Liebe Leser*innen,
in dieser Ausgabe befassen wir uns unter anderem mit Negativbilanzen und Lücken in der journalistischen Berichterstattung sowie mit den Versäumnissen in der US-amerikanischen Journalist*innenausbildung. Wir behalten zudem die anhaltend komplizierten und bedrückenden Konflikte weltweit im Auge. In Bezug darauf plädiert Sigrun Rottmann für eine ausgewogenere Berichterstattung, die auch Lösungen bereithält. Aktuell erschüttern laut dem UN-Hochkommissar für Menschenrechte Volker Türk (2024) mindestens 55 gewalttätige Konflikte die Welt; gleichzeitig nahmen und nehmen 2024 weltweit mehr Wähler*innen als je zuvor an einer Rekordanzahl von nationalen Wahlen teil (Ewe 2023). Dazu kommen zahlreiche regionale Abstimmungen. Rottmann schlägt für einen »konfliktsensiblen Journalismus« Prinzipien vor, die sich unabhängig davon, wo und wie Konflikte stattfinden, befolgen lassen – ob bei (Angriffs-)Kriegen über nationalstaatliche Grenzen hinweg oder bei internen Konflikten.
Mit Blick auf solche internen Konflikte analysieren Anna Lindner, Michael Fuhlhage, Keena Neal und Kirby Phillips die Bemühungen von sieben US-amerikanischen Zeitungen, ihre problematische frühere Berichterstattung über versklavte Menschen und Sklaverei zu überdenken und Versöhnung anzustreben. Wie können Journalist*innen auf solch eine schmerzliche Vergangenheit Rücksicht nehmen? Wie können Fehler und Versäumnisse in der Berichterstattung, die bestimmte Gruppen besonders betroffen haben und nach wie vor betreffen, wieder gutgemacht werden? Wie können Redaktionen durch die Reflexion ihrer eigenen Vergangenheit zur Rehabilitation solcher Menschen beitragen? Die dabei gemachten Erfahrungen werden vielleicht auch dafür sensibilisieren, wie hartnäckig gängige Denkmuster immer noch als naturgegeben akzeptiert werden – was Journalismus möglicherweise nur mit einigem Abstand problematisieren kann.
Robert McMahon wiederum legt akribisch die unkritische Betrachtung – eine »Kritik ohne Gewicht« – wie er es treffend beschreibt – in Berichten über »smart devices« bloß, also in Beiträgen über informationstechnisch aufgerüstete Alltagsgegenstände. Diese Art von Berichterstattung lässt Journalismus bestenfalls naiv erscheinen. Im schlimmsten Fall aber macht sie ihn mitschuldig, jene Erzählung von Big Tech voranzutreiben, derzufolge mehr Daten immer die Lösung seien – ein Narrativ, das uns in eine Gesellschaft treibt, die zunehmend von Überwachungstechnologie und Überwachungskapitalismus durchdrungen ist und in der nur wenig Raum für effektiven Widerstand bleibt. Die Studie fordert Redaktionen auf, ihre eigene Rolle zu reflektieren und den Mythos der Unvermeidbarkeit solcher Technologien zu hinterfragen, mit dem jede*r Kritiker*in an Big Data und KI als Technikfeind*in hingestellt wird.
Eine weitere Alternative zu den US-amerikanischen Technikgötzen diskutiert Leonhard Dobusch. Er plädiert dafür, bei technischen Innovationen mit Bedacht vorzugehen. Dobusch fasst viele bereits laufende Bemühungen im deutschen und europäischen öffentlich-rechtlichen Rundfunk zusammen, ein digitales Ökosystem zu schaffen – ein System, das über einzelne Sender hinausgeht und eine logische Erweiterung hin zu mehr Interaktion mit dem Publikum und Open-Source-Zusammenarbeit bietet. Für ihn zeigen aktuelle Entwicklungen schon jetzt den Weg zu einem öffentlich-rechtlichen »Plattformisierungsmodell« für Europa auf.
Eine Aufgabe von Journalismus besteht darin zu hinterfragen, was als gegeben oder als Fortschritt gilt, und die Wahrnehmung dieser Aufgabe sollte natürlich bereits in der journalistischen Ausbildung gestärkt werden. Deshalb brauchen Journalistikprofessor*innen und -dozent*innen faire Arbeitsbedingungen. Lillian Lodge Kopenhaver, Dorothy Bland und Lillian Abreu bieten Einblicke in die Erfahrungen von Nachwuchswissenschaftlerinnen in Journalistik und Kommunikationswissenschaft, vorwiegend in den USA. Laut einer Umfrage unter Teilnehmerinnen eines Mentoringprogramms des »Kopenhaver Center for the Advancement of Women in Communication« (KCAWC) an der Florida International University sehen die Teilnehmerinnen Hindernisse für den Karriereaufstieg an Universitäten vor allem im Mangel an Zeit für Forschung, in zu hohen Erwartungen für die Übernahme von Selbstverwaltungsaufgaben, in Spannungen hinsichtlich der Vereinbarkeit von Berufs- und Privatleben sowie in mangelnder Transparenz bei Fragen zum Gehalt. Ein hoher Bedarf an kontinuierlicherem Mentoring erwies sich als übergreifendes Thema.
Was auch sonst im Blickfeld des Journalismus fehlte, hat erneut die »Initiative Nachrichtenaufklärung« (INA) erfasst. In ihren Top Ten 2024 der vernachlässigten Themen in deutschsprachigen Medien bemängelt sie, dass eine gründliche Berichterstattung zu »Tech-Monopolen und dem Internet-Friedhof« ausbleibe. Unbeachtet bleibe auch, wenn Google staatliche »Grenzen verschiebt«. Weiterhin nennt die Initiative die fehlende Berichterstattung zu Schlaglöchern, zur Doppelbelastung zwischen Bürokratie und Schule von Kindern in migrantischen Familien sowie einige wissenschaftliche und medizinische Probleme.
Komplementär dazu präsentieren Fritz Hausjell und Wolfgang R. Langenbucher erneut, welche Themen in Buchform journalistisch detaillierter analysiert wurden. Auf den ersten drei Plätzen ihrer Top Ten befindet sich die Familiengeschichte von Evelyn Roll, die sie mit spannenden Einblicken in den aktuellen Stand der menschlichen Hirnforschung verknüpft. Platz zwei und drei nehmen Herbert Lackners Geschichte der österreichischen »Kulturkämpfe« in den vergangenen 100 Jahren und Isabel Schayanis Langzeitrecherche zu Geschichten von fünf Geflücheten ein. Schayanis Buch wird als Beispiel eines Journalismus gelobt, der Lösungen anbietet und sensibel für internationale und nationale Konflikte ist, die zweifellos weit über 2024 hinaus anhalten werden.
Wir wünschen Ihnen eine inspirierende Lektüre und laden Sie zu weiteren Analysen der Berichterstattung in Zeiten von Konflikten, Krisen und Wahlen weltweit ein.
Stine Eckert
April 2024
Literatur
Ewe, Koh (2023): The ultimate election year. All the elections around the world in 2024. In: Time, 28. Dezember 2023. https://time.com/6550920/world-elections-2024/
Türk, Volker (2024): Türk’s global update to the Human Rights Council. Office of the High Commissioner for Human Rights, 4. März 2024. https://www.ohchr.org/en/statements-and-speeches/2024/03/turks-global-update-human-rights-council