von Marc-Christian Ollrog, Megan Hanisch und Amelie Rook
Abstract: Konstruktiver beziehungsweise lösungsorientierter Journalismus ist en vogue. Neben eigens kreierten Formaten wie Perspective Daily adaptieren auch zunehmend klassische Medienunternehmen das Berichterstattungsmuster. Die Chefredaktionen der zur Verlagsgruppe Rhein Main (VRM) gehörenden Zeitungen riefen 2019 das »Projekt Zukunft« ins Leben, das sich an den Zielen und Methoden des »Konstruktiven Journalismus« orientieren sollte. Die Ostfalia Hochschule wurde mit einer Begleitstudie beauftragt, deren Ergebnisse hier vorgestellt werden. Wie sich die Einführung konstruktiver Berichterstattung auswirkt, wurde mit einer quantitativ-qualitativen Methodenkombination im Sinne eines triangulierten Verfahrens untersucht. Leitfadeninterviews sollten Erkenntnisse dazu liefern, wie sich neue Arbeitsweisen auf das journalistische Rollenverständnis auswirken. In einer zweiteiligen Inhaltsanalyse wurde die Berichterstattung in den Zeitungen der VRM untersucht und mit Artikeln von Perspective Daily und der Sächsischen Zeitung verglichen. Die Ergebnisse zeigen, dass Konstruktiver Journalismus erfolgreich in den redaktionellen Alltag der VRM-Zeitungen eingeführt werden konnte. Es wurden Auswirkungen auf das Selbstbild und die Arbeitsweisen festgestellt. Unterschiede zwischen den untersuchten Medien konnten ebenso ausgemacht werden. Der Beitrag schließt mit Implikationen für die journalistische Praxis.
Einleitung
Konstruktive Berichterstattung soll LeserInnen einen Mehrwert bieten. Redaktionen, die das Berichterstattungsmuster einführen, versprechen sich davon eine erhöhte Interaktion mit der Leserschaft, Ziel ist eine gestärkte Leser-Blatt-Bindung (vgl. Beiler/Krüger 2018: 178). Die VRM startete hierzu 2019 das »Projekt Zukunft«, das die strukturellen Herausforderungen in der Rhein-Main-Region anhand des Großthemas Mobilität aufgreift. Von April bis Dezember 2019 arbeiteten RedakteurInnen auf eigenen Wunsch im Projektteam mit, zusätzlich zu ihren üblichen Redaktionsaufgaben. Ziele des Forschungsprojekts waren:
- die Begleitung des Transformationsprozesses innerhalb der VRM
- die Ermittlung inhaltlicher wie strategischer Verbesserungspotenziale sowie
- die inhaltsanalytische Untersuchung des Projektoutputs.
Eine zweiteilige Inhaltsanalyse untersucht die Berichterstattung in den Zeitungen der VRM und vergleicht diese mit Artikeln von Perspective Daily und der Sächsischen Zeitung, die schon länger für Konstruktiven Journalismus stehen. Wie und mit welchen Ergebnissen wirkt sich die Einführung konstruktiver Berichterstattung auf die redaktionelle Praxis aus?
Zunächst soll kurz die VRM vorgestellt werden, anschließend geht es um die elementaren Bestandteile des Konstruktiven Journalismus sowie Forschungserkenntnisse zu seiner Wahrnehmung und Wirkung. Dann werden die Methoden erläutert und die Ergebnisse präsentiert. Sieben Leitfadeninterviews geben Aufschluss über den Verlauf des Projektes bei der VRM, Inhaltsanalysen weisen auf Unterschiede zwischen konstruktiver und klassischer Berichterstattung und auf Differenzen zwischen den Medien hin.
VRM – ein regionales Medienhaus im Fokus
Die VRM ist ein traditionsreiches, regional zwischen Rhein, Main und Neckar tätiges Medienunternehmen. Mit 27 Tageszeitungsausgaben in Hessen und in Rheinland-Pfalz deckt das Verbreitungsgebiet das westliche und südliche Rhein-Main-Gebiet ab. Hinzu kommen Wetzlar und Gießen in Mittelhessen. Durch Zukäufe in den vergangenen zehn Jahren (u.a. Darmstädter Echo 2015, Wetzlardruck 2018) zählt die VRM in dem von sinkenden Auflagen, rückläufigen Werbeumsätzen und zunehmend auch Insolvenzen geprägten Zeitungsmarkt mit einer Gesamtauflage von rund 290.000 Exemplaren täglich (davon ca. 30.000 ePaper) zu den reichweitenstarken regionalen Verlagsgruppen (vgl. IVW 2020) – wenngleich nicht zu den zehn größten Zeitungsverlagen in Deutschland (vgl. Röper 2020).
Unter dem VRM-Dach erscheinen die Tageszeitungen: Allgemeine Zeitung, Wiesbadener Kurier, Darmstädter Echo, Gießener Anzeiger, Wetzlarer Neue Zeitung, Wormser Zeitung und Main-Spitze sowie Anzeigenblätter, Heimatzeitungen und digitale Angebote (vgl. VRM o. J.). Mit ihnen erreicht die VRM täglich 1,09 Millionen LeserInnen (vgl. ma 2019). Insgesamt arbeiten 1.750 MitarbeiterInnen an 35 Standorten, davon 483 am Stammsitz in Mainz.
Tabelle 1
Übersicht über verkaufte Auflagen der VRM-Tageszeitungen im 2. Quartal 2020
Titel der Tageszeitungen | Verkauf | Davon ePaper |
Allgemeine Zeitung und Wiesbadener Kurier | 129,156 | 14,755 |
Darmstädter Echo | 36,890 | 3,575 |
Gießener Anzeiger | 21,200 | 1,825 |
Wetzlarer Neue Zeitung | 19,424 | 1,063 |
Wormser Zeitung | 12,824 | 581 |
Main-Spitze | 9,618 | 939 |
Quelle: IVW
Im Jahr 2019 hat sich die VRM den Konstruktiven Journalismus auf die Fahne geschrieben und das »Projekt Zukunft« gestartet, das die strukturellen Herausforderungen der Rhein-Main-Region aufgreifen sollte. Zunächst erdacht als Verlagsinitiative mit dem Ziel, neue Geschäftsmodelle in die Verlagsgruppe zu implementieren, wurde »Projekt Zukunft« nach internen Diskussionen um Machbarkeit und Projektziele schließlich allein in der Redaktion verortet. Der Projektzeitraum lief von April bis Dezember 2019. Thematisch wurden vor allem Fragen im Bereich Mobilität und Verkehr aufgegriffen, die den Ballungsraum Rhein-Main besonders bewegen. Der Auftakt widmete sich dem ländlichen Raum und seinen Verkehrsträgern. Weitere Themen im Projekt waren Schnellradwege als neue Verbindungsachsen im Verbreitungsgebiet, der ökologische Fußabdruck der eigenen Mobilität im Selbstversuch und der Test von Mobilitäts-Apps, unter anderem mit der bestehenden RMV-App. Zuletzt wurden Zukunftsthemen wie autonomes Fahren, Lieferdrohnen und Flugtaxis sowie neue Antriebstechnologien im ÖPNV behandelt.
Zentrale Merkmale des Konstruktiven Journalismus
Die seitens der Redaktion an das Projekt geknüpften Ziele beziehen sich auf eine gesteigerte Leser-Blatt-Bindung und entsprechen insofern den Zielen des klassischen Redaktionsmarketings (vgl. auch Beiler/Krüger 2018: 178; Krüger 2016: 98-101). Mit den Zielen des Konstruktiven Journalismus geht eine Zuwendung zu anderen als den klassischen Nachrichtenfaktoren einher (vgl. Kramp/Weichert 2020: 34). Demnach stellt sich die Frage, inwiefern sich die journalistischen Routinen verändern und welche Bedeutung dies für den Arbeitsalltag von JournalistInnen mit sich bringt. Wie und inwieweit kann demnach das noch relativ neue Konzept des Konstruktiven Journalismus in die klassische Berichterstattung und in etablierte Arbeitsprozesse integriert werden, ohne dabei einen Mehraufwand zu produzieren? Auch liegt die Vermutung nahe, dass eine veränderte Herangehensweise an Themen und Arbeit mit anderen ExpertInnen Einfluss auf das Selbstbild der JournalistInnen nehmen könnte. Über das Wesen und die Ziele des Konstruktiven Journalismus hat sich in den vergangenen Jahren ein Konsens herausgebildet. Wesentliche Punkte werden in Tabelle 2 kurz dargelegt.
Konstruktiver Journalismus in der Praxis
Der dänische Journalist Ulrik Haagerup hat den Begriff »Konstruktiver Journalismus« als neues »Berichterstattungsmuster« (Weischenberg 1995: 111-119) in die Debatte eingeführt, an dem sich JournalistInnen – teils bewusst, teils unbewusst orientieren (ebd.). Konstruktiver Journalismus ergänzt und bereichert traditionelle Formate der Berichterstattung. Er soll dem Negativitätsbias in der Berichterstattung, der die Reputation des Journalismus schwächt (Fletcher/Park 2017), entgegensteuern, indem er neue Kriterien festlegt, welche Berichte oder Themen Nachrichtenwert haben. Nach dem Verständnis der vorliegenden Arbeit geht Konstruktiver Journalismus sogar noch einen Schritt weiter: Er zielt darauf ab, ein »ganzheitlicheres« Weltbild zu vermitteln und mit der neuen Art von Berichterstattung – in Form von veränderten journalistischen Strukturen und Regeln – sein Publikum an sozialen Prozessen und Themen stärker teilhaben zu lassen.
Tabelle 2
Zusammenfassung der Merkmale des
Konstruktiven Journalismus
Merkmale des Konstruktiven Journalismus | Beschreibung |
Lösungs- und zukunftsorientiert |
|
Kontext- statt Ereignisberichterstattung |
|
»Co-creation« |
|
Konstruktiver Journalismus hat in der Praxis in den vergangenen zehn Jahren an Bedeutung gewonnen, national und international (vgl. Seng 2018: 126). Inmitten der andauernden wirtschaftlichen Krise und einer neu strukturierten Öffentlichkeit wird er gar zum Heilsbringer für den Journalismus erhoben und als Ausweg aus der Medienkrise gepriesen (vgl. Hermans/Drok 2018). Dies erscheint schon prima vista überzogen. Jedenfalls erfordert das konstruktive Berichterstattungsmuster Zeit, Kompetenz und genug Platz für Hintergrundberichterstattung – Voraussetzungen und Strukturen, die ihrerseits zunächst geschaffen und/oder jedenfalls trainiert werden müssen. Daher setzen bisher wenige Medienhäuser die Ideen des Konstruktiven Journalismus konsequent um (Seng 2018: 127). Jedoch ist das Konzept zweifellos in der deutschen Medienlandschaft angekommen (vgl. Meier 2018: 5-6). Prominente aktuelle Beispiele kommen vom ZDF mit Plan B, NDR Info mit Perspektiven und der Sächsischen Zeitung mit »Gut zu wissen«, international unter anderem von dem 2016 gegründeten crowd-finanzierten Webmagazin Perspective Daily (heute mehr als 13.000 Abonnenten).
Konstruktiver Journalismus in der Forschung
Entsprechend dem kleinen Angebot konstruktiver Formate und Projekte befindet sich auch die Forschung dazu im deutschsprachigen Raum noch in ihren Anfängen. Dabei wird immer wieder der gesellschaftliche Mehrwert des Konzepts diskutiert (vgl. Beiler/Krüger 2018; Krüger 2017; Meier 2018; Pranz/Sauer 2017), Inhaltsanalysen fehlen. Zuletzt interviewten Kramp und Weichert (2020) JournalistInnen zum Konstruktiven Journalismus in Deutschland – unter anderem zu ihren Erwartungen, zu redaktionellen Ansätzen und Auswirkungen auf Arbeitsprozesse und Distributionsformen. Sowohl im deutschsprachigen Raum als auch international gibt es bisher vor allem theoretisch-konzeptionelle Auseinandersetzungen (vgl. u. a. Aitamurto/Varma 2018; Beiler/Krüger 2018; Bro 2018; Hermans/Drok 2018; McIntyre/Gyldensted 2018; Pranz/Sauer 2017). Darüber hinaus existieren einige wenige experimentelle Studien zur Publikumswirkung (Baden/McIntyre/Homberg 2019; Curry/Hammonds 2014; McIntyre 2015; Meier 2018). Hermans und Gyldensted (2019) führten in den Niederlanden erstmals eine Online-Befragung von 3263 Personen zur Wertschätzung von konstruktiven Elementen in den Nachrichten durch. Curry und Hammonds (2014) finden Hinweise auf ein gesteigertes Leserinteresse und einen Einfluss auf die Lesermeinung, mithin eine erhöhte Leserbindung (ebd.). Im deutschen Sprachraum hat Meier (2018) LeserInnen in einem experimentellen 2×2-Design jeweils eine Nachricht und eine Reportage in konstruktiver und nicht-konstruktiver Formulierung vorgelegt. Der Befund »überrascht« (ebd.: 14): Die Unterschiede der Wahrnehmung klassischer und konstruktiver Berichterstattung fallen gering aus. Das erwartete Ergebnis, dass das Publikum Lösungsvorschläge erwartet, lässt sich experimentell nicht bestätigen. Im Gegenteil werden klassische Nachrichten mindestens dann besser bewertet, wenn sie »runder« formuliert sind als konstruktive Nachrichten (ebd.). Es kann daher nicht generell von einer Präferenz für Konstruktiven Journalismus ausgegangen werden.
Bisher sind wenig belastbare Aussagen zu Produktionsbedingungen, Aussagen und Folgen von Konstruktivem Journalismus möglich. Es fehlt an empirischer Forschung zur redaktionellen Praxis, etwa mithilfe von Leitfadengesprächen mit Redaktionen oder einzelnen JournalistInnen sowie inhaltsanalytischen Bestandsaufnahmen, die Auskunft über die tatsächliche Konstruktivität der Berichterstattung geben können. Auch eine verstärkte RezipientInnenforschung zur Wahrnehmung und Wirkung von Konstruktivem Journalismus ist notwendig, zum Beispiel mittels Fokusgruppengesprächen, Gruppendiskussionen oder auch Leitfadengesprächen. Nur so können die Umsetzung konstruktiver Berichterstattung und ihre Herausforderungen verstanden sowie leserrelevante Themen aufgeschlüsselt werden.
Forschungsfragen und Hypothesen
Vor dem Hintergrund des geschilderten Projektes der VRM lautet die übergeordnete Forschungsfrage:
- Wie und mit welchen Ergebnissen gelingt es der VRM, das »Projekt Zukunft« in der Organisation zu etablieren und konstruktive Berichterstattung in die Arbeitsroutinen einzuführen?
Die erste Forschungsfrage zielt auf den Transformationsprozess innerhalb der Redaktion ab und fragt nach dessen Erfolg.
- FF1: Wie und mit welchen Ergebnissen wird »Projekt Zukunft« innerhalb der VRM realisiert?
Mittels quantitativer und qualitativer Inhaltsanalyse wird untersucht, inwiefern sich explizit konstruktiv deklarierte Berichterstattung der VRM von Konkurrenzprodukten sowie von eigenen klassischen Artikeln unterscheidet.
- FF2: Gelingt es den JournalistInnen, Konstruktiven Journalismus in ihrer Berichterstattung umzusetzen, und inwieweit unterscheidet sich dieser von der klassischen Berichterstattung?
Auf Basis der bisherigen Forschung und vor dem Hintergrund der Projektumstände bei der VRM wurden drei weitere Hypothesen entwickelt. Es wird angenommen, dass die VRM konstruktive Berichterstattung erfolgreich etabliert und konstruktive Artikel veröffentlicht. Zudem wird davon ausgegangen, dass die VRM-Artikel mindestens so konstruktiv sind wie die Produkte der Sächsischen Zeitung und Perspective Daily. Die dritte Hypothese zielt darauf ab, festzustellen, inwiefern als konstruktiv deklarierte Beiträge tatsächlich konstruktiver und lösungsorientierter sind als klassische.
- H1: Die Beiträge im Rahmen von »Projekt Zukunft« weisen eine konstruktive Berichterstattung auf.
- H2: Die Beiträge im Rahmen von »Projekt Zukunft« unterscheiden sich hinsichtlich ihrer Konstruktivität nicht von Artikeln der Sächsischen Zeitung und Perspective Daily.
- H3: Die Beiträge im Rahmen von »Projekt Zukunft« weisen häufiger konstruktive und lösungsorientierte Elemente auf als klassische Artikel.
Methode
Die Wahl fiel auf eine Verschränkung quantitativer und qualitativer Methoden. Diese teilen sich auf in Leitfadeninterviews mit verantwortlichen oder in exponierter Weise in das Projekt involvierten RedakteurInnen der VRM sowie in eine quantitative und qualitative Inhaltsanalyse. Die Leitfadengespräche mit der zuständigen Redaktion geben Aufschluss über Faktoren wie internes »Change Management«, veränderte Arbeitsabläufe und über die Veränderung der Rollenbilder oder des journalistischen Selbstverständnisses. Hierbei konnten Erkenntnisse über die Projekteinführung und -umsetzung gesammelt werden. Mittels der quantitativen Inhaltsanalyse wurde die Konstruktivität der Beiträge bestimmt und mit Perspective Daily und der Sächsischen Zeitung verglichen. Mithilfe qualitativer Analyse wurde abschließend ein Vergleich klassischer Zeitungsartikel zu verwandten beziehungsweise vergleichbaren Mobilitätsthemen der VRM mit gezielt konstruktiven Artikeln durchgeführt.
Leitfadeninterviews
Fünf Leitfadeninterviews mit den verantwortlichen Chefredakteuren (Projektmanagement), am Projekt beteiligten Redakteuren verschiedener VRM-Zeitungen und einem Volontär wurden in der Zeit vom 28. bis 30. August 2019 geführt.[1] Interviewt wurden die Chefredakteure der Wetzlarer Neuen Zeitung, des Darmstädter Echos und des Wiesbadener Kuriers. Darüber hinaus nahmen ein Mantelreporter (Wirtschaft, Verkehr) des Wiesbadener Kuriers, der Leiter des Newspools sowie ein Volontär in Mainz teil. Zwei weitere Interviews mit dem Chefredakteur des Wiesbadener Kuriers und einem Redakteur wurden im September 2019 telefonisch nachgeholt.
Qualitative und quantitative Inhaltsanalyse
Die Inhaltsanalysen wurden im Oktober 2019 während des laufenden Projekts durchgeführt, sie umfassen die bis dato 17 erschienenen VRM-Artikel vom 2. April bis 12. Oktober 2019. Darüber hinaus wurden 16 Artikel von Perspective Daily und 17 Artikel der Sächsischen Zeitung codiert, sodass eine Stichprobe von 50 Artikeln entstand. Perspective Daily und die Sächsische Zeitung wurden als Vergleichsobjekte gewählt, da diese bereits konstruktiv berichtet haben beziehungsweise ausschließlich nach den Prinzipien des Konstruktiven Journalismus arbeiten. Zur Erhebung der Daten und zur Beantwortung der Forschungsfragen wurde ein Codebuch aus 32 Variablen erstellt. Die Reliabilitätsanalyse ergab für die Interkoderreliabilität gute bis sehr gute Werte für die verschiedenen Kategorien (Krippendorffs Alpha für formale Kategorien bei 1.0 und für inhaltliche Kategorien bei 0.86). Formale Kriterien umfassen Medium, Erscheinungsdatum, die Länge des Artikels, Überschrift des Beitrags, Darstellungsform und Möglichkeit der Interaktion mittels einer Kommentarfunktion oder einer anderen Kontaktmöglichkeit zum Autor oder zur Autorin. Inhaltliche Kategorien umfassen die Tonalität der Titel und Teaser sowie des gesamten Beitrags, das Themenspektrum, Nachrichtenfaktoren sowie die Qualität der Beiträge, gemessen anhand der Konstruktivität der Berichterstattung. Variablen, die zum Konstruktivitätsindex zählen sind: das Vorhandensein mehrerer Perspektiven und mindestens eines Lösungsansatzes, kritische Berichterstattung, die Thematisierung der siebten W-Frage, Quellentransparenz, Anregungen für weiterführende Quellen/Literatur, Angabe von Hintergrundinformationen, Erklärung komplizierter Sachverhalte, einseitige beziehungsweise multiperspektivische Beschreibung von Konflikten und Problemen und Zuspitzung/Dramatisierung.
Konstruktiver Journalismus bei der VRM: Ergebnisse der Leitfadeninterviews
Projektmanagement/Change Management
In der Wahrnehmung der Interviewten ist das »Projekt Zukunft« erfolgreich gestartet, es funktioniere. Alle Interviewpartner sind von dem Projekt überzeugt und bewerten seinen Stellenwert als hoch oder sehr hoch. »Hausintern ist das Projekt sehr wichtig – für die gesamte Verlagsgruppe. Rheinübergreifend zu arbeiten, gefällt mir ganz gut« (IV-1).[2] Das Projekt wurde unternehmensweit medienübergreifend vorgestellt – aus Sicht der Projektleitung wurde klar und auf unterschiedlichen internen Kanälen, etwa per Mail oder über das Intranet, mehrmals dazu kommuniziert. Auch über die wissenschaftliche Begleitung wurde informiert. Das Engagement und die Beteiligung der Redakteure allgemein fiel jedoch begrenzt aus. Da es sich um ein aus der Redaktionsleitung in die Organisation getragenes – insofern um ein Top-Down geführtes – Projekt handelt, stößt es nicht bei allen RedakteurInnen auf Anklang. »Zunächst wollte der Verlag dezidiert mit dem Projekt Geld verdienen und das Projekt zum Vehikel für wirtschaftliche Interessen machen. Das ist nicht unsere Aufgabe« (IV-3). Mithin zeigt sich keine mehrheitliche, das heißt medienübergreifende Beteiligung. »Neue Projekte werden oft als Moden wahrgenommen, die wieder vergehen und bei denen es sich nicht lohnt mitzugehen« (IV-1). Ein weiteres Problem liege in der Unübersichtlichkeit aufgrund mehrerer teils parallellaufender Projekte. Des Weiteren wird vermutet, dass die Mehrheit der RedakteurInnen einen Mehraufwand oder Mehrarbeit befürchteten und daher von einer Mitarbeit Abstand nahmen. In der Konsequenz sprach die Projektleitung potentielle RedakteurInnen proaktiv an und rekrutierte diese für das Projekt. Bei Interesse wurden sie in die Arbeitsgemeinschaft zur Themenplanung involviert, entsprechend waren diese Redakteure besser informiert als die Nicht-Beteiligten. Nicht beteiligt waren die Lokalredaktionen, da die ausgewählten Themen unter dem Dachthema Mobilität für das gesamte Verbreitungsgebiet der VRM funktionieren sollten. Diese Entscheidung bemängelten manche Interviewpartner, da so keine vollständige Integration in die Gesamtredaktion möglich war. Zwar wurde die Themenauswahl vereinzelt gelobt, gleichzeitig wurde aber der Wunsch geäußert, Themen seitens der Projektredakteure selbst zu identifizieren, einzubringen und zu recherchieren. Heterogene, größere RedakteurInnengruppen seien notwendig für die Themenentwicklung, die zukünftig auch nicht mehr vorgegeben werden sollen. Zuletzt wurde die kanalspezifische Umsetzung bewertet. »Insgesamt ist das Projekt zu sehr in Print gedacht« (IV-2), und zu wenig digital. Digitale Möglichkeiten des Verlags werden noch nicht vollständig ausgeschöpft. Auch die Social-Media-Integration hat Verbesserungspotenzial und soll gestärkt werden, damit die Online-Zugriffszahlen erhöht werden. Langfristig soll sich das neue Berichterstattungsmuster durch eine erhöhte Leser-Blattbindung positiv auswirken.
Analyse des Rollen- und Selbstverständnisses
Konstruktives Handeln erweitertet das Rollenverständnis der Befragten. »Das traditionelle Rollenverständnis vom kritischen Berichterstatter, der sagt, was ist, und Konflikte thematisiert und erklärt« (IV-2) würde nicht abgelöst, vielmehr ergänze der konstruktive Denkansatz und die damit zu berücksichtigende NutzerInnenperspektive das Selbstverständnis um die Komponente »Lösungsanbieter« (IV-2). »Die Kontrollfunktion bleibt wichtig und diese lässt sich im Konstruktiven Journalismus gut umsetzen« (IV-2). Ein Interviewter tut sich schwer mit dem Begriff ›lösungsorientiert‹: »Lösungsorientiert zu sein, finde ich auch vermessen: Die VRM kann keine Probleme lösen. Wir erfinden das Rad nicht neu« (IV-7). Insgesamt sind sich alle Interviewpartner darüber einig, dass der Konstruktive Journalismus in den Arbeitsalltag integriert und originärer Bestandteil der journalistischen Arbeit sein sollte. Ein neuer Denkprozess, Lösungen zu erarbeiten undQuellen zu finden, die Lösungen für bestimmte Themen kennen, wird von allen als positiv, bereichernd sowie spannend bewertet – wenn auch nicht von Beginn an. »Am Anfang habe ich mich sehr schwer getan mit dem Begriff. Ich sehe mich als sehr kritischen Journalisten. Unbedingt konstruktiv zu sein sehe ich nicht in meiner Rolle« (IV-3). Dabei wird die Nähe zum Leser oder zur Leserin und zur Lebensrealität oft betont. Alles in allem wird Konstruktiver Journalismus als Perspektivwechsel verstanden.
Arbeitsprozesse, Arbeitsaufwand, Arbeitsbereicherung
Nicht eindeutig fällt die Beurteilung der Redakteure und Chefredakteure hinsichtlich des Mehraufwands für Konstruktiven Journalismus (und das Projekt) aus. Die Organisation und das Projektmanagement bedeuteten einen Mehraufwand für die Redakteure. Ziel war es jedoch, keinen Mehraufwand bei der Umsetzung zu erzeugen. Einzelne Redakteure nehmen zwar einen besonderen Aufwand wahr, insbesondere bei der Recherche und der Planung eines konstruktiven Beitrags, sprechen aber insgesamt nicht von einem erlebten erheblichen Mehraufwand. »Das sind ja große Stücke, man denkt mehr nach, erschließt neue Experten. Aufwändiger ist es eigentlich nicht« (IV-3). Vereinzelt wird der Mehraufwand abhängig vom Thema bewertet und inwiefern dieses digital und für Social Media aufbereitet wird, womit weitere Arbeitsschritte einhergehen. Obwohl im Gegenzug zur Arbeit an einem konstruktiven Beitrag Arbeit an anderer Stelle wegfiel, nahm ein Teil der Befragten einen Mehraufwand aufgrund der Veränderung und einer neuen Herangehensweise wahr. »Das Projekt hat einen Denkprozess ausgelöst. Das finde ich nicht verkehrt« (IV-4).
Hinsichtlich notwendiger Weiterbildungen sind sich die Befragten uneinig. Ein Teil der Befragten glaubt eher nicht, dass es für den Konstruktiven Journalismus neuer Rechercheschemata und -schulungen bedarf. Andere meinen, Konstruktiver Journalismus erfordere zusätzliches Training und eine grundsätzliche Auseinandersetzung und Diskussion, sodass etwa die Abgrenzung vom Positivjournalismus deutlich werde. Praktische Workshops sowohl bereits in der Ausbildung als auch für alle anderen RedakteurInnen für die Einarbeitung und Unterstützung werden daher seitens der beteiligten Chefredaktionen vereinzelnd als notwendig gesehen. Neben dem veränderten Recherche- und Denkansatz ist auch die Arbeit mit unterschiedlichen Schnittstellen neu, etwa mit der Digitalredaktion. So fehle es dem einen oder anderen Redakteur an »planerischem Mitdenken« für die Zusammenarbeit mit der Digitalredaktion. Das Grundproblem beziehungsweise die große Herausforderung liege in dem Aufbrechen alter Denkmuster und dem Schaffen von Bewusstsein für neue Herangehensweisen, crossmediales und digitales Denken, um zukunftsfähig zu bleiben und zukünftig ein größeres Publikum zu erreichen. Wünschenswert seien neue Strukturen und Planungswerkzeuge, die Fragen des Konstruktiven Journalismus in den Redaktionsalltag integrieren. »Der Konstruktive Journalismus ist kein netter Zusatz, sondern der Ansatz wird und muss originärer Bestandteil der journalistischen Arbeit sein« (IV-6).
Leserreaktionen
Wie dargelegt ermöglichte die gewählte Methode keine direkte Messung der Leserreaktion. Diese wurde indirekt über die Selbstauskünfte der Interviewten erfasst. Von den nur punktuellen Leserreaktionen zeigte sich die Redaktion bei der VRM enttäuscht – hierin waren sich die Interviewten einig. »Wir wollten die Leser beteiligen am Projekt. Das ging in die Hose. Keiner hat sich um die Sammelmail-Adresse gekümmert. Ich kann das nicht leisten« (IV-7). Auch der Lesewert[3] der konstruktiven Beiträge fiel nicht unbedingt höher aus als bei klassischem Journalismus. Die Redaktion schlussfolgerte daraus, dass das Projekt noch nicht vollständig bis zur Leserschaft durchgedrungen sei. Das Projekt hätte den Lesern und Leserinnen noch stärker und wiederholt erklärt werden sollen. »Es dauert, bis Leser merken, dass in den konstruktiven Artikeln eine andere Qualität drinsteckt« (IV-1). Insgesamt hatte sich die Redaktion vermehrte Leserreaktionen und Zugriffszahlen erhofft, allerdings wurden nicht mehr Leserreaktionen als üblich verzeichnet. »Die Leserreaktionen fand ich eher enttäuschend. Da hatte ich mehr erwartet« (IV-5). Die Chefredaktion zeigt sich jedoch optimistisch: »Das Involvement der Leser wird wachsen« (IV-4). Vereinzelte Leserreaktionen zeigen, dass die behandelten Themen auf Interesse stoßen und Alltagrelevanz besitzen. So kommentierten LeserInnen beispielsweise weitere eigene Handlungs- und Lösungsvorschläge zum jeweiligen Thema.
Zwischenfazit: »Konstruktiver Journalismus ist nicht an ein Projekt gebunden«
»Konstruktiver Journalismus kann Probleme benennen, analysieren, Leute zusammenbringen. Aber wir können nicht die Verkehrsprobleme des Rhein-Main-Gebiets lösen, über die seit 15 Jahren geschrieben wird. Das wäre vermessen« (IV-3). Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass sich die Befragten einig sind, dass das neue Berichterstattungsmuster wichtig, aber erklärungsbedürftig ist. Nur so lasse sich die Bereitschaft, etwas Neues auszuprobieren, stärken. Zudem sollte ein solches Projekt nicht nur Top-Down praktiziert werden.
Ziel sollte es sein, einen neuen, originellen Zugang zu Themen und deren kreativer Aufbereitung über alle Redaktionen hinweg zu gestalten. Je nach Redaktionsstruktur bedürfe es anderer Strukturen und Planungswerkzeuge sowie neuer Formate für die permanente Etablierung. Die Ergebnisse der vorliegenden Studie bestätigen damit auch die Ergebnisse von Seng (2018): Die neue Form der Berichterstattung erfordert Zeit, Kompetenz und genug Platz für Hintergrundberichterstattung. Solche Strukturen müssen zunächst geschaffen oder professionalisiert werden. Die Interviews verdeutlichen: Um im redaktionellen Alltag aus gewohnten Routinen auszubrechen und neuartige Denkansätze zu verfolgen – etwa eine Einführung und Etablierung einer neuen Berichterstattungsform – braucht es ein gesteuertes Projekt. Es würde sich nichts automatisch verändern. Konstruktiver Journalismus sei zudem ein andauernder Lernprozess.
Dem Urteil der Befragten nach ist Folgendes gelungen:
- Management, Fahrplan eingehalten
- Erläuterung des »Projekts Zukunft«
- Themenauswahl
- Beteiligte Redakteure mit hohem Involvement
- Neue Arbeitsweisen und Recherchetechniken ausprobiert
- Konstruktiver Journalismus als Perspektivwechsel
- NutzerInnenperspektive bzw. -erwartung stärker fokussiert
- Alltagsnahe Berichterstattung
- Insgesamt kein Mehraufwand produziert
- Vereinzelte Leserreaktionen ausgelöst
Kritik wurde geäußert an:
- Nicht-Beteiligung der Lokalredaktion
- Top-Down Themensetzung
- Fokus auf Print, mangelnder Social-Media-Integration
- Technischen Problemen (Newspool)
- Zu geringem Fokus auf das Bewusstsein bei LeserInnen, wenig Leserreaktionen
Die folgende Tabelle ordnet nochmals prägnante Zitate aus den Leitfadeninterviews nach ihrer Valenz an, die wiedergeben, was bei der VRM gleichgeblieben ist, was sich verändert hat und welche Perspektiven gesehen werden.
Tabelle 3
Zusammenfassende Eindrücke zum »Projekt Zukunft« aus den Leitfadeninterviews
Beständigkeit und Wandel | Positiv | Neutral | Negativ/kritisch |
Beständigkeit | »Die Kontrollfunktion bleibt wichtig und diese lässt sich im Konstruktiven Journalismus gut umsetzen.«
»Das sind ja große Stücke, man denkt mehr nach, erschließt neue Experten. Aufwändiger ist es eigentlich nicht.« |
»Lösungsorientiert zu sein, finde ich auch vermessen: Die VRM kann keine Probleme lösen. Wir erfinden das Rad nicht neu.« | »Am Anfang habe ich mich sehr schwer getan mit dem Begriff. Ich sehe mich als sehr kritischen Journalisten. Unbedingt konstruktiv zu sein sehe ich nicht in meiner Rolle.«
»Das Projekt ist zu sehr in Print gedacht.« »Die Leserreaktionen fand ich eher enttäuschend. Da hatte ich mehr erwartet.« |
Wandel | »Der konstruktive Denkansatz und die damit zu berücksichtigende Nutzerperspektive ergänzt das Selbstverständnis um die Komponente »Lösungsanbieter.« | »Das Projekt hat einen Denkprozess ausgelöst. Das finde ich nicht verkehrt.« | »Wir wollten die Leser beteiligen am Projekt. Das ging in die Hose. Keiner hat sich um die Sammelmail-Adresse gekümmert. Ich kann das nicht leisten.« |
Perspektive | »Der Konstruktive Journalismus ist kein netter Zusatz, sondern der Ansatz wird und muss originärer Bestandteil der journalistischen Arbeit sein.« | »Wir wollten die Leser beteiligen am Projekt. Das ging in die Hose. Keiner hat sich um die Sammelmail-Adresse gekümmert. Ich kann das nicht leisten.« | »Es braucht mehr planerisches Mitdenken.«
»Mir fehlt noch die Kraft in den Texten.« |
Konstruktive Berichterstattung bei der VRM:
Ergebnisse der Inhaltsanalysen
Quantitative Inhaltsanalyse
Die quantitative Inhaltsanalyse der innerhalb von »Projekt Zukunft« produzierten Beiträge zeigt, dass diese überwiegend die Kriterien des Konstruktiven Journalismus erfüllen (H1). Zur Überprüfung der ersten Hypothese wurde ein Index berechnet, der angibt, in welchem Ausmaß in den Artikeln konstruktiv berichtet wird. Die gewählten Merkmale für den Konstruktivitätsindex bilden die Konstruktivität angemessen ab (Cronbachs α = 0.743 – akzeptabel). Die 17 untersuchten Artikel der VRM-Zeitungen weisen im Durchschnitt eine konstruktive Berichterstattung mit einem Mittelwert von 2,52 auf. Welche Elemente konstruktiver Berichterstattung dabei besonders gut erfüllt worden sind, zeigt Tabelle 4.
Tabelle 4
Konstruktivitäts-Merkmale (H1)
Konstruktivitäts-Merkmale | Mittelwert |
Mehrere Perpektiven | 2.70 |
Lösungsansatz | 2.42 |
Kritische Berichterstattung | 2.78 |
Siebte W-Frage | 2.44 |
Quellentransparenz | 2.84 |
Anregungen für weiterführende Quellen | 1.72 |
Hintergrundinformationen | 2.68 |
Erklärt komplizierte Sachverhalte | 1.58 |
Fokus nicht ausschließlich auf Konflikte/Probleme | 2.84 |
Keine reine Zuspitzung/Dramatisierung | 2.98 |
Mittelwerte von 1 = trifft nicht zu bis 3 = trifft zu, n = 17
Die Artikel zeigen insbesondere mehrere Perspektiven auf und berichten kritisch; Quellen sind fast immer ersichtlich. Eine Zuspitzung oder Dramatisierung lässt sich in keinem der Artikel finden, allerdings werden komplizierte Sachverhalte nicht immer ausreichend erklärt. Der niedrige Mittelwert deutet jedoch auch darauf hin, dass nicht immer komplizierte Sachverhalte Gegenstand der Berichterstattung sind. Der konstruktivste Artikel der Stichprobe weist einen Mittelwert von M = 2,9 auf. Außerdem fällt auf: Je vielfältiger die Lösungsvorschläge, desto seltener sind die Artikel ausschließlich auf Negatives oder Probleme fokussiert (rSp = 0547*). Ebenso weist die Beantwortung der siebten W-Frage einen positiven Zusammenhang mit der Vielfalt an Lösungsvorschlägen auf (rSp = .807**). Die Konstruktivitäts-Merkmale (Index) korrelieren außerdem positiv mit der Vielfalt an Lösungen (rSp = .744**), dem Aufzeigen von langfristigen Entwicklungen (rSp = .600**) und mit der Ursachenerklärung für ein Problem (rSp = .649**).[4] Der Vergleich der konstruktiven Artikel zwischen der VRM, der Sächsischen Zeitung und Perspective Daily zeigt deutliche Unterschiede auf. Die VRM berichtet konstruktiver als die Sächsische Zeitung, Perspective Daily berichtet allerdings am konstruktivsten (H2).
Tabelle 5
Konstruktivitäts-Index im Medienvergleich (H2)
Konstruktivitäts-Index | n | M | SD | Min | Max |
VRM Newspapers | 17 | 2.52 | 0.17 | 2.20 | 2.90 |
Sächsische Zeitung | 17 | 2.16 | 0.25 | 1.90 | 2.70 |
Perspective Daily | 16 | 2.83 | 0.13 | 2.60 | 3.00 |
Mittelwert von 1 = nicht konstruktiv bis 3 = konstruktive
Die festgestellten Unterschiede zwischen den Zeitungen sind signifikant.[5] Ein Post-Hoc-Test zeigt, dass die Konstruktivität der VRM-Artikel signifikant höher ist als die der Sächsischen Zeitung (p < .001) sowie signifikant geringer als die von Perspective Daily (p < .001).[6] Damit kann Hypothese 2, die keine Medienunterschiede vermutete, nicht bestätigt werden.
Ein Gruppenvergleich zeigt, worin sich die VRM-Artikel und die Artikel der Sächsischen Zeitung voneinander unterscheiden. Die VRM-Berichterstattung weist folgende Merkmale signifikant öfter oder stärker auf: Anzahl an Perspektiven und Lösungsansätze, kritische Berichterstattung, Beantwortung der siebten W-Frage und Anregungen für weiterführende Quellen/Literatur.[7] Die VRM und die Sächsische Zeitung ähneln sich entsprechend in ihrer Quellentransparenz, Ausführlichkeit der Hintergrundinformationen, Erklärung komplizierter Sachverhalte, Fokus auf ausschließlich Negatives und ihrer inhaltlichen Dramatisierung. Signifikante Unterschiede zwischen der VRM und Perspective Daily lassen sich bei drei Merkmalen identifizieren. Perspective Daily stellt häufiger weiterführende Quellen zur Verfügung, gibt mehr Hintergrundinformationen und erklärt komplizierte Sachverhalte öfter als die VRM.[8]
Qualitative Inhaltsanalyse
Um die Forschungsfrage auch aus inhaltsanalytischer Perspektive zu beantworten sowie die quantitative Inhaltsanalyse zu ergänzen, folgte im Anschluss eine qualitative Inhaltsanalyse zur Unterscheidung klassischer und konstruktiver Berichterstattung der VRM. Hierbei ging es im Besonderen darum, vertiefend zu bestimmen, was Konstruktiven Journalismus ausmacht und anhand welcher Faktoren konstruktive Berichterstattung festgemacht werden kann (H3). In der Analyse wurden folgende Elemente des Konstruktiven Journalismus unter Berücksichtigung des Mobilitätsthemas zusammengefasst: 1. das Aufzeigen mehrerer Perspektiven, 2. das Vorstellen von Lösungsansätzen, 3. der kritische Duktus der Berichterstattung, 4. die zukunftsorientierte Haltung, 5. das Aufführen wissenschaftlicher Quellen. Zudem wurde die Argumentationsweise der Artikel miteinander verglichen.
Für die Analyse wurden sechs konstruktive Artikel des VRM-Projektes sechs klassischen Artikeln, die sich alle mit dem Thema Mobilität auseinandersetzen, gegenübergestellt. Die Auswahl erfolgte durch die Chefredaktion. Die qualitative Analyse bestätigt – soweit mit der Inhaltsanalyse möglich – die vorgestellten elementaren Bestandteile des Konstruktiven Journalismus und erweitert sie um zwei zentrale Aspekte. So konnte festgestellt werden, dass nicht nur einzelne Sachverhalte kritisch betrachtet und Lösungen dafür angeboten werden, sondern auch die Lösungen ihrerseits kritisch reflektiert werden. Zudem sind konstruktive Artikel durch eine dynamische Argumentationsstruktur gekennzeichnet, das heißt, Artikel weisen häufig Zitate von verschiedenen Personen mit unterschiedlichen Positionen auf, die die Argumentationsweise lebendig machen. Dies beinhaltet auch häufigere Vergleiche beziehungsweise Gegenüberstellungen von Vor- und Nachteilen sowie mehr Belege durch praktische Beispiele. Argumente werden zudem durch Hintergrundwissen gestützt. Ein weiteres Ergebnis: In den konstruktiven Artikeln der VRM wird kritischer berichtet als in den klassischen Artikeln zu verwandten Themen. Zwar werden Sachverhalte in allen Artikeln grundsätzlich kritisch hinterfragt, bei den konstruktiven Artikeln hingegen werden darüber hinaus Lösungsansätze oder vorgestellte Projekte zur Problemlösung kritisch betrachtet. Konstruktive Artikel stehen demnach auch möglichen Verbesserungen kritisch gegenüber. Klassische Artikel zeichnen sich zudem durch deutlich weniger Perspektivenvielfalt und Lösungsvorschläge sowie durch einen Fokus auf Problembeschreibungen und einseitige Argumentationen aus. Die Zukunftsorientierung ist meist darauf beschränkt, Aspekte oder Bereiche, die sich ändern müssen, zu benennen, ohne dabei Lösungsvorschläge zu machen (H3).
Die vergleichende Analyse bestätigt, dass ein Umdenken – oder zumindest eine aktive Beschäftigung mit dem Konstruktivem Journalismus – in der VRM-Redaktion stattgefunden hat und sich konstruktive Artikel tatsächlich von klassischen Artikeln hinsichtlich ihrer Problemlösungs- und Zukunftsorientierung unterscheiden, indem der Fokus auf Probleme und Negatives abgelöst wird. Den beteiligten Redakteuren ist es gelungen, konstruktiv(er) zu berichten.
Fazit
Konstruktiver Journalismus löst traditionellen Journalismus nicht ab, kann diesen jedoch ergänzen und anreichern – dies hat die vorliegende Untersuchung gezeigt. Das Berichterstattungsmuster ermöglicht einen neuen, originellen Umgang und eine Aufbereitung von komplexen und kontroversen Themen. Die neue Form der Berichterstattung erfordert Zeit, Kompetenz und genug Platz für Hintergrundberichterstattung – Ressourcen, die bei nicht tagesaktuellen Medien freier verfügbar sind. Entgegen kritischen Stimmen hinsichtlich einer Einführung des Konstruktiven Journalismus in die tagesaktuelle Berichterstattung aufgrund eines Ressourcenmangels konnte in den Inhaltsanalysen gezeigt werden, dass es sehr wohl möglich ist, konstruktive Artikel als Teil der klassischen Berichterstattung zu etablieren. Der VRM ist dies sogar noch erfolgreicher gelungen als der Sächsischen Zeitung. Die messbare kritische Haltung von Konstruktivem Journalismus fällt gegenüber klassischem Journalismus nicht unbedingt zurück. Die inhaltsanalytische Beschäftigung mit dem Thema erhärtet an dieser Stelle keinen pauschalen PR-Verdacht. Dies spiegelt sich auch in den Ergebnissen der Leitfadeninterviews wider, in denen keine konfliktträchtige Veränderung des journalistischen Rollenselbstverständnisses festgestellt wurde.
Aus den Leitfadeninterviews wird deutlich, dass für diese neuen Arbeitsprozesse ebenso neue Strukturen und Planungswerkzeuge benötigt werden. Insbesondere den erfahrenen JournalistInnen fällt ein Umdenken, ein neuer Umgang mit Themen schwer. Daher scheint eine umfassende Schulung notwendig, um den Kern des Konstruktiven Journalismus zu verstehen. Dass sich das Erarbeiten und Bereitstellen von Lösungen und kritische Berichterstattung nicht ausschließen, ist zwar noch nicht allen RedakteurInnen bewusst, wird aber von der Inhaltsanalyse bestätigt. Die größten Schwierigkeiten finden sich im Bereich der Leser-Integration in die Berichterstattung im Sinne einer »Co-Creation«. Diese in die tägliche journalistische Arbeit zu integrieren, ist nicht möglich gewesen.
Es konnte zudem gezeigt werden, dass der konstruktive Denkansatz und die Arbeitsweise sowie die damit zu berücksichtigende NutzerInnenperspektive auch auf das Selbstbild der befragten Journalisten zurückwirken. Auch hier gilt: Das Selbstbild wird ergänzt und erweitert, aber nicht verworfen oder infrage gestellt. So bleibt etwa die Kontrollfunktion wichtig. Das Rollenbild entwickelt sich von einem »reinen Berichterstatter zum Anbieter einer Lösung« (IV-2). Hierbei wird die Nähe zur Leserschaft und zur Lebensrealität oft betont. Der Bezug zum Publikum ist ein wichtiger Teil des Konstruktiven Journalismus, der Austausch mit RezipientInnen wurde im Projekt Zukunft aktiv gefördert. Die vereinzelte Rückmeldung von LeserInnen zeigt, dass die elementaren Merkmale des Konstruktiven Journalismus – Lösungsansatz und Hoffnung – wahrgenommen und positiv bewertet werden. Der Redaktion zufolge regten konstruktive Artikel außerdem die LeserInnen dazu an, selbst weitere Lösungsvorschläge anzubieten und zu diskutieren. Dies ist ein Hinweis auf die positive Wirkung der Alltags- beziehungsweise BürgerInnenorientierung.
Enttäuschend aus Sicht der Redaktion fielen die direkten Publikumsreaktionen aus. Es wurden nicht mehr Leserreaktionen als üblich verzeichnet, was die Redaktion als Zeichen nicht vollständiger Wahrnehmung des Projekts seitens der Leserschaft interpretierte. Mit Blick auf die Ergebnisse der von Meier (2018) durchgeführten Experimente zur Publikumswirkung drängt sich aber der Gedanke auf, dass die Hoffnungen auf die positive Wahrnehmung und Wirkung konstruktiver Berichte offenbar deutlich überhöht sein könnten. Offenbar – so die von den vorliegenden Ergebnissen genährte Vermutung – unterscheiden diese sich von klassischem Journalismus nicht wesentlich. Einschränkend muss hier konzediert werden, dass die Publikumsreaktionen nur indirekt mittels der Reflexion der befragten Redakteure erfasst werden konnten. Ein Desiderat an dieser Stelle wären Fokusgruppengespräche mit LeserInnen zur unterschiedlichen Wahrnehmung klassischer und konstruktiver Berichterstattung und dem möglichen Einfluss auf die Leser-Blatt-Bindung, insbesondere hinsichtlich der kritischen Einbindung von Positivbeispielen (ebd.: 19). Ein Allheilmittel zur Erschließung neuer Leserschaften und Märkte, so scheint es, ist er nicht.
Für die journalistische Praxis lässt sich abschließend schlussfolgern, dass Konstruktiver Journalismus mit Abstrichen in den Alltag klassisch arbeitender Redaktionen integrierbar ist. Schwierigkeiten ergeben sich im Bereich der Leserintegration, die deutlich veränderte Routinen erforderlich machen würde. Das Projekt oder die weiterführende Etablierung des Konstruktiven Journalismus müsste jedoch stringenter in die Digitalisierungsstrategie eingebunden werden, insbesondere im Auftritt in den sozialen Medien, um die Potentiale voll zu entfalten.
Über die Autor*innen
Marc-Christian Ollrog (*1978) ist seit 2016 Professor für Journalistik am Institut für Öffentliche Kommunikation an der Ostfalia Hochschule für angewandte Wissenschaften in Salzgitter und Leiter des Instituts für Öffentliche Kommunikation. In der Forschung beschäftigt er sich mit durch den digitalen Strukturwandel ausgelösten Veränderungsprozessen im Journalismus und dem Mediensystem. Darüber hinaus interessiert er sich derzeit besonders für Fragen der journalistischen Fachdidaktik. Rund zehn Jahre lang war er als Journalist tätig, die meiste Zeit davon als Wirtschafts- und Finanzredakteur, später als CvD in Frankfurt/Main im F.A.Z.-Reich. Nach einem Studium der Diplom-Journalistik, Geschichte und Germanistik in Bielefeld und Leipzig wurde er mit einer Arbeit über die Weiterentwicklung regionaler Zeitungsgeschäftsmodelle an der Universität Leipzig bei Michael Haller promoviert. Kontakt: m.ollrog@ostfalia.de
Megan Hanisch (*1993) ist seit September 2018 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Öffentliche Kommunikation an der Ostfalia Hochschule für angewandte Wissenschaften, Salzgitter. Gemeinsam mit Marc-Christian Ollrog hat sie zuletzt ein Forschungsprojekt zum Mehrwert bei Paid Content durchgeführt. In ihrer Forschung interessiert sie sich außerdem für den Medien- und Kommunikationswandel und beschäftigt sich in ihrer Promotion damit, wie sich Unternehmenskommunikation und Organisationsstrukturen im Zuge des digitalen Wandels verändern. Sie hat Strategische Kommunikation (M.A.) an der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster studiert. Kontakt: me.hanisch@ostfalia.de
Amelie Rook (*1996) studierte von 2016 bis 2019 Medienkommunikation (B. A.) an der Ostfalia Hochschule für angewandte Wissenschaften. Das Thema ihrer Bachelorarbeit lautete: Konstruktiver Journalismus im Lokalen am Beispiel der VRM-Zeitungen – Eine Inhaltsanalyse. Derzeit studiert sie Kunst, Medien, Ästhetische Bildung und Soziologie (B. A.) an der Universität Bremen. Kontakt: rook.amelie@gmail.com
Literatur
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Meier, Klaus (2018): Wie wirkt Kon