Von der Initiative Nachrichtenaufklärung
Die Nichtregierungsorganisation Initiative Nachrichtenaufklärung (INA) e.V. präsentiert gemeinsam mit der Deutschlandfunk-Nachrichtenredaktion jährlich eine Liste mit zehn in den (deutschsprachigen) Medien vernachlässigten Themen. Angestrebt ist, Journalistinnen und Journalisten auf Vernachlässigungen, Agenda Cutting und Desinformationen hinzuweisen und Vorschläge für zum Teil exklusive Themen zur weiteren Bearbeitung zu unterbreiten. Da seit längerer Zeit der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine und der Gaza-Krieg die Berichterstattung beherrschen und gleichzeitig weltweit Journalistinnen und Journalisten wie auch Whistleblower getötet und verfolgt werden, ist die Suche nach »Vergessenen Nachrichten« besonders wichtig.
Die Top Ten der »Vergessenen Nachrichten« hat auch in diesem Jahr wieder eine Jury mit Vertreterinnen und Vertretern aus Kommunikations- und Medienwissenschaften und professionellem Journalismus ausgewählt. Studierende an mehreren deutschen Hochschulen überprüften, ob die vorgeschlagenen Themen und Nachrichten zutreffen und ob sie tatsächlich von den Medien vernachlässigt wurden. Alle Themen, die diese Kriterien erfüllen, werden der Jury mit ausrecherchierten Berichten vorgelegt. In einer eintägigen Sitzung entscheiden die anwesenden Jury-Mitglieder, welche der vorgeschlagenen Themen sie als besonders relevant erachten.
Per E-Mail, Post oder Webformular kann jede und jeder bei der Initiative Nachrichtenaufklärung auf besonders wichtige vernachlässigte Themen hinweisen. Das ist von besonderer Bedeutung, damit konkrete Erfahrungen aus der Bevölkerung und nicht nur Absichten und Programme von Interessenverbänden und anderen Institutionen in den Top-Ten-Listen der INA e.V. zur Nachrichtenaufklärung beitragen.
Top 1: Phytosanierung: Wenn Pflanzen Schwermetalle abbauen
Bestimmte Pflanzen, sogenannte Hyperakkumulatoren, sind in der Lage, über ihre Wurzel Schwermetalle aufzunehmen und in ihrer Biomasse zu speichern. Das Verfahren der Phytosanierung nutzt dies, um mit Schwermetallen kontaminierte Flächen und Gegenden umweltfreundlich zu säubern. Durch Phytomining können die gespeicherten Schwermetalle sogar aus der Pflanze zurückgewonnen werden. Obwohl durch diese Verfahren die Umwelt kostengünstig gereinigt und Lebensraum wiederhergestellt werden kann, wird kaum über diesen Umweltschutz berichtet.
Top 2: Tech-Monopole und der Internet-Friedhof: Gefahren für die Demokratie
Auf den ersten Blick verheißen die Weiten des Internets Diversität, Partizipation und offene Diskussionsräume. Doch weit gefehlt! Das Internet ist fest in der Hand sehr weniger Monopolisten. Der mit Abstand größte Teil des nicht nur deutschsprachigen Internets ist ein Friedhof: Webangebote abseits von Youtube, Facebook & Co. finden praktisch keine Aufmerksamkeit. Zu diesem Ergebnis kommt der Medienwissenschaftler Martin Andree auf Basis empirischer Analysen, und er betont die demokratiegefährdenden Auswirkungen dieser Tatsache. Doch kaum jemand berichtet darüber, denn die großen Medienbetriebe haben offensichtlich kein Interesse, dass die Öffentlichkeit erfährt, wie überschaubar die Nutzung auch ihrer eigenen Onlineangebote ist.
Top 3: Wenn Google Grenzen verschiebt
Zahlreiche Grenzen in der Welt sind umstritten. Das gilt etwa für den Nahen Osten (Israel/Palästina, Golan-Höhen), für Südasien (Kaschmir zwischen Indien und Pakistan), für China (umstrittene Landgrenze mit Indien, Taiwan, Seegrenzen), die von Russland besetzten Gebiete der Ukraine, die von Marokko annektierte Westsahara oder das ›unabhängige‹ türkische Nordzypern. Den weltweiten Markt für Online-Karten dominiert Google Maps. Obwohl die Policy bei Google offiziell lautet, man zeige bestmöglich »die Wahrheit« an, kommt es in der Realität oft darauf an, aus welchem Landesnetz die Karte aufgerufen wird: In Indien wird den Nutzer:innen angezeigt, dass ganz Kaschmir zu Indien gehört – im Rest der Welt nicht. In der Türkei wird angezeigt, dass die »Türkische Republik Nordzypern« unabhängig ist vom übrigen Zypern – im Rest der Welt nicht; und so weiter. Diese kommentarlose Übernahme politischer Vorgaben zementiert jeweils die Sicht, wonach die Ansprüche des eigenen Landes die unumstrittene Wahrheit seien, und beeinträchtigt so die Suche nach Kompromissen und Ausgleich. In Deutschland wird über diese Handhabung praktisch nicht berichtet.
Top 4: Was für ein Reinfall: Schlaglöcher in Deutschland und Großbritannien
In Deutschland stellen Schlaglöcher eine Herausforderung für alle Verkehrsteilnehmer dar und bergen erhebliche Risiken für die Verkehrssicherheit, insbesondere in NRW. Und ihre Zahl scheint sogar noch deutlich zuzunehmen. Doch ganz genau kann das in Deutschland niemand sagen, denn die Zahl der Schlaglöcher wird gar nicht zentral erfasst. So wurden z. B. in Bayern im vergangenen Jahr 85 tödliche Radunfälle verzeichnet, 35 davon alleinbeteiligt, bei dreien war der Straßenzustand schuld am Unfall. Großbritannien liefert durch detaillierte Daten und Schätzungen von Verkehrsdienstleistern wie RAC und AA eine präzise Einsicht in das Ausmaß der Schlaglochproblematik. Das ermöglicht gezielte Maßnahmen zur Verbesserung der Straßenqualität und Verkehrssicherheit. Infrastrukturprobleme in Deutschland werden medial vor allem anhand von maroden Großprojekten wie Autobahnbrücken dargestellt. Viele Probleme liegen aber buchstäblich tiefer: im Schlagloch.
Top 5: Noma: Eine kaum bekannte Tropenkrankheit tötet jährlich zehntausende Kinder
Die Tropenkrankheit Noma ist vor allem in vielen afrikanischen und asiatischen Ländern weit verbreitet. Besonders gefährdet von dieser bakteriellen Infektion sind Kinder unter sieben Jahren und schwangere Frauen. Ohne Behandlung verläuft die Krankheit meist tödlich; Überlebende sind häufig vor allem im Gesicht enorm entstellt. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) schätzt, dass jedes Jahr 80.000 bis 90.000 Kinder an dieser Krankheit sterben. Die Krankheit gehört bisher nicht zur Liste der »vernachlässigten Tropenkrankheiten« (Neglected Tropical Diseases, NTD) der WHO – sie ist also selbst unter den vernachlässigten Tropenkrankheiten noch vernachlässigt und in Deutschland praktisch unbekannt.
Top 6: Titandioxid: In Lebensmitteln verboten – in Medikamenten erlaubt?
Das weiße Farbpigment Titandioxid wurde im Sommer 2022 von der Europäischen Kommission als Lebensmittelzusatzstoff verboten, da nicht ausgeschlossen werden kann, dass der Stoff genetisches Zellmaterial verändert. Der Stoff stellt also ein Gesundheitsrisiko dar. Dennoch ist er weiterhin in Medikamenten erlaubt und enthalten. Obwohl zahlreiche Bürger:innen von der Problematik betroffen sind, wurde bislang kaum darüber berichtet. Aufgrund der hohen gesellschaftlichen Relevanz und weil es die Gesundheit eines und einer jeden betreffen kann, sollte das Thema medial berücksichtigt werden.
Top 7: Das Weltsozialforum: Ein Gegenmodell zum Weltwirtschaftsforum Davos
Das Weltsozialforum (WSF) ist eine seit 2001 stattfindende globalisierungskritische Veranstaltung, die von zahlreichen (internationalen) NGOs getragen wird. Es findet jährlich an verschiedenen Orten des »globalen Südens« statt und bietet einen offenen Raum für einen friedlichen Austausch – hauptsächlich über soziale, wirtschaftliche sowie umweltpolitische Themen. Das WSF plädiert für eine Globalisierung »von unten«, dabei argumentieren und protestieren die Teilnehmenden gegen den Neoliberalismus. Obwohl das Weltsozialforum und die dort diskutierten Inhalte nicht an Relevanz verloren haben, verliert es an medialer Aufmerksamkeit und finanzieller Unterstützung, was sein Fortbestehen gefährdet.
Top 8: Die Crossover-Nierenspende
In Deutschland sind etwa 100.000 Patient:innen auf Nierenersatzverfahren angewiesen, bedingt durch starke Funktionseinschränkungen. Der Mangel an postmortal gespendeten Nieren führt dazu, dass das deutsche Gesundheitssystem auf die Dialyse als Hauptbehandlungsweg setzt, obwohl sie nur als Brückentechnologie gedacht ist. Gleichzeitig wird das Potenzial von Lebendspenden nicht ausgeschöpft, da derzeit nur nahestehende Personen Betroffenen eine Niere spenden dürfen – häufig sind diese aber nicht kompatibel. Die erweiterte Zulassung der Crossover-Nierenspende (CNS) würde Abhilfe schaffen, indem sich neue Transplantationspaare finden können. Bisher erfolgt die CNS jedoch nur in juristischen Grauzonen und ein deutschlandweites Register fehlt. Die Ausweitung der CNS birgt neben ethischen Herausforderungen vor allem neue Hoffnungen für Patient:innen, die medial und politisch stärker thematisiert werden müssen.
Top 9: Zwischen Bürokratie und Schule – Doppelbelastung von Kindern in migrantischen Familien
Sprachbarrieren und komplizierte bürokratische Prozesse erschweren es Migrantinnen und Migranten häufig, ihre Anliegen selbst zu bearbeiten. In vielen Fällen fungieren die Kinder der Familien als Übersetzer:innen, als Berater:innen oder als Arztbegleitung. Der Druck auf die Kinder ist hoch, oft leiden schulische und außerschulische Aktivitäten unter der hohen Verantwortung für die Familie. Migrationshelfer:innen und Ehrenamtliche bieten inzwischen Hilfeleistungen an, beispielsweise durch die Begleitung zu Terminen, Übersetzungsleistungen oder Hilfe beim Ausfüllen von Formularen. Die Unterstützung erreicht aber nur einen Bruchteil der betroffenen Familien, ein ganzheitlicher Lösungsansatz für das Problem fehlt.
Top 10: Allein auf dem Acker – Suizide in der Landwirtschaft
Landwirtinnen und Landwirte leiden aufgrund ihrer hohen Arbeitsbelastungen immer öfter an Depressionen und Burn-outs. Bis zu 4,5-mal häufiger als in anderen Berufsgruppen soll das Risiko eines Burn-outs sein, der in einigen Fällen auch zum Suizid führt. Offizielle Zahlen gibt es hierfür allerdings nicht, obwohl zwei Prozent der erwerbstätigen Deutschen in der Landwirtschaft arbeiten. Fachzeitschriften und Verbände warnen schon länger vor einem berufsspezifischen Suizidrisiko und versuchen aufzuklären. Doch die Berichterstattung in überregionalen Medien bleibt aus, genauso wie eine Datenerhebung aus öffentlicher Hand.
Weitere Informationen: www.derblindefleck.de
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Zitationsvorschlag
Initiative Nachrichtenaufklärung: Top Ten der Vergessenen Nachrichten. Medial unterrepräsentierte Themen 2024. In: Journalistik. Zeitschrift für Journalismusforschung, 1, 2024, 7. Jg., S. 107-111. DOI: 10.1453/2569-152X-12024-13938-de
ISSN
2569-152X
DOI
https://doi.org/10.1453/2569-152X-12024-13938-de
Erste Online-Veröffentlichung
Mai 2024