Rezensiert von Beatrice Dernbach
Welch‘ eine Erregung. Im Herbst 2022 tobte ein Sturm über die Medienbranche hinweg: Das Buch von Richard David Precht und Harald Welzer über Die Vierte Gewalt. Wie die Mehrheitsmeinung gemacht wird, auch wenn sie keine ist schlug hohe Wellen. Nach über drei Jahrzehnten in Lehre und Forschung als Medien- und Kommunikationswissenschaftlerin und der mehrjährigen journalistischen Praxis in Zeitungsredaktionen – lange vor der Digitalisierung und der Etablierung der »Direktmedien« – kann ich mich nicht erinnern, dass es jemals ein Buch über Medien monatelang auf die Bestsellerlisten geschafft und eine solche Empörung in der Branche ausgelöst hat. Ich habe es mir nach einigen Interviews beziehungsweise Talkshowauftritten der Autoren und (überwiegend) negativen Rezensionen Mitte Oktober gekauft. Der Philosoph Precht (»Wer bin ich – und wenn ja, wie viele?«) und der Soziologe, Sozialpsychologe und Zukunftsforscher Welzer sind ihrer von mir so wahrgenommenen Attitüde treu geblieben: Mit ihrer bisweilen larmoyanten (vor allem Precht) und häufig arroganten Art (vor allem Welzer) erregen sie (auch) in mir eher Abwehr- denn Sympathiegefühle. Von diesen wollte ich mich aber nicht leiten lassen und der Ursache des Sturms auf den Grund gehen. Dabei überwiegen Déjà-vus vor dem Hintergrund meiner eigenen praktischen Erfahrungen und meines wissenschaftlichen Wissens bei weitem die (neuen) Erkenntnisse. Der Text ist weder originär noch besonders originell. Sprachlich klotzen die Autoren an vielen Stellen und ähneln damit sehr den von ihnen Kritisierten. Sie bezeichnen die zunehmende Boulevardisierung auch der seriösen Leitmedien (die es nachgewiesenermaßen gibt und als Konvergenz bezeichnet wird) als »Kultur der Assholery« (S. 10), beklagen die »kollektive Pluralitätsverengung« (S. 65), wundern sich über die »eigentümliche Ortslosigkeit der Leitmedien« (S. 99) und schießen sich im Kapitel »Gala-Publizistik« auf den stellvertretenden Chefredakteur der Welt, Robin Alexander, ein. Dessen Tweets aus den Koalitionsgesprächen im Oktober 2019 werden »in höchster Erregung in den Sitzungen gelesen […], wodurch anscheinend bei den Teilnehmenden eine informationelle Diarrhö ausgelöst wird und jetzt alles raus muss« (S. 115). Und sie schöpfen den Begriff »Cursor-Journalismus«, den ich bis heute nicht verstehe.
Beeindruckender ist, was Precht und Welzer in der Sache konstatieren. Auch wenn gleich im ersten Satz ein grammatikalischer Bock geschossen wird, bin ich mit dem Hauptmotiv des Buches einverstanden: »Deutschland, eines der freiesten Länder [sic!] Welt, hat ein Problem mit der gefühlten Meinungsfreiheit« (S. 7). Inhaltlich erinnert mich Vieles an Siegfried Weischenbergs Buch Medienkrise und Medienkrieg (2018). Auch der Journalistikwissenschaftler und (ehemalige) Praktiker thematisiert sehr kritisch die »Krise des modernen Journalismus«. Nur ist es schwerer zu lesen und hat (leider) nie die öffentliche Aufmerksamkeit bekommen, die das Thema verdient.
Viele Journalist*innen reagierten giftig[1], Medien- und Kommunikationswissenschaftler*innen etwas moderater im Ton, aber bisweilen noch sarkastischer in der Sache. Bernhard Pörksen analysiert das Precht-Welzersche-»Lehrstück in vier Akten, das die Mechanismen und Mängel des öffentlichen Diskurses wie unter einem Brennglas offenbart«: Im ersten wird Spannung erzeugt, gezündelt, ein Skandal behauptet; im zweiten angegriffen und verunglimpft, den dritten Akt kennzeichnen »Hyperventilation« und »Aufmerksamkeitsexzesse«, bevor im Schlussakt »neue Feindseligkeit« und »falsche Ausgewogenheit« die Szene bestimmen. Pörksen gesteht zwar einerseits (zu), dass es mehr »hart zupackenden investigativen Medienjournalismus geben« müsse – nicht zuletzt, um die von ihm selbst diagnostizierte »redaktionelle Gesellschaft« zu erreichen. Precht und Welzer allerdings haben sich in den Augen Pörksens (und anderer Wissenschaftler*innen) diskreditiert; sie seien zwar »definitiv keine Lügenpresse-Pöbler […], sondern meinungsstarke Linksliberale, die mit ihrem Buch nun das talkshowgängige Rollenscript des schillernden Antikorrekten bedienen«. Aber so viel »medienkritischer Populismus« gehe gar nicht.
Malen Precht und Welzer tatsächlich ein »empiriefreies Zerrbild« (Pörksen)? Ich meine: Nein. Schon eher ein theoriefreies; aber mit dem Anspruch, das Beobachtete wissenschaftlich zu reflektieren und zu erden, sind sie auch nicht angetreten. Sie fordern in den medialen Debatten über Politik mehr Pluralismus, weniger Personalisierung in der Tonalität der Diffamierung, mehr Zuhören und weniger Draufhauen. Als Philosoph und Sozialpsychologe wissen die beiden meiner Ansicht nach, über was sie auf der Metaebene sprechen: den Zustand der Gesellschaft im Allgemeinen und den Verlust der freien Meinungsäußerung im Besonderen – nicht, wie sie in Autokratien und Diktaturen qua Herrschaft, Macht und Gewalt unterdrückt, sondern qua Quote, Mainstream, Echokammern beeinflusst wird. Ihre zentrale Frage lautet dementsprechend: »Wie kann eine liberale Demokratie mit pluraler Medienlandschaft sich selbst gefährden?« Sie liefern in den insgesamt elf Kapiteln Erfahrungen, Beispiele (fokussiert auf die drei Themen Ukraine-Krieg, Migration und Pandemie) und Belege, sie verweisen auf Studien und Umfragen, analysieren Ursachen und Wirkungen. Alles nicht neu. Aber in dieser Kompression triggert es offensichtlich.
Ja, Precht und Welzer nutzen ihre Prominenz. Damit finden sie sich in einem Kreis weiterer kritischer Intellektueller wieder, dem beispielsweise auch Juli Zeh (Juristin und Autorin) zugewiesen werden kann. Auch sie macht sich Gedanken über Gegenwart und Zukunft der Gesellschaft, allerdings tut sie das in einem anderen Stil. Sie bezieht klare Positionen, schreibt populäre Bücher, mag aber öffentliche Auftritte nicht so sehr, wie manche ihrer männlichen Kollegen (vgl. Simon 2023).
Richard David Precht und Harald Welzer wissen, wie Medien funktionieren. Ihnen vorzuwerfen, dass sie genau diese Mechanismen nutzen, um (noch?) prominenter zu werden, ist billig. Noch dazu, weil die Medien selbst – von der NDR-Talkshow über Spiegel bis hin zum Medium Magazin – die beiden wohl nicht ungern eingeladen haben, um mit ihnen Aufmerksamkeit zu gewinnen und Quote zu machen.
Was bleibt aus meiner Sicht: Die Erkenntnis, dass die Grundsatzdebatte über die Rolle der Medien in der Gesellschaft noch lange nicht zu Ende geführt ist und weiter geführt werden muss – dass sie allerdings derzeit im Ton daneben geht. Die Erinnerung an die Zeit als Redakteurin, in der es schon vor Jahrzehnten Verlautbarungsjournalismus und Tendenzberichterstattung gab, gegen die nicht alle so richtig kämpften. Die Einsicht als Journalismusforscherin, dass die Anforderungen an das deutsche Mediensystem zu Recht sehr hoch sind. Im Vergleich mit den vielen schlechteren Systemen weltweit ist die Bilanz positiv, wenn auch Luft nach oben ist. Ich halte es mit einem meiner journalistischen Vorbilder, dem im August 2022 im Alter von 92 Jahren verstorbenen Theo Sommer, für den drei Prinzipien immer gültig waren: Sagen, was ist. Sagen, was es bedeutet. Die Machthaber überwachen. Hüten müssten sich Journalistinnen und Journalisten vor drei anderen Spielarten: dem Inszenierungs-, dem blindwütigen Angriffs- und dem »Buchmacher-Journalismus, der politische Vorgänge behandelt wie Pferderennen: Es kommt nur darauf an, wer vorn liegt und wer zurückfällt.« Sommer zeigte eine Haltung, Precht und Welzer eine streitbare Position. Es ist ihr gutes Recht. Und es ist gut, dass sie es nutzen.
Über die Rezensentin
Dr. Beatrice Dernbach ist Professorin für Praktischen Journalismus im Studiengang Technikjournalismus/Technik-PR der TH Nürnberg und besetzt seit Oktober 2021 eine Forschungsprofessur für Nachhaltigkeits- und Wissenschaftskommunikation. Zu ihren Schwerpunkten gehören Fachjournalismus, Nachhaltigkeit und Ökologie im Journalismus, Narration im und Vertrauen in Journalismus sowie Wissenschaftskommunikation.
Literatur
Pörksen, Bernhard (2022): Lauter Ungeheuer. Wie ein populistisches Thesenbuch über die Macht der Medien zum Bestseller wurde. Ein Drama in vier Akten. In: Spiegel Nr. 46 vom 12.11.2022, S. 58-59.
Simon, Jana (2023): Am Schmerzpunkt (Portrait über Juli Zeh). In: Zeit Magazin Nr. 2 vom 05.01.2023, S. 14-22.
Sommer, Theo (2022): Mein Ideal einer (fast) vollkommenen Zeitung. In: Die Zeit, Nr. 47 vom 17.11.2022, S. 21.
Sommer, Theo (2022): Zeit meines Lebens: Erinnerungen eines Journalisten. Berlin: Propyläen.
Über dieses Buch
Richard David Precht, Harald Welzer (2022): Die Vierte Gewalt. Wie Mehrheitsmeinung gemacht wird, auch wenn sie keine ist. Frankfurt/M.: S. Fischer, 288 Seiten, 22,- Euro.