Über kurz oder lang Editorial

Wie lang darf ein Editorial sein? Welche Textmenge ist zumutbar? Wann steigen Sie, liebe Leserin, lieber Leser, ein, wann aus?

Es scheint so, als hätten News Feed, »Häppchen-Journalismus« und die Ökonomie der Aufmerksamkeit gesiegt, doch kein Trend ohne Gegentrend: Auch umfangreiche Artikel finden ihr Publikum. In den USA gilt die New York Times als Vorreiterin des Longform-Journalism, d.h. erzählender und in der Online-Version multimodaler, mit Bild und Ton, Video und Podcast, angereicherter Stücke. In Deutschland setzen etwa die Süddeutsche Zeitung mit »Langstrecke« oder Zeit Online auf längere Beiträge. Die Journalistin und Bloggerin Sonja Kaute gibt in ihrem lesenswerten Blog einen Überblick mit zahlreichen nationalen und internationalen Beispielen für Longform-Journalismus.

Und auch die wissenschaftliche Beschäftigung mit Story- und Scrollytelling liefert neue Einsichten. So untersuchen Marco Braghieri, Tobias Blanke und Jonathan Gray longform.org, eine US-amerikanische Webseite, die journalistische Longform-Beiträge versammelt und kuratiert. Die Studie klärt zum einen die ökonomischen und technischen Bedingungen des digitalen Longtail-Modells, zum anderen gibt sie Aufschluss über die Vielfalt der Quellen, überwiegend Zeitungen und Zeitschriften, aus deren Archiven longform.org die Texte bezieht, schließlich über die Themen, zu denen lange Texte publiziert werden. Dass sich ein Angebot wie longform.org rechnet, wirft die Frage nach den Usern, den Langstrecken-Leser:innen, auf. Sie, ihre Nutzungsmotive und Rezeptionsweisen zu untersuchen, steht noch aus.

Das gleiche gilt für die Rezipient:innen des in der Journalistik kontinuierlich behandelten (Meier 2018; Hooffacker 2021) Konstruktiven Journalismus. Dafür ist die Datenlage zu den »Konstrukteuren« in den Chefredaktionen und den Autor:innen »lösungsorientierter« Beiträge besser. Marc-Christian Ollrog, Megan Neumann und Amelie Rook haben die Implementierung konstruktiver Berichterstattung bei der Verlagsgruppe Rhein Main begleitet und untersucht, wie sich neue Arbeitsweisen u.a. auf das journalistische Rollenverständnis auswirken. Die Ergebnisse ihrer Interviews und vergleichenden Inhaltsanalysen bilden die Basis von Handlungsempfehlungen für die Praxis.

Ebenfalls um die journalistische Praxis, mehr noch um Wahrheit und Wahrhaftigkeit in der medialen Berichterstattung geht es Hans Peter Bull. Er beklagt Kampagnenjournalismus im Fall von Christian Wulff und Olaf Scholz, Parteilichkeit sowie einen Mangel an Differenzierung. Bulls Pessimismus und seiner Kritik an der »Unwissenheit« der politisch Handelnden wie journalistisch Berichtenden setzen Oliver Günther und Tanjev Schultz – durchaus konstruktiv – »10 Thesen für einen starken Journalismus in der digitalen Medienwelt« entgegen. Sie zielen in eine Richtung: Mehr journalistische Autonomie. Sehr klar formulieren die Autoren des Debatten-Beitrags: »Der Journalismus darf sich nicht einer Markt- und Produktlogik unterwerfen.«

Gefährdet sind ein unabhängiger Journalismus und die Freiheit der Medien zudem durch die Konzentration politischer wie ökonomischer Macht in den Händen einiger, weniger. Das zeigt Valérie Robert am Beispiel Frankreich. Den Unternehmer Vincent Bolloré, der u.a. mehrheitlich am Mischkonzern Vivendi beteiligt ist, bezeichnet Valérie Robert als »Rupert Murdoch Frankreichs«. Wie der Multimilliardär Bernard Arnault übt Bolloré über Medienmacht politische Macht aus – was nicht ohne Wirkung auf den Ausgang der Präsidentschaftswahlen 2022 bleiben wird, für die Marine Le Pen bereits als Kandidatin bestätigt ist.

Bevor jedoch die Bürger:innen in Frankreich wählen gehen, steht in Deutschland am 26. September 2021 die Bundestagswahl an. Dass Angela Merkel nach 16 Jahren nicht mehr Kanzlerin sein wird, ist klar. Jedoch nicht, wer am Ende in welcher Koalition regieren wird. Für die journalistische Begleitung der heißen Phase des Wahlkampfes enthält das aktuelle Heft viele gute Hinweise – in den kürzeren wie auch in den längeren Beiträgen!

Martina Thiele, im Sommer 2021