Top Ten der Vergessenen Nachrichten 2023

Die Nichtregierungsorganisation »Initiative Nachrichtenaufklärung« (INA) stellt einmal im Jahr gemeinsam mit der Deutschlandfunk-Nachrichtenredaktion eine Liste mit zehn medial vernachlässigten Themen vor. Ziel ist dabei, Journalistinnen und Journalisten auf Lücken von Öffentlichkeit hinzuweisen, die zu bearbeiten sogar Chancen auf Exklusivität bieten kann. Da seit längerer Zeit die Großthemen Covid-19-Pandemie und der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine die Berichterstattung beherrschen, ist die Suche nach den »Vergessenen Nachrichten« besonders wichtig.

Die Themen hat auch in diesem Jahr wieder eine Jury mit Vertreterinnen und Vertretern aus Medienwissenschaft und Journalismus sowie weiteren Fachleuten ausgewählt. Ausgangspunkt sind Vorschläge aus der Bevölkerung. Per E-Mail, Post oder Webformular können bei der Initiative Nachrichtenaufklärung vernachlässigte Nachrichten vorgeschlagen werden. Studierende an mehreren deutschen Hochschulen überprüfen dann, ob die Themen und Nachrichten zutreffend sind und ob sie tatsächlich von den Medien vernachlässigt wurden. Alle Themen, die diese Kriterien erfüllen, werden der Jury vorgelegt. Diese entscheidet anschließend, welche der vorgeschlagenen Themen sie für besonders relevant erachtet.

Per E-Mail, Post oder Webformular kann jede und jeder bei der Initiative Nachrichtenaufklärung auf Lücken von Öffentlichkeit hinweisen. Das ist wichtig, damit konkrete Erfahrungen aus der Bevölkerung und nicht nur Absichten und Programme von Interessenverbänden und anderen Institutionen sich in den Top-Ten-Listen der INA mit wenig beachteten Problemen niederschlagen.

Top 1: Die Verdunkelung der Meere in Küstennähe

Die marinen Ökosysteme werden immer fragiler und stehen unter einem enormen Nutzungsdruck. In den vergangenen Jahren verdunkelten sich in mehreren küstennahen Regionen weltweit die Ozeane, was die Nahrungssuche aller Lebewesen erschwert und damit die Nahrungskette bedroht. Die Verdunkelung küstennaher Meeresbereiche (engl.: Coastal Darkening/Coastal Ocean Darkening) stellt eine Reduzierung der Lichtverfügbarkeit in der Wassersäule dar. Das noch weitgehend unerforschte Phänomen hat in den verschiedenen Regionen unterschiedliche Treiber. Menschliche Nutzung trägt direkt und indirekt zur Verdunkelung bei, durch Fischfang und Schifffahrt, durch Eintrag von Dünger aus der Landwirtschaft und Einleitung von Abwässern sowie Ausbaggerungen, aber auch durch den Klimawandel (Rußablagerungen nach Waldbränden). Mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung lebt in der Nähe von Küsten – die zu den produktivsten und biologisch reichsten Gebieten der Erde zählen – und ist somit von dem komplexen Phänomen betroffen. Trotzdem ist die Verdunkelung der Meere in Küstennähe medial fast völlig vernachlässigt.

Top 2: Ship Abandonment – Aufgabe von Schiffen und ihrer Besatzung

Mit 113 aufgegebenen Hochsee- oder Küstenmotorschiffen und zusammen 1.555 Seefahrern an Bord markiert das Jahr 2022 den Höhepunkt der Praxis der »abandoned ships«. In diesem hochprofitablen Markt erzielen die Schiffseigner und Reedereien eine weitere Kostenoptimierung zulasten von Gewässern, Umwelt und ihrer Schiffsbesatzungen, indem sie das Eigentum an unprofitabel gewordenen Schiffen aufgeben. Die Schiffe werden – oft samt Besatzung als eine Art Geiseln – für lange Zeit in einem Hafen zurückgelassen. Mit einem Gesamtanteil von ca. 90-98 Prozent am interkontinentalen und mit ca. 62 Prozent am innereuropäischen Warenverkehr gehört der See- und Überseehandel zu den weltgrößten Handelsinfrastrukturen für Waren, Güter und Rohstoffe. Ein Mangel an Transparenz und verbindlichen internationalen Regularien ermöglicht die Praxis des von der International Maritime Organization definierten »ship abandonment«.

Top 3: Mangelhafte Psychotherapieangebote für Menschen mit geistigen Behinderungen

Menschen mit geistigen Behinderungen sind eine der vulnerabelsten Gruppen in unserer Gesellschaft und bedürfen einer besonderen Aufmerksamkeit, da sie ein erhöhtes Risiko haben, eine psychische Erkrankung zu entwickeln. Oft gibt es nur wenige Angebote für die psychische Versorgung von Menschen mit geistigen Behinderungen. Die Herausforderungen bei der Behandlung von psychischen Erkrankungen bei Menschen mit geistigen Behinderungen sind auch aufgrund ihrer kommunikativen Einschränkungen und anderer Faktoren größer. Die Auswirkungen der Corona-Pandemie haben diese Situation noch weiter verschärft, da bestehende Kontakte in dieser Zeit eingeschränkt wurden.

Top 4: Boliviens Wirtschaftswachstum auf Kosten des Klimas und der Bevölkerung

Die bolivianische Regierung unter Führung von Luis Arce (Bewegung für den Sozialismus) gestattet ausländischen Unternehmen schädliche Bohrungen im Nationalpark Madidi. Dieser zählt zu den artenreichsten Nationalparks der Welt. Obwohl es den Menschen, den Tieren und dem Klima schadet, werden die profitablen Bohrungen nicht verhindert, sondern sogar unterstützt. Auch im Süden des Landes wird am Berg Cerro Rico unter nahezu unmöglichen Bedingungen gearbeitet. Hier wird besonders nach Lithium gebohrt, welches für Batterien von »grünen« E-Autos und E-Scootern benötigt wird.

Top 5: HHC: Das neue, legale Gras

Bereits seit einigen Jahren gibt es in den sozialen Netzwerken einen potenziell gefährlichen Hype, der vor allem auf die Jüngeren abzielt: der legale Konsum von Hexahydrocannabinol (HHC). HHC wird durch eine molekulare Veränderung von illegalem Cannabis synthetisiert, bleibt jedoch durch seine molekulare Abweichung unter dem Radar des Betäubungsmittelgesetzes. Somit ist sein Besitz – trotz einer ähnlichen Wirkung wie bei Cannabis – bislang noch nicht strafbar. Medial wird im Hinblick auf die rund 4,5 Millionen Cannabis-Konsument:innen nicht genug über den Stoff selbst und die möglichen Gefahren des Konsums berichtet. So muss auf Risiken wie leichtere Abhängigkeit, Panikattacken und auch Psychosen aufmerksam gemacht werden, damit junge Menschen die Wirkung der frei erhältlichen Substanz nicht unterschätzen.

Top 6: HIV-Krise in Russland

Während die HIV-Infektionszahlen weltweit zurückgehen oder zumindest stabil bleiben, lässt sich vor allem in Osteuropa ein gegenteiliger Trend erkennen. Auf Platz eins der Neuinfektionsraten mit dem HI-Virus liegt Russland. Selbst nach den offiziellen, der Weltgesundheitsorganisation WHO gemeldeten Zahlen gab es in Russland 2021 mehr neue HIV-Diagnosen (58.340) als in den übrigen 52 Staaten der WHO-Region Europa mit einer vielfach größeren Bevölkerung zusammen (48.168). Wie bei der Corona-Epidemie ist das tatsächliche Ausmaß der HIV-Epidemie in Russland aber noch dramatisch unterrepräsentiert. Mehr als 2 Millionen Menschen und damit ca. 1,5% der Gesamtbevölkerung sind HIV-positiv (zum Vergleich Deutschland 0,1%); rund 40% der Infektionen erfolgen durch heterosexuelle Kontakte, sodass sich das Virus auch jenseits der Risikogruppen (Drogenabhängige, homosexuelle Männer) schnell verbreitet. Anstatt dieses Problem mit Behandlungs- und Aufklärungsmaßnahmen zu bekämpfen, setzt die russische Regierung auf Tradition und Moral. Sex und Drogenkonsum, die Hauptgründe für die Verbreitung des Virus, gelten als unmoralisch und werden tabuisiert. Aus Angst vor Stigmatisierung vermeiden Infizierte Tests und Behandlung. Das Ausmaß dieser sich verschärfenden Krise ist in Deutschland kaum bekannt, obwohl in Deutschland ca. 1 Million Menschen leben, die in Russland geboren sind und es weiter signifikante Migration von dort gibt.

Top 7: Sexualisierte Gewalt in der Demokratischen Republik Kongo

Sexualisierte Gewalt wird in allen Kriegen und Konflikten systematisch als Waffe eingesetzt. In der Demokratischen Republik Kongo finden seit 25 Jahren Massenvergewaltigungen von Frauen statt. Diese bis heute andauernden Menschenrechtsverletzungen werden meist von bewaffneten Milizen verübt, die versuchen, die Rohstoffe des Landes zu erbeuten. Bei Opferzahlen in Millionenhöhe scheitert die medizinische Versorgung und Strafverfolgung gibt es kaum.

Top 8: Suizid im Justizvollzug

Menschen, die in deutschen Justizvollzugsanstalten inhaftiert sind, haben ein vielfach erhöhtes Suizidrisiko im Vergleich zur Gesamtbevölkerung. Seit 2006 gibt es die Bundesarbeitsgemeinschaft »Suizidprävention im Justizvollzug«, dennoch ist die Suizidrate weiter hoch und gilt als häufigste singuläre Todesursache in deutschen Gefängnissen. Die Gründe sind vielschichtig, die genauen Zahlen schwanken und der Prozentsatz ist bundesweit nicht einheitlich. Fachleute kritisieren, dass es für Inhaftierte häufig schwieriger ist, therapeutische Angebote wahrzunehmen. Die Fürsorgepflicht für inhaftierte Menschen trägt der Staat.

Top 9: Eingeschränkte Meinungs- und Kunstfreiheit in Spanien

In Spanien wird das Recht auf freie Meinungsäußerung und freien künstlerischen Ausdruck durch die geltende Gesetzgebung eingeschränkt, insbesondere durch Artikel 578 des spanischen Gesetzbuches. Internationale Aufmerksamkeit erlangte das repressive Vorgehen Spaniens durch die Verhaftung des Rappers Pablo Hasél, dem vorgeworfen wird, »staatliche Institutionen beleidigt« und »Terrorismus verherrlicht« zu haben. Neben dem europäischen Gerichtshof ermahnen auch die Menschenrechtskommissarin des europäischen Parlaments und die Menschenrechtsorganisation Amnesty International die spanische Regierung, die Gesetze zu ändern und die Meinungs- und Kunstfreiheit weiter zu gewährleisten.

Top 10: Der Zusammenhang von Tierquälerei und interpersonaler Gewalt

75 Prozent der Opfer häuslicher Gewalt gaben an, dass auch ihr Haustier vom Täter bedroht oder vorsätzlich verletzt wurde. Ein Zusammenhang zwischen Tierquälerei und interpersoneller Gewalt wurde sowohl in internationalen Studien als auch in der kriminologischen Praxis. Obwohl die Themen Tierquälerei und (häusliche) Gewalt zunehmend an Bedeutung innerhalb des medialen und gesellschaftlichen Diskurses gewinnen, bleibt die mediale Darstellung des Zusammenhangs dieser beiden Phänomene unzureichend. Eine stärkere Berichterstattung könnte sowohl rechtliche als auch pädagogisch-psychologische Grundlagen für die Prävention und Nachverfolgung von Gewalttaten an Mensch und Tier leisten.

Weitere Informationen: www.derblindefleck.de


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Zitationsvorschlag

Initiative Nachrichtenaufklärung: Top Ten der Vergessenen Nachrichten 2023. In: Journalistik. Zeitschrift für Journalismusforschung, 1, 2023, 6. Jg., S. 120-124. DOI: 10.1453/2569-152X-12023-12960-de

ISSN

2569-152X

DOI

https://doi.org/10.1453/2569-152X-12023-12960-de

Erste Online-Veröffentlichung

April 2023