Editorial

Öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalten sind zurecht öffentlicher Kritik und Kontrolle ausgesetzt. Ihr Auftrag und die Finanzierung durch Beiträge erfordern, dass sie sich sehr viel stärker erklären und Rechenschaft über ihren Public Value ablegen müssen als privat-kommerzielle Medienunternehmen.

Auch in dieser Ausgabe der Journalistik geht es im Debatten-Beitrag und in zwei weiteren Aufsätzen um den öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Barbara Thomaß, Kommunikationswissenschaftlerin und zweite stellvertretende Vorsitzende des ZDF-Verwaltungsrates, fragt, was diejenigen, die nun – wieder einmal – eine »Reform« des öffenlich-rechtlichen Rundfunks fordern, damit genau meinen? Schon bei anderen sogenannten »Reformen«, etwa der Bahn, der Bundeswehr oder des Gesundheitswesens seien am Ende nicht Kosten reduziert und mehr Gemeinwohl produziert worden. Thomaß unterstreicht den Zusammenhang von Demokratie und Medienorganisation sowie den Beitrag der öffentlich-rechtlichen Medien zur demokratischen Meinungs- und Willensbildung.

Eine wichtige Instanz stellen dabei die Rundfunkräte dar, die die Gesellschaft abbilden und daher aus »Vertreter:innen gesellschaftlich relevanter Gruppen« zusammengesetzt sein sollen. Welche Gruppen und Interessensvertretungen sind jedoch derzeit gesellschaftlich relevant? Die Medienwissenschaftlerin Sabine Schiffer hat zusammen mit Studierenden erhoben, wer in den Rundfunkräten der ARD und im ZDF-Fernsehrat die Bevölkerung repräsentiert. Ein Unterfangen, das sich als gar nicht so einfach erwiesen hat, weil die Informationen dazu auf den Webseiten der Anstalten ausbaufähig sind. Überhaupt könnte für mehr Transparenz und Öffentlichkeit gesorgt werden, schließlich steht in den Statuten der Rundfunkräte, dass ihre Sitzungen öffentlich stattfinden sollen. Bei kaum einer Sitzung der ARD-Rundfunkräte ist das aber der Fall, Streaming o.ä. wird (Ausnahme: BR) kaum genutzt.

Doch an anderer Stelle ist die Öffentlichkeitsarbeit in eigener Sache intensiv und wie die Verantwortlichen beim SWR und BR finden außerordentlich erfolgreich gewesen. Gemeint ist das »Leuchtturm-Projekt« @ichbinsophiescholl, bei dem die beiden ARD-Anstalten Instagram nutzen, um, wie sie nicht müde wurden zu betonen, »die jugendliche Zielgruppe dort abzuholen, wo sie ist«.

Meine Tübinger Kollegin Tanja Thomas und ich untersuchen die Debatte über Erinnerungskultur, Widerstand und die Fiktionalisierung von Geschichte. Denn Ausgangspunkt des Projekts ist ein Gedankenspiel: »Stell Dir vor, es ist 1942 auf Instagram«. Ein Ergebnis der Kritischen Diskursanalyse verweist auf eine erstaunliche Leerstelle in der journalistischen Auseinandersetzung mit @ichbinsophiescholl: kaum hinterfragt wurde die »Kooperation« öffentlich-rechtlicher, beitragsfinanzierter Sender mit einer zum Meta-Konzern gehörenden Plattform, deren Geschäftsmodell auf Datensammlung, personalisierter Werbung und unbezahlter »Digitalarbeit« in Form von content production durch die Follower und die Social Media-Redakteur:innen basiert.

Geschäftsmodelle, Medienfinanzierung und Eigentumsverhältnisse sind auch Gegenstand einer wissenssoziologisch fundierten Diskursanalyse von Silas Ketels. Der Kieler Kommunikationswissenschaftler untersucht die Debatte, die ein Interview auslöste, das der SPD-Politiker Kevin Kühnert im Mai 2019 der Wochenzeitung Die Zeit gegeben hatte. In dem Gespräch mit dem damaligen Juso-Vorsitzenden kamen auch Begriffe wie »Kollektivierung«, »Enteignung« und Formulierungen wie »Überwindung des Kapitalismus« vor. Die mediale Aufregung war groß. Ketels fragt nach einem Zusammenhang zwischen Diskurspositionen und Eigentumsformen der diskurstragenden Medien und belegt, dass bei allen erwartbaren, geradezu reflexhaften Reaktionen auch differenzierte Betrachtungen möglich waren.

Mit Journalismus und dem Phänomen der Entgrenzung befasst sich Gabriele Hooffacker in ihrem Essay über »Content Creators«. Stehen sie für »eine neue Phase des Journalismus«? Am Beispiel des »Computerspiele-Journalismus«, der in den 1990er- und 2000er-Jahren in Printmedien betrieben wurde, dann aber Konkurrenz durch Blogger und Influencer bekam, die sich nun als »Social Media Content Creator« sehen, zeichnet Hooffacker Entwicklungsphasen nach, die auch für andere journalistische Themen und Ressorts vorstellbar sind: aus einem special interest-Thema wird etwas Größeres, Populäres, social media und Werbung durchdringen die journalistische Berichterstattung, neue Angebote werden entwickelt. Das alte Problem der Vermischung von Journalismus und Marketing bleibt jedoch bestehen, auch wenn »Social Media Content Creator« meinen, in erster Linie zu informieren.

Meinungsvielfalt und Partizipation sind bis heute die Hoffnungen, die sich an die Nutzung des Internets knüpfen. Gegenwärtig müssen wir mehr Kontrolle, Regulierung bis hin zur Zensur konstatieren. Kriege und Krisen verschärfen noch einmal die Situation, das zeigt Yulia Belinskaya eindrücklich am Beispiel Russland. Ihr Beitrag bietet einen Überblick über aktuelle staatliche Zensurmaßnahmen und ordnet sie ein in die lange Geschichte der Zensur in der Sowjetunion und im zaristischen Russland. Dabei stützt sich die Autorin auf das politikwissenschaftliche Konzept der »Versicherheitlichung« (engl. securitization), womit ein spezifisches Framing gemeint ist: Entwicklungen werden als bedrohlich beschrieben, staatliche Sicherheitsmaßnahmen, etwa Gesetzesverschärfungen, als »Lösung« angeboten und Sprachregelungen vorgenommen. Das Ergebnis dieser »Sicherheitspolitik« ist die Unterdrückung oppositioneller Medien und die Verfolgung, gar Ermordung von Dissident:innen, die zuvor als Agent:innen und Terrorist:innen bezeichnet wurden. Belinskaya fragt: Wieviel Gegenöffentlichkeit ist in Russland derzeit noch möglich?

Eine Frage, die nicht nur mit Blick auf autoritäre Systeme relevant ist, sondern ebenso für Demokratien, die auf Gegenmeinung und Kontroverse angewiesen sind. So jedenfalls sieht es die Wochenzeitung Die Zeit, deren neuestes Ressort »Streit« heißt. In den Rezensionen finden Sie, liebe Leser:innen, ganz unterschiedliche Positionen zu aktuellen Publikationen und durchaus strittigen Themen, ob es nun um »Medien als 4. Gewalt«, »Mediensysteme in Russland und in Deutschland« oder »Kriegsreporterinnen« geht.

Auch können Sie sich den medial vernachlässigten Themen widmen, die die Initiative Nachrichtenaufklärung zusammengestellt hat. Nur so viel sei verraten: es herrscht »Verdunkelungsgefahr« – jedenfalls in küstennahen Gewässern.

Wir wünschen Ihnen eine anregende Lektüre und freuen uns auf Ihre Kommentare!

Martina Thiele