Konstruktiven Journalismus lehren Wie lösungsorientierter Journalismus als Rollenmodell und Werkzeug zur Journalismusausbildung beitragen kann

von Gabriele Hooffacker

Abstract: Bringt das Konzept des »konstruktiven Journalismus« Neues für die Journalismuslehre? Der Essay zeigt, dass der Ansatz des konstruktiven Journalismus produktiv und anregend in der Aus- und Fortbildung eingesetzt werden kann. Er hilft bei der Selbstverständigung der Gesellschaft zu Konfliktthemen und entlastet als alternatives Berichterstattungsmuster Journalistinnen und Journalisten. Bei Ereignissen, die als krisenhaft dargestellt werden, kann der konstruktive Journalismus unterschiedliche Lösungswege aufzeigen.

Die Heilsversprechen des konstruktiven Journalismus sind groß und anspruchsvoll. So soll er kritisch sein, objektiv und balanciert, wichtige Themen behandeln, die die Gesellschaft beschäftigen, unvoreingenommen sein, Brücken bauen, zukunftsorientiert sein, nuanciert und kontextualisierend, faktenbasiert und nicht zuletzt Debatten zu Lösungen für gut bekannte Probleme anstoßen (vgl. Kramp/Weichert 2020: 22).

Aber soll das guter Journalismus nicht immer leisten? Oder andersherum gefragt: Kann man auf dieses neue Modell nicht ebenso gut verzichten? Das Konzept des konstruktiven, lösungsorientierten Journalismus soll den gesellschaftlichen Diskurs unterstützen, heißt es: Zu Nachrichten werde Hintergrund und Kontext vermittelt, Handlungsoptionen und Lösungswege würden recherchiert und aufgezeigt.

Um das Konzept im praktischen Einsatz zu erproben, hat die Autorin eine Handreichung für die praktische Journalismusausbildung entwickelt, die anhand von Video- und Textmaterialien strukturierte Lehreinheiten vorlegt (vgl. Hooffacker 2020). Zuvor wurden die Materialien in mehreren Kursen der journalistischen Aus- und Weiterbildung einerseits, auf einer Fachtagung mit Journalistinnen und Journalisten sowie Journalismus-Lehrenden andererseits erprobt. Auf diese Vorarbeiten stützt sich dieser Essay.

Alternatives Rollenmuster

Gerade in Krisenzeiten, seien es Migrationsbewegungen, ökologische Krisen oder eine Pandemie, kocht die Gerüchteküche über. Es ist die Zeit für Fake News, Richtigstellungen, verantwortungsvolle Berichterstattung. Wie können Journalistinnen und Journalisten mit diesem hohen Anspruch umgehen?

Eine junge Fernsehjournalistin hatte – das liegt einige Jahre zurück – eine kluge Bachelorarbeit über die Veränderung der Recherchemittel und deren Auswirkung auf den Fernsehjournalismus geschrieben. Als sie nach der Prüfung gefragt wurde, wo sie ihre berufliche Zukunft sehe, kam als Antwort ein erleichtertes »zum Glück in der Aufnahmeleitung«. Warum war sie erleichtert? Die Verantwortung im Journalismus sei sehr hoch, antwortete sie. Und sie, gerade mit dem Studium fertig geworden, könne doch den Menschen nicht sagen, wo es lang gehe. Sie habe doch noch viel zu wenig Einblick! Und diese Verantwortung könne sie nicht auf sich nehmen.

Der sich anschließende Diskurs wird hier nicht wiedergegeben. Doch für die Autorin (damals Prüferin) war das ein Schreckmoment: Wie kommen angehende Journalistinnen und Journalisten darauf, sie müssten alles besser wissen? Wer hat sie auf die Idee gebracht, sie seien so eine Art Oberlehrer der Nation?

Die Erwartungen des Publikums an Medien und ihre Redaktionen sind hoch, und die Kritik ist vielstimmig. Doch gegen eine solche Zumutung sollten sich angehende Journalistinnen und Journalisten verwahren: Sie müssen es nicht besser wissen. Sie sollten nur besser recherchieren. »Journalisten sind keine Pädagogen, ihr Beruf kann sogar als ein Kontrast zur Pädagogik begriffen werden«, schrieb Horst Pöttker einmal (Pöttker 2010: 115).

Hätte damals, als die Bachelorarbeit entstand, bereits eins der Grundlagenwerke zum konstruktiven Journalismus vorgelegen, oder wäre er Thema in den Lehrveranstaltungen gewesen, hätte der Irrtum der Absolventin vermieden werden können. Denn im konstruktiven, speziell dem lösungsorientierten Journalismus sollen die journalistischen Akteure keine Lösungen erfinden und anbieten. Sie sollen vielmehr recherchieren, welche Lösungsansätze es gibt und wie die nächsten Schritte aussehen können.

So beschreibt es Uwe Krüger im Journalistikon: »Konstruktiver Journalismus zeichnet sich dadurch aus, dass er nicht ereignisfixiert ist, sondern langfristige Prozesse in den Blick nimmt, wobei soziale Probleme nicht nur beschrieben, sondern auch Debatten über mögliche Lösungen angeschoben werden sollen – wobei es nicht Aufgabe der Journalisten ist, sich selbst Lösungen auszudenken. Konstruktiver Journalismus soll vielmehr unabhängig und kritisch recherchieren, welche Menschen und Organisationen an Auswegen eines Problems arbeiten« (Krüger 2019). Konstruktiver Journalismus liefert somit ein »alternatives Berichterstattungsmuster«, wie Klaus Meier schreibt (Meier 2018), und damit auch ein mögliches Rollenbild für den Journalismus.

Lösungsansätze recherchieren

Wo finde ich interessante Gesprächspartner*innen? Wie und wo kann ich recherchieren? Und müssen »konstruktive« Beiträge immer positiv ausgehen? Ob sich das Konzept des konstruktiven Journalismus auch in der journalistischen Weiterbildung einsetzen lässt, hat die Autorin an der Münchner Journalistenakademie erprobt.

Vorweg: Nein, dass der konstruktive Journalismus, insbesondere in der Spielart des lösungsorientierten Journalismus, die negativen Nachrichten ausblende und nur Positives bringe, ist ein Missverständnis. Es gibt einschlägige Newsportale wie Perspective daily, und auch die BBC bietet regelmäßig gute Nachrichten unter dem Motto »people fixing the world« an. Vom Konzept her ist jedoch etwas ganz anderes gemeint: Gerade in Krisensituationen kann der konstruktive Journalismus die Situation in einen länger währenden Prozess einordnen und mögliche Handlungsspielräume und Auswege aufzeigen (vgl. Hooffacker 2020: 2). Der eintägigen Lehreinheit an der Journalistenakademie lag das Kurzvideo »Gerüchteküche um Messerkontrollen in der Schule« zugrunde. Darin geht es um eine fiktive Geschichte zum Thema »Racial Profiling« an einer Schule, und wie sich die Schülerinnen und Schüler via Social Media dazu verhalten (vgl. HTWK 2020).

Der Film entstand wie die fünf weiteren Videos im Rahmen des Verbundprojekts MeKriF – Flucht als Krise zwischen 2017 und 2020. Ziel des Gesamtvorhabens war es erstens, herausfinden, wo und wie sich Jugendliche über das Thema Flucht informieren. Als Ansatzpunkt für die Medienbildung wurde zweitens das Konzept des konstruktiven Journalismus gewählt, um einen Weg aufzuzeigen, wie der gesellschaftliche Diskurs mit Erwachsenen ebenso wie mit Heranwachsenden weitergebracht werden kann (vgl. Brüggen u. a. 2021).

Das Video beginnt mit einem Zeitungsbericht mit der Überschrift »Rektorat lässt Schüler kontrollieren«. Kurz ist eine Messenger-Konversation zwischen den Schülerinnen und Schülern zu sehen, dann wird ein Internetblog mit der Überschrift »Terrorgefahr – Schüler müssen Messer abgeben« eingeblendet. Für den lokalen Fernsehsender erläutert der Rektor in einem Statement, wie die Präventionsstrategie der Schule aussieht: Schüler*innen sollen daran gehindert werden, Waffen mit in die Schule zu bringen. Deshalb sollen am Eingang des Schulgeländes Taschen- und Personenkontrollen durchgeführt werden, insbesondere bei denjenigen, die als »Gefährder« gelten. Anschließend sind diverse Social-Media-Posts als Reaktion auf dieses Statement zu sehen. Einige stimmen zu, einige hinterfragen bzw. kritisieren die Vorgehensweise vehement. Das Video schließt mit einer weiteren Zeitungsschlagzeile, einem Zitat des Rektors: »Maßnahme weiter alternativlos!« (Hooffacker 2020: 16).

Die Aufgabe für die Journalismusausbildung besteht – nach einer Analyse der dargestellten Medien und Darstellungsformen Tageszeitungsbericht, hyperlokales Blog, Fernseh-Statement – darin, Beiträge für eine Lokalzeitung (klassischer Journalismus) sowie für ein Boulevardmedium (Internet-Blog mit reißerischen Schlagzeilen) zu schreiben sowie einen Beitrag für den lokalen Fernsehsender zu konzipieren. (In einer Erweiterung können auch die Social-Media-Posts bei der Analyse sowie beim eigenen Texten einbezogen werden). Dabei soll das Konzept des lösungsorientierten Journalismus umgesetzt und in die praktische Redaktionsarbeit integriert werden.

In einer der vorgestellten Lösungen hat die »Lokaljournalistin« im Seminar das Thema mit dem Oberthema »Gewalt an Schulen« geframed. Als Recherchequellen schlägt sie einen Sprecher vom Lehrerverband vor, einen Pädagogik-Wissenschaftler, die Schulpsychologin und einen Kriminalpsychologen. Deren Empfehlungen: Gewaltprävention, Anti-Aggressionstraining, insgesamt: mehr Raum im schulischen Alltag fürs Thematisieren solcher Vorfälle. – Eine ganz andere Lösung hat der »Fernsehjournalist« gewählt: Sein Beitrag startet mit selbstbewussten Jugendlichen, die über die Maßnahme empört sind, befragt Jugendamt, Schulleitung und den Elternbeirat und endet mit einer fröhlichen solidarischen Aktion der Jugendlichen: Sie lassen jetzt alle ihre Taschen kontrollieren, damit niemand diskriminiert wird.

Wie haben die Teilnehmenden an der Journalismusfortbildung im Spätsommer 2020 den Workshop beurteilt? In ihren Bewertungen schrieben sie unter anderem: »Interessante Herangehensweise an die Textgestaltung. Bricht Themen auf und ermöglicht differenziertes Schreiben«, »Dass mein persönlicher Ansatz, viele Perspektiven aufzuzeigen, ein guter Ansatz ist 🙂 Und dass es wohl nicht die Regel ist, konstruktiv zu recherchieren und zu schreiben«, »dem Leser Orientierung geben, umfassend recherchieren, trotz Lösungsvorschlägen sachlich zu bleiben« oder »Andere Perspektiven einzunehmen und positive Aspekte zu betonen«. Niemand kannte das Konzept des konstruktiven Journalismus vorher, alle können sich vorstellen, das Konzept in ihr Portfolio aufzunehmen.

Noch weitgehend unbekannt

Zum Abschluss der Versuchsreihe wurden gestandene Journalistinnen und Journalisten sowie Journalismuslehrende an Journalistenschulen und Hochschulen zum Transferkongress des Projekts MeKriF eingeladen. Außer der HTWK waren das JFF – Institut für Medienpädagogik in Forschung und Praxis, die Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, die Journalistenakademie in München und das Zentrum für Ethik der Medien und der digitalen Gesellschaft (zem::dg) beteiligt.

In einem eigens konzipierten Workshop lernten die Journalismusexpertinnen und -experten die Ansätze des konstruktiven Journalismus kennen und konnten sie in einer kleinen praktischen Übung umsetzen. Pandemiebedingt fand die Transfertagung online als Videokonferenz statt.

Auch hier waren die Rückmeldungen positiv. Aus den Antworten auf die Frage »Was nehmen Sie für sich aus dem Workshop mit?«: »Praktische Anregungen für die Lehre« – »Es wurden viele wichtige Infos in aller Kürze dargestellt, aber dennoch sehr informativ. Ich würde gern mehr über dieses Thema erfahren, auch nachlesen!« – »viele hilfreiche Links und weitere Verweise« – »kreative Anregungen, danke!« Auch in der abschließenden Expertenrunde im Rahmen des Transferkongresses griffen die Teilnehmer*innen der Podiumsdiskussion immer wieder auf das Berichterstattungsmuster des konstruktiven Journalismus zurück.

Fazit

Aus den Erfahrungen mit den Lehrmaterialien steht für die Autorin fest: Die Möglichkeiten und Ansätze des konstruktiven Journalismus können durchaus noch bekannter werden, auch bei Expertinnen und Experten der Journalismuslehre.

In der Aus- und Weiterbildung von Journalistinnen und Journalisten bietet sich der konstruktive Journalismus zu Reflexionen über das Selbstbild und das Rollenverständnis im Journalismus an. Die vorgestellten Lehreinheiten setzen Kenntnisse der journalistischen Darstellungsformen und Medienspezifika voraus. Sie eignen sich damit auch zur Wiederholung und Vertiefung sowie als Einstieg in projektbezogene Arbeit.

Insgesamt hilft konstruktiver Journalismus bei der gesellschaftlichen Selbstverständigung zu Konfliktthemen. Als alternatives Berichterstattungsmuster entlastet er Journalistinnen und Journalisten und unterstützt sie beim Finden eines weiteren möglichen Rollenbildes. Er fördert das Recherchieren lösungsorientierter Positionen und kann als Leitlinie für das journalistische Handeln vor dem Hintergrund von Krisenphänomenen dienen, nicht nur, aber insbesondere bezogen auf ein Publikum Heranwachsender und junger Erwachsener.

Bei Ereignissen, die als krisenhaft dargestellt werden, kann der konstruktive Journalismus die möglichen nächsten Schritte skizzieren oder – indem er entsprechende Akteure zu Wort kommen lässt – sogar unterschiedliche Lösungswege aufzeigen. Damit lassen sich zumindest die Folgen abmildern, dass das Publikum mit den Bildern krisenhafter Ereignisse allein gelassen wird.

Im Idealfall unterstützt der konstruktive Journalismus die Auseinandersetzung mit krisenhaften Ereignissen und den Zusammenhängen, die dazu geführt haben. Er »fördert zivilgesellschaftliches Engagement, da die Krisensituationen nicht als ausweglos empfunden werden, sondern als veränderbar« (Hooffacker 2020: 6).

Über die Autorin

Gabriele Hooffacker (*1959) Dr. phil., lehrt als Professorin an der Fakultät Informatik und Medien der HTWK Leipzig. Beim Verbundprojekt MeKriF war sie verantwortlich für den Transfer in die journalistische Praxis. Sie ist Mitherausgeberin der Zeitschrift Journalistik. Kontakt: g.hooffacker@link-m.de

Literatur

Brüggen, Niels; Dohle, Marco; Kelm, Ole; Müller, Eric (Hrsg.) (2021, im Druck): Flucht als Krise? München: kopaed.

Hooffacker, Gabriele (2020): Journalistische Praxis: Konstruktiver Journalismus. Wiesbaden: Springer VS.

HTWK-Projektteam (2020): Gerüchteküche um Messerkontrollen in der Schule. In: MeKriF – Videoimpulse: https://mekrif.jff.de/veroeffentlichungen/details/video-impulse/ (1. Januar 2021)

Kramp, Leif; Weichert, Stephan (2020): Nachrichten mit Perspektive. Lösungsorientierter und konstruktiver Journalismus in Deutschland. Frankfurt/M.: Otto-Brenner-Stiftung.

Krüger, Uwe (19. August 2019): Konstruktiver Journalismus. In: Journalistikon: https://journalistikon.de/konstruktiver-journalismus/ (1. Januar 2021)

Meier, Klaus (2018): Wie wirkt Konstruktiver Journalismus? Ein neues Berichterstattungsmuster auf dem Prüfstand. Journalistik (1)1, S. 4-25.

Pöttker, Horst (2010): Der Beruf zur Öffentlichkeit. In: Publizistik (55)2, S. 107-128.

Die Videos wurden produziert unter Beteiligung von Prof. Gabriele Hooffacker, Prof. Ulrich Nikolaus, Nico Hattendorf, Tino Reiher, Sebastian Gomon und Studierenden der Fakultät Informatik und Medien an der Hochschule für Technik, Wirtschaft und Kultur (HTWK) Leipzig. Sie sind hier abzurufen: https://mekrif.jff.de/veroeffentlichungen/details/video-impulse/


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Zitationsvorschlag

Gabriele Hooffacker: Konstruktiven Journalismus lehren. Wie lösungsorientierter Journalismus als Rollenmodell und Werkzeug zur Journalismusausbildung beitragen kann. In: Journalistik, 1, 2021, 4. Jg., S. 58-63. DOI: 10.1453/2569-152X-12021-11255-de

ISSN

2569-152X

DOI

https://doi.org/10.1453/2569-152X-12021-11255-de

Erste Online-Veröffentlichung

März 2021