15.05.2018

4.03.2022

4.03.2022

4.03.2022

Über Fakes (2022, neue Fassung)

63-FZ

18.03.2022

25.01.2022[7]

22.03.2022

22.03.2022

25.03.2022

Quelle: Legislatives Unterstützungssystem, https://sozd.duma.gov.ru/

Versicherheitlichende Diskurse in den staatlichen Nachrichten

Um zu untersuchen, wie staatliche Akteure die restriktiven Gesetze in den offiziellen Medien legitimieren, wurde das Nachrichtenarchiv der größten staatlichen russischen Nachrichtenagentur, Ria Novosti, für eine Fallstudie ausgewählt. Das Archiv ist frei zugänglich und enthält Nachrichtenartikel bis zurück zum Jahr 2001. In die Auswahl wurden alle Nachrichten aufgenommen, die die Wortkombination, die das jeweilige Gesetz kennzeichnet, z. B. »Jarowaja-Gesetz« oder »Jarowaja-Paket«, in der Überschrift oder in den ersten drei Absätzen innerhalb des in den Abbildungen 1 bis 5 angegebenen Zeitraums für jedes Gesetz (s. Tab. 1) enthalten. Außerdem wurden die Artikel eine Woche vor der Einführung der Änderungen und eine Woche nach der Unterzeichnung berücksichtigt. Diese Auswahl wurde dann für jedes Gesetz qualitativ analysiert, wobei die Verfahren der thematischen Analyse (Braun/Clarke 2006) angewandt wurden. Die Nachrichtenartikel wurden zunächst als neutral, kritisch oder unterstützend interpretiert, dann wurde nach den Hauptkritikpunkten und den wichtigsten Legitimationsnarrativen unterschieden. Außerdem wurde nach den Akteuren, die die »Sprechakte« vollzogen, differenziert.

Gesetz über ausländische Agenten

Insgesamt wurden 275 Artikel identifiziert, die sich auf alle Versionen des Gesetzes beziehen (s. Abb. 1).

Die erste, 2012 verabschiedete Version wurde in der analysierten Berichterstattung von Ria Novosti von verschiedenen AkteurInnen kritisiert, auch international: vom US-Botschafter, vom EU-Kommissar und vom britischen Außenministerium. 24 von 64 Artikeln (38 %) enthielten kritische Äußerungen von ExpertInnen, PolitikwissenschaftlerInnen, NGOs, Freiwilligen, MenschenrechtsaktivistInnen, dem Menschenrechtsrat (HRC) und RegierungsvertreterInnen. Das Gesetz wurde als unausgegoren und unspezifisch beschrieben und könne alle NGOs und Medien zu »ausländischen Agenten« machen und zu deren Schließung führen. Als Reaktion auf die Kritik wurde angeführt, dass das Gesetz mit ähnlichen legalen Regelungen auf der ganzen Welt übereinstimme.

Im November 2017 wies das US-Justizministerium den Fernsehsender Russia Today (RT) an, sich in den USA als ausländischer Agent zu registrieren. Dieses Ereignis wurde als »Beeinträchtigung russischer Medien in den USA« dargestellt und führte zu der »erzwungenen Reaktion« der Änderungen des Status ausländischer Medien in Russland. Die Formulierung als »Vergeltungsmaßnahme für das Vorgehen der USA« war in allen neuen Fassungen des Gesetzes enthalten und die Aussage über die »erzwungene Reaktion« im November 2019 wurde mit fast demselben Wortlaut in 20 von 29 Artikeln wiederholt. Der Sprecher des russischen Senats erklärte: »Man muss keine Brille tragen, um die ›Spiegelung‹ in Moskaus Reaktion zu erkennen.«

Abbildung 1
Gesetz über ausländische Agenten, alle Ausgabe (Juli 2012-Juni 2022)

Quelle: eigene Darstellung

Die Hauptaussage war, dass die von den ausländischen »Agenten«-Medien verbreiteten Informationen eine direkte Bedrohung für die russische Gesellschaft darstellten, »auch im Hinblick auf die Spaltung der Gesellschaft, das Anwachsen extremistischer Gefühle und die direkte Propaganda für Ideologien, die der russischen Gesellschaft fremd sind«, wie der Senat formulierte. Bereits 2019 waren kritische Äußerungen aus den Artikeln verschwunden, und selbst die Journalistengewerkschaft erklärte, dass »diese schwierigen Maßnahmen in vielerlei Hinsicht eine spiegelbildliche Antwort sind«.

Vor der ersten Lesung der letzten Fassung des Gesetzes im Juni 2022 war eine gewisse Liberalisierung des Diskurses zu beobachten: In mehreren Beiträgen wurden diejenigen neuen Änderungen erwähnt, die es ermöglichen, »ausländische Agenten« von der Liste zu streichen, und in einem Artikel wurde geschildert, dass zwei Personen tatsächlich gestrichen worden waren. Auch von Seiten der staatlichen Stellen wurde Klarheit und Transparenz des Gesetzes gefordert. Ziel dieser Initiative war es zunächst, die Rechtsvorschriften über ausländische Agenten zu systematisieren sowie transparent und verständlich zu machen. Im weiteren Verlauf wurden dann jedoch zahlreiche restriktive Änderungen vorgelegt.

Einer der Verfasser des Gesetzentwurfs, Wassili Piskarew, erklärte, dass die Initiative von entscheidender Bedeutung sei, da ausländische Organisationen versuchten, auf die innenpolitische Situation in Russland, den Ausgang von Wahlen und besonders junge Menschen Einfluss zu nehmen. Mit der Bildung neuer Ausschüsse wie der »Kommission für die Untersuchung der Einmischung Ausländischer Staaten in die Inneren Angelegenheiten Russlands« und der »Kommission des Föderationsrates für den Schutz der Staatlichen Souveränität« wurden diese zu den lautstärksten Akteuren des Sicherheitsdiskurses. Die Kommissare erklärten, dass es notwendig sei, den Schutz der Gesellschaft und des Staates vor Bedrohungen durch den »totalen hybriden Krieg, den der Westen gegen Russland entfesselt hat«, zu stärken.

Gesetz über LGBT-Propaganda

Das erste Gesetz, das 2012 vorgeschlagen wurde und 2013 in Kraft trat, wurde in der staatlichen Presse zunächst als »Gesetz über Schwulenpropaganda« bezeichnet. Im Jahr 2022 wurde dieser Begriff durch »LBGT-Propaganda« ersetzt, wobei er jedoch in der Regel mit Propaganda für Pädophilie in Verbindung gebracht wurde, wodurch »nicht-traditionelle Beziehungen« zu einem bedrohlichen und kriminalisierten Thema wurden. Über beide Gesetze wurde in mäßiger Häufigkeit berichtet, im Jahr 2013 in 42 und 2022 in 68 Artikeln mit Spitzenwerten bei der zweiten und dritten Lesung (Abb. 2).

Die Entwicklungen bei der Ausarbeitung des neuen Gesetzes unterscheiden sich auf aufschlussreiche Weise. Im Jahr 2022 gab es ein klares »Othering« und eine Gegenüberstellung von europäischen oder westlichen Werten und russischen »traditionellen Werten«. Im Jahr 2013 rechtfertigte die Abgeordnete Elena Mizulina, auf die das Gesetz zurückgeht, die Änderungen mit dem Verweis auf die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs, die »eindeutig besagt, dass wir unter Kindern sowohl die Förderung als auch die Verbreitung homosexueller Praktiken verbieten können.« Berichtet wurde über Bedenken verschiedener internationaler Akteure: des Europäische Parlaments, des Europarats, des US-Botschafters, des deutschen Ombudsmanns. 2022 wurden Bedenken aus Amerika in den entsprechenden Artikeln wie folgt beantwortet: »Die Kritik der USA am LGBT-Gesetz ist eine grobe Einmischung in die Angelegenheiten Russlands.« Außerdem spricht der russische Botschafter über das »Toleranzproblem in Europa«, und der Sprecher der Staatsduma verweist auf »die Handlungsweisen von Ländern, die nicht-traditionelle Werte aufzwingen.«

Die strafrechtliche Haftung wurde 2013 nicht erörtert, aber 2022 wurde sie in acht Beiträgen erwähnt. Da sie jedoch von den Abgeordneten nicht unterstützt und auch von der Kirche kritisiert wurde, enthielt die letzte Fassung keine entsprechende Änderung. Die Kirche hatte sich stärker zu Wort gemeldet. 2013 war die Meinung der Russisch-Orthodoxen Kirche nur in einem Beitrag enthalten, 2022 waren es sechs (8 %).

Abbildung 2
Gesetz über LGBT-Propaganda, zwei Ausgaben (März 2011-Mai 2013; Oktober-November 2022)

Quelle: eigene Darstellung

Ein weiterer Legitimationsrahmen, der von der russischen Regierung häufig verwendet wird, ist die Präsentation von Umfrageergebnissen, aus denen hervorgeht, dass die Mehrheit angeblich die Regierungslinie unterstütze. (Das gleiche Ziel wird prinzipiell mit Astroturfern (s. Belinskaya 2020) verfolgt: den Eindruck zu erwecken, dass eine bestimmte Meinung in der Gesellschaft viel weiter verbreitet sei, als es tatsächlich der Fall ist.) In einem Artikel heißt es: »Die große Mehrheit der Russen (88 %) unterstützt die Einführung eines Verbots der Förderung von Homosexualität im Land, mehr als 40 % der Befragten sind der Meinung, dass nicht-traditionelle sexuelle Orientierungen kriminalisiert werden sollten.«

Das Hauptziel des ursprünglichen Gesetzes von 2013 war der »Schutz der Kinder vor gefährlichen Informationen«. In der Begründung des Gesetzes, die in den Artikeln zitiert wird, heißt es: »Es gibt besondere Gefahren für Kinder und Jugendliche, die noch nicht in der Lage sind, die Informationsflut kritisch zu beurteilen.« Da das neue Gesetz von 2022 Propaganda allgemein verbietet, werden nun unter den gefährdeten Gegebenheiten auch »die normale Welt«, die russische Gesellschaft, traditionelle oder familiäre Werte, »die natürliche Fortsetzung des Lebens« und auch »die demografische Situation im Land« genannt.

Gesetz über Nachrichtenportale

Die Auswahl zum Gesetz über Nachrichtenportale umfasste 28 Beiträge, deren zeitliche Verteilung Abb. 3 zeigt.

Abbildung 3
Gesetz über Nachrichtenportale (Februar-Juli 2016)

Quelle: eigene Darstellung

Wie aus dem Schaubild hervorgeht, fand das Gesetz in der staatlichen Presse keine große Resonanz. Zehn Artikel (36 %) enthielten eine eher neutrale Erläuterung, 14 (51 %) Kritik von Seiten der Industrie, von ExpertInnen, vom Kommunikationsministerium und von Internet-Ombudsleuten, die das Gesetz als »einen surrealen Vorschlag, der den technologischen Fortschritt tötet«, bezeichneten. Auch die »Electronic Communications Association« äußerte Sorge, dass die Änderungen den Zugang zu »wissenschaftlichen, technischen, erzieherischen, kulturellen und sportlichen Informationen« einschränken werden. In einem einzigen Artikel wird die Notwendigkeit des Gesetzes mit der Verantwortung für die Authentizität von Informationen begründet, die neben den Medien auch die Portale tragen sollten. In einer kurzen Erläuterung zum Gesetzentwurf Nr. 570420-7 wird behauptet, dass die Beschränkungen vorgeschlagen werden, »um eine Bedrohung der öffentlichen Ordnung in Russland abzuwenden.« Ein weiteres Ziel sei, »die Unabhängigkeit der Verbreitung von Nachrichten in Russland von ausländischen politischen Kräften zu gewährleisten«, wobei auf die Bedrohung durch internationale Einmischungen hingewiesen wird.

Jarowaya-Gesetz

Insgesamt wurden 115 Artikel gefunden, die die angegebenen Wörter enthalten. Abb. 4 zeigt die Verteilung der Artikel über den untersuchten Zeitraum.

Abbildung 4
Jarowaya-Gesetz (April-Juli 2016)

Quelle: eigene Darstellung

Bei 18 Artikeln (16 %) handelte es sich um Aktualisierungen, die neutrale Erklärungen zum Gesetz, die möglichen Geldstrafen und die strafrechtliche Haftung enthielten. Gleichzeitig wurde das Gesetz in 25 Artikeln (22 %) als notwendiges Instrument zur Bekämpfung von Terrorismus und Extremismus, als wichtige und unvermeidliche Reaktion auf Fragen der nationalen Sicherheit oder als unverzichtbarer Schritt zur Sicherung des Wohlergehens der Bürger dargestellt. Als die drei wichtigsten Referenzobjekte wurden Gesellschaft, Staat und Bürger genannt. Die legitimierende Begründung des Gesetzes erfolgt durch die Darstellung des Terrorismus als existenzielle Bedrohung. Er wird als die gefährlichste Form der Kriminalität oder »Verbrechen gegen den Frieden und die Sicherheit der Menschheit« bezeichnet. Wie der Sprecher des Senats erklärte: »Zusätzliche Maßnahmen zur Gewährleistung der Sicherheit müssen ergriffen werden – das erfordert die heutige Situation in der Welt, die Zunahme terroristischer Phänomene.« Um die strengen Rechtsnormen zu legitimieren, wiesen die Verfasser des Gesetzes darauf hin, dass ähnliche Anti-Terror-Gesetze in anderen Ländern noch härtere Strafen vorsähen, und mehrere Abgeordnete betonten »die Unvermeidbarkeit der Strafe«. Nach Ansicht der Staatsduma sollten alle Länder in einen »unerbittlichen Kampf gegen den Terrorismus« einbezogen werden.

Kritikpunkte wurden in der Berichterstattung von Ria Novosti von der Industrie und vom Obersten Gerichtshof geäußert. In einem der Artikel wies der Verband für elektronische Kommunikation darauf hin, dass der Vorschlag zur Entschlüsselung der Korrespondenz im Internet die Gefahr birgt, dass personenbezogene Daten durchsickern, und der Oberste Gerichtshof wies auf einen Verstoß gegen die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und der Fairness bei der Strafe hin. Auch die Stellungnahme des Menschenrechtsrates spiegelt sich wider: In fünf Artikeln wurde hervorgehoben, dass das Gesetz in aller Eile verabschiedet wurde, der Verfassung widerspricht und viele Ungenauigkeiten enthält; und es wurde auch auf die fragliche Vereinbarkeit mit den Menschenrechten hingewiesen: »Das sind Themen, die mit den Menschenrechten zu tun haben, hier brauchen wir ein Höchstmaß an Genauigkeit und Feingefühl.« Die stärkste Kritik an dem Gesetz kam im Material jedoch nicht von der Zivilgesellschaft, sondern von der Telekommunikationsbranche. Von den 115 Nachrichtenartikeln in der Auswahl befassten sich 35 (30 %) mit den hohen Kosten der Umsetzung für die Branche.

Die Antworten auf die Kritik, die von den Verfassern oder verschiedenen Ausschüssen der Staatsduma oder des Senats geäußert wurden, besagen, dass die Terroristen hart bestraft werden müssten, für die Bürger das Gesetz aber sicher sei. Mehrere Akteure wie der Ausschuss des Föderationsrats für Verteidigung und Sicherheit und der Sprecher der Staatsduma erklärten, das Gesetz sei gerecht, basiere »ausschließlich auf Rechtsgrundlagen und -verfahren«, sei durchdacht und sei in Zusammenarbeit mit externen Experten verfasst worden.

Gesetz über fakes

Das Gesetz über fakes und seine zweite Fassung wurden von der Staatsduma in rekordverdächtiger Zeit verabschiedet. Beide Rechtsnormen wurden als Änderungsanträge zu verschiedenen Vorläufergesetzen eingebracht, die bereits die erste Lesung durchlaufen hatten, eines im Mai 2018 und ein weiteres im Januar 2022. Dieses Vorgehen ermöglichte der Staatsduma, die neue Fassung des Gesetzes in ganzen vier Tagen in zweiter und dritter Lesung zu verabschieden, die Zustimmung des Senats zu erhalten und den Präsidenten noch am selben Tag unterschreiben zu lassen.

Wie aus Abb. 5 hervorgeht, wurde das Gesetz über fakes vor dem 4. Januar 2022 nicht in der staatlichen Presse erwähnt. Und die neue Fassung fand dort nicht die gleiche Beachtung wie die ursprüngliche.

Abbildung 5
Gesetz über fakes, mit Änderungen (März 2022)

Quelle: eigene Darstellung

In 16 von 35 Artikeln (46 %), die dem ursprünglichen Gesetz über fakes gewidmet sind, wird ein Absatz fast wörtlich wiederholt, in dem es heißt, dass die »besondere Militäroperation« auf die »Entmilitarisierung und Entnazifizierung der Ukraine« und den Schutz der Menschen abziele, »die seit acht Jahren einem Völkermord durch das Kiewer Regime ausgesetzt sind.« Es wird behauptet, dass die Streitkräfte nur die militärische Infrastruktur angriffen, die Zivilbevölkerung sei nicht bedroht, und wie der russische Präsident betonte, könne »von einer Besetzung der Ukraine keine Rede sein.« Dabei werden sowohl die Bürger eines anderen Landes als auch die Bürger Russlands, die russischen Truppen und das Land als Ganzes als bedrohte Referenzobjekte konstruiert. Eines der populärsten Argumente zur Rechtfertigung strenger Strafen wird im Nachrichtenmaterial von Ria Novosti vom Pressesekretär des Präsidenten, den Leitern der Regionen und dem Sekretär des russischen Journalistenverbandes vorgebracht: Alle diese Akteure behaupten, dass Russland ein Informationskrieg erklärt worden sei und das Land geschützt werden müsse.

Der Vorsitzende der Staatsduma, Wjatscheslaw Wolodin, insistierte: »Wenn wir uns dem Einfluss derjenigen beugen, die solche Aussagen machen, wird unser Land vielleicht nicht mehr existieren.« Außerdem wurde in verschiedenen Artikeln unterstrichen, dass die Wahrheit um jeden Preis geschützt werden müsse und »diejenigen, die die Wahrheit sagen, in diesem Fall nichts zu befürchten haben.« Gleichzeitig erwähnt das Außenministerium die Beteiligung ausländischer Geheimdienste, die von der NATO koordiniert würden.

Auch in der zweiten Version wird die Invasion gerechtfertigt (drei Artikel von 18). Allerdings ist der Tonfall bei der Beschreibung der neuen Änderungen, der Geldbußen und der strafrechtlichen Sanktionen eher neutral, eine Diskussion über das Gesetz findet nicht statt. Die Notwendigkeit, »den Kampf gegen Fälschungen und alle ungesetzlichen Aktivitäten zu verstärken«, wird als formale Rechtfertigung verwendet.

Schlussfolgerungen

Die neuen technologischen Entwicklungen haben die Öffentlichkeit in den modernen Gesellschaften tiefgreifend verändert. Anfangs wurde der utopische Glaube geäußert, dass das Internet zum neuen, barrierefreien Forum werden kann, in dem die aktive und offene Beteiligung der BürgerInnen an der Diskussion gesellschaftlich bedeutsamer Themen gewährleistet ist. WissenschaftlerInnen haben aber auch schon zu Beginn des Online-Zeitalters Bedenken hinsichtlich der Fragmentierung des Publikums geäußert (vgl. Habermas 2006).

Heute wird es immer schwieriger, ein Informationsmonopol zu errichten, denn es gibt unzählige Quellen, die ohne Bezahlschranke und in verschiedenen Sprachen online verfügbar sind und einem Diskurs folgen, der vom offiziellen abweicht. Um Regierungshandeln zu legitimieren, musste die Propagandamaschinerie in Russland ein neues Medienumfeld schaffen, in dem unerwünschte Quellen aufgrund des Gesetzes über Nachrichtenportale nicht so unmittelbar sichtbar oder ohne VPN einfach nicht zugänglich sind. Gleichzeitig ergänzen und verbreiten in diesem System verschiedene dem Staat angegliederte Medien die vom Staatsfernsehen übernommenen Narrative; wie das Beispiel der Formulierung aus den Gesetzen über Ausländische Agenten oder über fakes zeigt, wird in fast allen Artikeln zu diesen Themen die gleiche legitimierende Begründung wiederholt. Deshalb stoßen die LeserInnen immer wieder auf die gleichen Informationen, was den Eindruck größerer Glaubwürdigkeit erweckt. Darüber hinaus dringen Astroturfer in die alternativen Kanäle ein, indem sie Nachrichten, die die gleiche Idee mechanisch wiederholen, massenhaft veröffentlichen,.

In diesem Kontext wurden Plattformen wie Telegram zu einer wichtigen Basis für unabhängige Sender und JournalistInnen, um ihr Publikum ohne Einschränkungen erreichen zu können, und auch für Organisationen, die gegen Fehlinformationen und Zensur kämpfen (Kouper 2022). Aber die Möglichkeiten von Telegram, Anonymität zu garantieren, können auch als wirksames Instrument der Staatspropaganda genutzt werden, indem der staatlich genehmigte Diskurs so vielfach reproduziert wird.

Überflutung des Diskurses, Durchdringung der alternativen Kanäle und stereotype Wiederholung regierungskonformer Narrative sind die neuen Methoden der Zensur im Vergleich zum sowjetischen Modell: Gleichzeitig wird der gesetzliche Rahmen strenger und sehr viel komplexer, wobei jedoch die sowjetischen Sprachhülsen weiter verwendet werden. So machen zwei neue Gesetze die neue »Kriegszensur« aus: Das sogenannte Gesetz über fakes und das Desinformationsgesetz knüpfen an die Gerüchteverordnung von 1941 und die wenig innovative anti-amerikanische oder anti-westliche Rhetorik an.

Diese Rhetorik lässt sich in allen Gesetzen feststellen. Im Fall derjenigen über »Ausländische Agenten« und über »LGBT-Propaganda« entspricht die eindeutige »Andersartigkeit« der Akteure und ihre Verdrängung aus dem normalen Legalitätsbereich den von Buzan und Waever (2003) beschriebenen Bedingungen von Versicherheitlichung. Das Gleiche gilt für Akteure, »die Erkenntnisse aus dem Ausland erhalten«, oder für diejenigen, die Narrative verbreiten, »die den traditionellen russischen Werten fremd sind.« Die neue Fassung des Gesetzes über die LGBT-Propaganda wird von den Eliten in Russland oft als Gesetz zum Schutz traditioneller oder familiärer Werte bezeichnet, nachdem das Framing mit dem Schutz von Kindern, das für die erste Fassung relevant war, aufgehoben und erweitert worden ist. Die erste Version des Gesetzes zum Schutz von Kindern schuf aber einen Präzedenzfall und verschaffte der Medienaufsichtsbehörde Roskomnadsor den Rahmen und die Instrumente, um den Medienzugang ohne Gerichtsbeschluss zu beschränken und Zensur in der neuen digitalen Ära durchzusetzen.

In der Diskussion der Gesetze über »ausländische Agenten« nach 2017 wurden die USA mehrfach beschuldigt, den Konflikt über Russia Today ausgelöst zu haben, und sie wurden auch im Zusammenhang mit der Ablenkung der Aufmerksamkeit auf rechtswidrige Praktiken anderer Länder (»Whataboutism«) erwähnt. 2022 und bei den Gesetzen über fakes wurden – offenbar auch in Verbindung mit dem unmittelbaren Bevorstehen eines Krieges – der antiamerikanische Rahmen und der Wahn der ausländischen Einmischung noch verstärkt. Im Falle des Jarowaya-Gesetzes wurde der Anti-Terrorismus-Gedanke häufig zur Rechtfertigung besonders strenger Maßnahmen herangezogen.

Staatliche Sicherheitsbedenken und der Kampf gegen terroristische Bedrohungen werden von Regierungen auf der ganzen Welt zur Rechtfertigung von Einschränkungen der Meinungsfreiheit im Internet benutzt. Auch in den Medien, die das Gesetz kritisiert haben, wurde das nur in den Rahmen der Gefahren für die Industrie, der hohen Kosten der Umsetzung und der bedrohlichen Nachteile für die Telekommunikationsunternehmen gestellt.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass alle restriktiven russischen Gesetze der letzten Jahre mit der Notwendigkeit begründet wurden, einen der drei tragenden Pfeiler oder eine Abwandlung davon zu schützen: Kinder, traditionell-familiäre Werte oder die nationale Sicherheit. Interessanterweise hat das Gesetz über fakes auch den Schutz der Wahrheit als Sicherheitsziel hinzugefügt.

Die russische virtuelle Öffentlichkeit unterliegt faktisch der Versicherheitlichung. Die Analyse hat gezeigt, wie verschiedene Gesetze, die offiziell auf den Schutz des Staates, der Gesellschaft als ganzer oder bestimmter Teile davon abzielen, tatsächlich dazu dienen, das Online-Mediensystem zu versicherheitlichen. Die Unterdrückung des Rechts auf freie Meinungsäußerung ging einher mit der Übernahme der Medien durch den Staat, der Auslöschung der freien Presse und in jüngster Zeit nun mit Versicherheitlichungsprozessen, die sich u. a. in der Akzeptanz »antiterroristischer« Gesetze niederschlagen. Die Legitimation der Gesetze, die die Überwachungspraktiken und die Verletzung der Privatsphäre schönen, erfolgt durch staatliche Medien, die ein positiv klingendes Framing verbreiten, sowie durch das Mundtotmachen intellektueller Kreise und Einschränkungen des öffentlichen Diskurses.

Es stellt sich die berechtigte Frage, ob es in einer solchen, extrem eingeschränkten öffentlichen Sphäre überhaupt Möglichkeiten für eine öffentliche Diskussion gibt. Perrin und Vaisey (2008) verwenden das Konzept einer parallelen Öffentlichkeit, wonach sich der offizielle Diskurs nicht mit dem in den alternativen Kanälen überschneidet. Atnashev und Velizhev (2020) vertreten, dass Begriffe mehrerer Arten von Publizität die erkennbaren öffentlichen Debatten in der Sowjetunion besser erfassen als die klassische Öffentlichkeits-Theorie von Habermas.

Die Existenz verschiedener alternativer Kanäle in Form von sozialen Medien wie YouTube, TikTok oder Telegram, die sich noch immer der offiziellen Kontrolle entziehen, oder in Form diverser russischsprachiger Medien und investigativer Projekte im Exil zeigen, dass es noch immer einen politischen Diskurs von Dissidenten gibt. Um das Publikum unter den Bedingungen der neuen Zensur zu erreichen, haben sich mehrere unabhängige Medien zusammengeschlossen und eine gemeinsame Plattform in Form einer Smartphone-App geschaffen. Das macht es den russischen Behörden unmöglich, den Zugang zu einem Video zu sperren oder einen Artikel zu entfernen. Dieses blockiergeschützte Portal heißt Samizdat und ist offenbar als Parallele zur vergangenen Praxis in der Sowjetunion gedacht. Allerdings ist eine solche virtuelle Öffentlichkeit stark fragmentiert.

Die Analyse erfolgte unter gewissen Einschränkungen, da es nicht möglich ist festzustellen, wie viele Nachrichtenartikel gelöscht wurden. Außerdem bezog sich die Untersuchung ausschließlich auf den offiziellen staatlichen Diskurs, die alternativen Kanäle und Medien wurden nicht berücksichtigt. Es ist jedoch wichtig, den offiziellen Diskurs und seine Veränderungen im Laufe der Zeit zu analysieren, da er die Themen erkennbar macht, die die Machthaber als bedrohlich ansehen, und auch die Gegebenheiten, die als bedroht dargestellt und versicherheitlicht werden.

Über die Autorin

Yulia Belinskaya, Dr. phil., ist Forschungsassistentin und Lektorin an der Universität Wien. Sie hat ihren ersten Master-Abschluss an der Technischen Universität St. Petersburg und ihren zweiten an der Universität Stockholm mit dem Schwerpunkt Medien und Kommunikation erhalten. Ihre Forschungsinteressen umfassen Fragen der Meinungsfreiheit, städtischer Kommunikationsräume, der öffentlichen Sphäre und der digitalen Medien. Kontakt: yulia.belinskaya@univie.ac.at

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Fussnoten

1 Hauptdirektion für den Schutz von Staatsgeheimnissen in der Presse

2 Es wurden Änderungen an den Bundesgesetzen »Über öffentliche Vereinigungen« (82-FZ) und »Über gemeinnützige Organisationen« (7-FZ) vorgenommen.

3 Vorgeschlagen werden Änderungen der föderalen Gesetze »Über Information, Informationstechnologien und Informationsschutz«, »Über die Medien«, »Über den Schutz von Kindern vor Informationen, die ihrer Gesundheit und Entwicklung schaden«, »Über Werbung« und »Über die staatliche Unterstützung der Kinematographie der Russischen Föderation«.

4 Änderungen des föderalen Gesetzes »Über Information, Informationstechnologien und Informationsschutz« (149-FZ)

5 Gesetzentwurf »Zur Änderung des föderalen Gesetzes« über die Terrorismusbekämpfung (Nr. 374-FZ vom 06.07.2016); und »Zur Änderung des Strafgesetzbuches der Russischen Föderation und der Strafprozessordnung der Russischen Föderation über die Einführung zusätzlicher Maßnahmen zur Terrorismusbekämpfung und Gewährleistung der öffentlichen Sicherheit« (Nr. 375-FZ vom 06.07.2015).

6 Dem Gesetzentwurf Nr. 464757-7 wurden Änderungsanträge hinzugefügt, die eine strafrechtliche Haftung für die Unterstützung bei der Umsetzung und Einführung antirussischer Sanktionen vorsehen.

7 Das Gesetz 304-FZ wurde geändert, um die Strafen für die Abholzung von Wäldern zu verschärfen.


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Zitationsvorschlag

Yulia Belinskaya: Wie das Internet in Russland unschädlich gemacht wird. Chronik der staatlichen »Versicherheitlichungs«-Maßnahmen. In: Journalistik. Zeitschrift für Journalismusforschung, 1, 2023, 6. Jg., S. 74-99. DOI: 10.1453/2569-152X-12023-12958-de

ISSN

2569-152X

DOI

https://doi.org/10.1453/2569-152X-12023-12958-de

Erste Online-Veröffentlichung

April 2023