Von Leonhard Dobusch
Abstract: Im Zeitalter digitaler Plattformen wird demokratische Öffentlichkeit zunehmend von privaten, primär profit-orientierten Unternehmen strukturiert. Öffentlich-rechtliche Medien stehen in diesem Kontext vor der Herausforderung, in Fortführung eines dualen Mediensystems relevante Öffentlichkeit nach alternativen, primär einem demokratischen Auftrag folgenden Logiken zu etablieren. Um diese Herausforderung zu bewältigen, müssen öffentlich-rechtliche Medien selbst zu Plattformbetreibern werden und ihre Kommunikationsinfrastruktur vor allem ihrem Publikum gegenüber, aber auch anderen gemeinnützigen und, in bestimmten Bereichen, auch kommerziellen Medien gegenüber öffnen. Anders als in den medial dominanten Narrativen sind öffentlich-rechtliche Anstalten in Deutschland bereits durchaus fortgeschritten in der Entwicklung entsprechender Angebote. Eine öffentlich-rechtliche Ökosystemstrategie auf Basis offener Software, Protokolle und Plattformen erfordert demnach keinen radikalen Umbruch, sondern primär die logische Weiterentwicklung bereits begonnener Digitalisierungspfade.
Keywords: öffentlich-rechtliche Medien, demokratischer Auftrag, digitale Plattformen, Offenheit
Wenn ich im Folgenden über Reform und Zukunft des öffentlich-rechtlichen Rundfunks reflektiere, dann werde ich etwas in der laufenden Debatte Unerhörtes tun: Optimismus wagen. Ich werde die These vertreten, dass die besten Zeiten öffentlich-rechtlicher Medien noch vor uns liegen. Also nicht nur, dass es die öffentlich-rechtlichen Medien im Zeitalter digitaler Plattformöffentlichkeiten dringender denn je braucht, sondern dass wir in Deutschland auf einem guten Weg sind, öffentlich-rechtliche Medien so zu reformieren, dass sie diesen (er)neue(rte)n Auftrag auch erfüllen können.
Vision: Öffnung öffentlich-rechtlicher Medien
Aber zunächst einmal zu Grundsätzlichem. Warum finanzieren wir, als Gesellschaft, überhaupt öffentlich-rechtliche Medien? Warum müssen auch jene für ARD, ZDF oder ORF bezahlen, die sie gar nicht nutzen oder nutzen wollen? Zunächst einmal ist es so, dass wir, ob wir wollen oder nicht, in hochgradig arbeitsteiligen Gesellschaften mit werbefinanzierten Medien immer auch solche Medien finanzieren, die wir selbst nicht nutzen, ja vielleicht sogar verabscheuen. Auch wer, so wie ich, nie RTL II schaut, aber, so wie ich, für seine Kinder eine Nintendo Switch gekauft hat, finanziert damit diesen Trash-TV-Sender mit. Einfach, weil Nintendo im dortigen Programm massiv Werbespots schaltet (vgl. Charlton et al. 2013). Dasselbe gilt natürlich für werbefinanzierte Online-Plattformen.
Öffentlich-rechtliche Medien unterscheiden sich nun von primär werbefinanzierten Medien vor allem deshalb, weil sie einer anderen, primär einer dem demokratischen Auftrag folgenden Logik verpflichtet sind. Das bedeutet nicht, dass öffentlich-rechtliche Medien deshalb automatisch immer besser, gehaltvoller oder seriöser sind. Natürlich könnten Traumschiff und Fernsehgarten auch bei Sat1 laufen. Wobei, dann auch wieder nicht, weil ein sehr großer Teil des Publikums dieser Sendungen außerhalb der werberelevantesten Zielgruppe der 19-49-Jährigen angesiedelt ist (Eick 2007). Öffentlich-rechtliche Medien kümmern sich aber, zumindest ihrem demokratischen Anspruch nach, nicht in erster Linie um werberelevante Zielgruppen, sondern um alle Zielgruppen. Und in dem Ausmaß, in dem sie einer anderen Logik folgen und damit auch relevante Reichweiten erzielen, in dem Maße leisten sie einen Beitrag zu einer vielfältigeren, demokratischen Öffentlichkeit, von der auch jene profitieren, die sie selbst nicht oder nur sehr selektiv nutzen.
Ich habe hier den Begriff der »Logiken« verwendet, weil er schön wissenschaftlich-neutral klingt. Aber was damit natürlich gemeint ist, sind Abhängigkeiten (Pfeffer/Salancik 1978). Denn auch, wenn auf vielen Zeitungen fett »unabhängig« auf der Titelseite steht, gibt es am Ende des Tages keine unabhängigen Medien, sondern nur unterschiedliche Abhängigkeiten (Dobusch 2021). Die einen sind abhängig von ihren Abonnent:innen, andere von ihren Werbekund:innen, andere von Spender:innen, andere von reichen Mäzenen, und wieder andere von politisch festgelegten Rundfunkbeiträgen. Jede Form von Abhängigkeit hat Folgen für die Ausrichtung eines Mediums, jede Form von Abhängigkeit kann zum Problem werden. Reiche Mäzene finanzieren beispielsweise demokratiefördernde Investigativangebote wie ProPublica, genauso aber auch demokratiegefährdende Schwurbelsender wie Österreichs Privat-TV-Marktführer ServusTV, den der inzwischen verstorbene Eigentümer und RedBull-Milliardär Dietrich Mateschitz schon einmal kurzfristig dicht gemacht hatte, nur weil die 200-köpfige Belegschaft einen Betriebsrat hatte gründen wollen (Bakir 2016). Einen solchen gibt es bis heute nicht.
Wenn es aber keine völlig unabhängigen Medien gibt, dann haben wir es im Idealfall mit einer Medienlandschaft zu tun, in der nicht einzelne Formen der Abhängigkeit dominieren, sondern in der sich verschiedene Formen von Abhängigkeit wechselseitig kontrollieren.
Dass das auch, ja ganz besonders im Zeitalter digitaler Plattformen gilt, das hat uns im letzten Jahr die Übernahme von Twitter aka »X« durch den damals reichsten Mann der Welt anschaulich vor Augen geführt. Bei aller berechtigten Kritik an öffentlich-rechtlichen Medien, zumindest kann nicht morgen irgendein reicher Milliardär um die Ecke kommen, sie aufkaufen, mehr als die Hälfte der Belegschaft rausschmeißen und Neonazis zu Kolumnist:innen machen.
Aber auch abseits des besonders eindrücklichen Falls von Twitter leben wir in einer Plattform-Monokultur. Egal ob Facebook, TikTok, Instagram oder »the platform formerly known as Twitter«, alle diese Plattformen sind in privater Hand, werbefinanziert und gesteuert von Algorithmen, die »Engagement«, also Klicks und Viewtime und Zahl an Kommentaren, belohnen (Bruns 2018). Dass vor allem Emotionalisierung und Polarisierung, lautes Zuspitzen und nicht differenziertes Betrachten zu diesem »Engagement« führen, nehmen die Plattformbetreiber in Kauf. Nicht, weil sie die daraus folgende Zuspitzung gesellschaftlicher Konflikte gut finden, sondern schlicht und einfach, weil es sich rechnet. Primär profit-orientiert eben.
Spätestens an diesem Punkt wird deutlich, warum öffentlich-rechtliche Medien im Zeitalter digitaler Plattformöffentlichkeit wichtiger denn je sind. Dringender denn je brauchen wir Alternativen, brauchen wir Ausweichrouten zu den großen, profitgetriebenen Online-Plattformen – brauchen wir digitale öffentliche Räume, die primär einem demokratischen Auftrag verpflichtet sind (Dobusch 2022b).
Und: Öffentlich-rechtliche Medien sind schon strukturell auf Kompromiss und Konsens hin ausgerichtet. Nehmen wir als Beispiel das ZDF. Nicht nur der Intendant, auch acht von zwölf Mitgliedern des Verwaltungsrates benötigen eine Dreifünftel-Mehrheit im Fernsehrat, um gewählt zu werden. Von den gesetzlichen Grundlagen, dem ZDF-Staatsvertrag, gar nicht erst zu reden, wo es Einstimmigkeit von 16 Ländern benötigt. Mehr Gegenmodell zu privaten Plattformen, wo jene, die am lautesten und emotionalsten und radikalsten rumbrüllen am meisten Gehör finden, geht kaum.
Damit Öffentlich-Rechtliche aber diesen dringenden Bedarf nach gemeinnützigen Alternativen zu den großen Werbe- und Kommerzplattformen erfüllen können, müssen sie sich, muss sich ihre Rolle ändern. Öffentlich-Rechtliche müssen selbst zu Plattformbetreibern werden. Sie müssen sich und ihre Kommunikationsinfrastruktur vor allem ihrem Publikum gegenüber, aber auch anderen gemeinnützigen und, in bestimmten Bereichen, auch kommerziellen Medien gegenüber öffnen.
Mit meinem Kollegen, dem Techniksoziologen Jan-Hendrik Passoth, habe ich hier vor allem drei Bereiche identifiziert, in denen öffentlich-rechtliche Medien mehr Offenheit brauchen (vgl. Dobusch/Passoth 2022):
Erstens, eine Öffnung der Software hin zu gemeinsamer und transparenter Entwicklung auf Basis von Open-Source-Software, offenen Standards und offenen Protokollen. Konsequent umgesetzt würde das nahtlos zu grenzüberschreitender Zusammenarbeit mit anderen öffentlich-rechtlichen Medien in Europa und darüber hinaus einladen – ohne sich unbedingt über jedes Detail, über jedes Feature, über jede strategische Frage vorab einigen zu müssen. Offene Software und offene Standards als unilaterale Europäisierung quasi.
Zweitens, eine Öffnung für Interaktion mit dem Publikum und gesellschaftliche Teilhabe (Dobusch/Parger 2021). Wenn ich heute mit anderen Zuschauer:innen über die aktuellste Folge von Jan Böhmermanns ZDF Magazin Royale diskutieren möchte, muss ich hoffen, zumindest Ausschnitte daraus bei YouTube zu finden. Es ist absurd, Menschen auf kommerzielle Plattformen wie YouTube oder Instagram zu zwingen, wenn sie öffentlich-rechtliche Inhalte diskutieren wollen. Das steht im eklatanten Widerspruch zum Auftrag, demokratische Meinungsbildungsprozesse zu fördern.
Drittens braucht es eine Öffnung der Mediatheken für nutzer:innengenerierte Inhalte und andere gemeinnützige Medienangebote – von Universitäten über Museen bis hin zu Blogs und Podcasts. Die Mediatheken sollten all diesen anderen Anbietern eine Bühne bieten und so Non-Profit-Angebote ganz allgemein stärken helfen.
Öffentlich-rechtliche Medien bewegen sich langsam, aber dafür stetig und nachhaltig
Gut. Spätestens an dieser Stelle werden sich viele fragen, wie ich nur so naiv sein kann zu glauben, dass nationale öffentlich-rechtliche Medien auch nur den Hauch einer Chance gegen die dominanten, großen Global Player haben könnten? Ist »ein öffentlich-rechtliches Gegenmodell«, in den Worten des von mir prinzipiell sehr geschätzten Sascha Lobo (2022), nicht einfach »grotesker Airbus-Quatsch«?
Nein. Aber es hat schon einen Grund, warum auch Internet-Versteher wie Sascha Lobo sich schwertun zu sehen, warum öffentlich-rechtliche Medien besser für die digitale Zukunft aufgestellt sind, als es ihr Image von drögen, bürokratischen Anstalten vermuten ließe – und zwar nicht nur, weil wir bei den Öffentlich-Rechtlichen zum Internet »Telemedien« sagen.
Denn während der Aufstieg der digitalen Plattformgiganten größtenteils Mark Zuckerbergs bekannter Devise des »move fast and break things« folgte (Taneja 2019), mit dem Ziel, um jeden Preis exponentielle Hockey-Schläger-Wachstumskurven zu erreichen, verfahren die Öffentlich-Rechtlichen in Deutschland und Europa eher nach dem Motto »move slow and build things«. Gewachsen wird eher linear als exponentiell. Das hat natürlich viel weniger ›Wumms‹ und kommt unspektakulär daher. Aber am Ende ist so ein Ansatz wahrscheinlich nachhaltiger und jedenfalls demokratischer.
Aber machen wir es konkret. Am 1. Mai 2019 trat der 22. Rundfunkänderungsstaatsvertrag nach Ratifizierung in allen 16 Landesparlamenten in Kraft. Ein historisches Datum in der Geschichte öffentlich-rechtlicher Online-Angebote in Deutschland. Warum? Bis dahin war es öffentlich-rechtlichen Online-Angeboten, also im Wesentlichen den Mediatheken, verboten, ohne unmittelbaren Sendungsbezug zu verlinken. Dieses Verlinkungsverbot ist gefallen. Kurz davor hatte der damalige ARD-Vorsitzende und BR-Intendant Ulrich Wilhelm eine in den Medien regelmäßig als »Supermediathek« bezeichnete (Bouhs 2018), öffentlich-rechtliche Plattform gefordert, am besten europäisch und unter Einbeziehung der Privaten.
Wo stehen wir heute, etwa fünf Jahre später: Nicht nur wurden die diversen, eigenständig entwickelten ARD-Mediatheken zusammengeführt, sie wurden auch auf Basis gemeinsamer, offener Standards mit der ZDF-Mediathek verschränkt (ZDF 2023). Im Ergebnis kann ich heute in der ARD-Mediathek die ZDF Heute Show und in der ZDF-Mediathek den neuesten Tatort schauen; selbst die Empfehlungsbänder in den Mediatheken verweisen über die Sender- und Anstaltsgrenzen hinweg. Eine Integration vom österreichischen ORF sowie der Schweizer SRG ist in Arbeit. Bis zu einem gewissen Grad ist das schon eine kleine, dezentrale Supermediathek.
Weniger weit gediehen ist die Öffnung der Mediatheken für das Publikum sowie andere, gemeinnützige Inhalteproduzent:innen. Noch immer ist es beißende Ironie, wenn Jan Böhmermann die Zuschauer:innen auffordert, wie in der Sendung vom 10. November 2023, sie mögen ihm doch Vorschläge als Kommentar in der ZDF-Mediathek hinterlassen. Noch immer ist es so, dass Zuschauer:innen, die sich mit anderen über öffentlich-rechtliche Inhalte austauschen wollen, dafür auf kommerzielle Plattformen wechseln müssen. Aber auch hier tut sich etwas.
Zunächst ist es so, dass die Grundvoraussetzungen dafür, öffentlich-rechtliche Mediatheken »social« zu machen, bereits geschaffen wurden. Länger noch als eine gemeinsame Suche gibt es bereits ein gemeinsames, Mediathek-übergreifendes Login. Und dieses Login wird auch genutzt, weil es mit Features verbunden ist: Serien wie Parfum sind erst ab 16 Jahren und dürfen erst abends ausgestrahlt werden, eingeloggt kann ich sie aber rund um die Uhr ansehen – und nahtlos vom Handy aufs Tablet wechseln und dort weiterschauen. So kommt es, dass alleine das ZDF Millionen von registrierten Nutzer:innen aufweist (ZDF 2022). Alle diese Nutzer:innen verfügen also bereits über ein persönliches Profil. Dieses Profil schrittweise mit weiteren Features wie Kommentarfunktionen, teilbaren Playlisten bis hin zu Upload-Funktionen auszustatten, dafür braucht es keine Revolution, das sind die logischen nächsten Schritte (Dobusch 2022b).
Mehr noch, das ZDF hat Ende letzten Jahres ein wegweisendes F&E-Projekt namens »Public Spaces Incubator« gestartet, das nicht nur eine Öffnung der Mediatheken für Publikumsbeiträge, sondern eine Einbettung im Rahmen dezentraler, protokollbasierter sozialer Netzwerke ganz konkret – also in Form von Software-Code – erproben soll (Dobusch 2023). Und zwar nicht alleine, sondern gemeinsam mit anderen Öffentlich-Rechtlichen in Belgien, der Schweiz und Kanada – eine Kooperation, die nur denkbar und praktisch möglich ist, weil sie auf offener Software, offenen Standards und offenen Protokollen basiert.
Und in dem Maße, in dem sich öffentlich-rechtliche Medien auf dezentrale und offene soziale Netzwerkstrukturen á la Mastodon einlassen, desto mehr wird der vermeintliche Nachteil der starken nationalen oder sogar regionalen Verankerung öffentlich-rechtlicher Medien vom Bug zum Feature: Dann ist es sogar wünschenswert, dass ARD-Anstalten eigene Mastodon- und Peertube-Server betreiben. Auf Basis offener Software, offener Standards und offener Protokolle entsteht so ein regional verankertes, transnationales Ökosystem öffentlich-rechtlicher und anderer gemeinnütziger Anbieter, das groß und dynamisch genug ist, um so etwas wie öffentlich-rechtliche Netzwerkeffekte zu erzeugen – und genau dadurch eine echte, weil völlig anderer Logik folgende, dezentral-gemeinnützige Alternative zu den global-profitorientierten Einheitsplattformen zu bieten (Dobusch 2022b).
Konflikte am Weg in die öffentlich-rechtliche Zukunft
Wenn das alles stimmt, was ich bisher erzählt habe, also dass öffentlich-rechtliche Medien im digitalen Plattformzeitalter notwendiger denn je sind und die Entwicklung zwar langsam, aber kontinuierlich in Richtung offenes, dezentrales und vernetztes öffentlich-rechtliches Ökosystem geht, warum ist die öffentliche Debatte über öffentlich-rechtliche Medien dann so negativ in ihrer Tonalität? Warum ist es provokant, ein rosiges Zukunftsbild öffentlich-rechtlicher Medien zu skizzieren?
Meine These ist, dass das nicht nur an Skandalen wie jenem im RBB liegt, an denen es nichts zu beschönigen gibt und die den Bedarf nach mehr Transparenz und mehr demokratischer Rückbindung in der Aufsicht noch einmal schmerzhaft deutlich vor Augen geführt haben (Dobusch 2022d). Aber auch hier bewegt sich etwas, im bereits fertig verhandelten 4. Medienänderungsstaatsvertrag wird im Bereich Transparenz und Compliance nachgebessert.
Nein, die negative Stimmung öffentlich-rechtlichen Medien gegenüber ist meiner Meinung nach primär auf zwei Ursachen zurückzuführen. Da wäre zunächst die überaus tiefgreifende, digitale Transformation der traditionellen privaten, primär werbefinanzierten Medienhäuser. Deren Geschäftsmodell wird seit Jahren in seinen Grundfesten erschüttert, weil Werbung bei Google und in sozialen Netzwerken viel treffsicherer ihre Zielgruppen erreicht, als klassische Print- oder TV-Werbung. Das ist zwar nicht die Schuld öffentlich-rechtlicher Medien, aber ich kann schon verstehen, dass die Privaten jede Einschränkung öffentlich-rechtlicher Online-Angebote als willkommene Unterstützung ihres Überlebenskampfes sehen – selbst wenn das bedeutet, anachronistische Spaßkonzepte wie das Verbot von »Presseähnlichkeit« (Dobusch 2017) herbeizulobbyieren.
Bis zu einem gewissen Grad ist dieser Konflikt unauflösbar: In einem Internet voller Inhalte ist menschliche Aufmerksamkeit die knappste Ressource und natürlich stehen öffentlich-rechtliche und private Medien hier im Wettbewerb miteinander. Gleichzeitig ist genau das der Punkt, dieser Wettbewerb auf Basis unterschiedlicher Logiken ist ja mit ein Grund für die Etablierung öffentlich-rechtlicher Medien. Und weil es online eben auch genau darauf ankommt, welche Inhalte wie präsentiert und empfohlen werden, halte ich auch wenig davon, öffentlich-rechtliche Mediatheken für private Inhalte zu öffnen.
Allerdings sehe ich durchaus Potenziale für Synergien, für digitalen Public Value jenseits des programmlichen Wettbewerbs. Wenn Mediatheksoftware, wie von mir bereits skizziert, endlich auf Basis von offener Software entwickelt wird, können natürlich auch private Medienanbieter diesen Code nutzen, adaptieren und so Entwicklungskosten in einem Bereich sparen, der ohnehin nicht wettbewerbsdifferenzierend ist (Harutyunyan et al. 2020). Warum nicht auch gemeinsam Dienste für Authentifizierung oder Streaming entwickeln und betreiben? Es gäbe also durchaus Bereiche für kooperativere Beziehungen zwischen öffentlich-rechtlichen und privaten Medien, wenn auch eine gewisse Grundspannung immer bleiben wird. Und das ist auch gut so.
Gar nicht gut ist jedoch die zweite Ecke, aus der sich öffentlich-rechtliche Medien mit fundamentaler und oft schriller Kritik konfrontiert sehen: jener von rechtpopulistischen bis neofaschistischen Demagogen (Holtz-Bacha 2021), die von Österreich über die Schweiz bis Deutschland die Abschaffung von Rundfunkbeiträgen fordern, und in Italien gerade eine radikale Kürzung durchgesetzt haben.
Ihnen und ihren Verbündeten geht es nicht darum, öffentlich-rechtliche Medien demokratischer oder qualitätsvoller zu machen, sie haben ein Problem mit der Idee und der Struktur öffentlich-rechtlicher Medien an sich. Einer Idee und Struktur, die gerade in Deutschland und Österreich eine unmittelbare Lektion aus dem propagandistischen Missbrauch von Massenmedien in Faschismus und Nationalsozialismus war. Insofern ist es kein Wunder, dass die geistigen Kinder des Faschismus heute ein grundsätzliches Problem mit öffentlich-rechtlichen Medien haben.
Aber es hat auch einen ganz pragmatischen Grund, warum Rechtsextreme und Faschisten öffentlich-rechtliche Medien bekämpfen: Während sie sich mit Desinformation und Hetze in öffentlich-rechtlichen Kontexten schwertun – auch wenn diese natürlich nicht völlig immun dagegen sind –, werden sie dafür in den privaten Plattformen mit Likes, Shares und damit Reichweite belohnt (Bruns 2018; Doctorow 2020). Sie haben kein Interesse am demokratischen Kompromiss, sie wollen demokratische Prozesse zerstören. Und Medien, die, wie Öffentlich-Rechtliche, strukturell auf Kompromiss und Ausgleich gepolt sind, stehen dem im Weg.
Entscheidend ist und wird in den nächsten Jahren sein, wie öffentlich-rechtliche Medien auf diese demokratiefeindlichen Tendenzen reagieren. Die größte Gefahr besteht darin, einem Drängen auf mehr »Ausgewogenheit« in der Berichterstattung nachzugeben, das in Wirklichkeit einer Forderung nach »false balance«, also falscher Ausgewogenheit, entspricht (Birks 2019): Es ist nicht ausgewogen, sondern »false balance«, den Vorschlägen eines Klimaforschers zur Adressierung der Erderhitzung, einen Leugner der menschengemachten Erderhitzung gegenüber zu stellen. Oder weniger als eigentlich angemessen über die Klimakrise zu berichten, weil dann Vorwürfe der Voreingenommenheit und des Aktivismus drohen (Fahy 2017). Genau das passiert aber in vielen, auch öffentlich-rechtlichen Redaktionen: So berichtet beispielsweise Wolfgang Blau (2022) nach zahlreichen Gesprächen mit Kolleg:innen davon, dass »die Angst des Aktivismus bezichtigt zu werden, einer der häufigsten Gründe dafür ist, warum Journalist:innen davor zurückscheuen, häufiger […] über die Klimakrise zu berichten.«
Um diese Auseinandersetzung durchzustehen, braucht es eine Selbstvergewisserung, was öffentlich-rechtlicher Journalismus bedeutet und Selbstreflexion, wie Aktivismusvorwürfen, die ja nichts anderes als Kritik an einer bestimmten normativen Haltung sind, wirksam begegnet werden kann. Und das sind Fragen, die mich auch deshalb umtreiben, weil sie mich selbst als Wissenschaftler betreffen. Auch Wissenschaftler, die sich öffentlich und politisch äußern, werden regelmäßig als »Aktivisten« bezeichnet. Mit anderen Worten, im Kampf gegen gezielte Desinformationskampagnen und neofaschistische Tendenzen sitzen Journalist:innen und Wissenschaftler:innen im selben Boot (Dobusch 2022c).
Und beide begehen einen Fehler, wenn sie in dieser Situation zurückrudern und leugnen, dass normative Standpunkte in journalistische und wissenschaftliche Erkenntnisprozesse mit einfließen. Das ist immer falsch. Schon die Entscheidung, welches Thema aus einer unendlichen Zahl an möglichen Themen als relevant genug für eine Recherche oder eine Studie ausgewählt wird, ist immer und unvermeidbar normativ, ja politisch. Gleiches gilt für die Frage, welcher Schwerpunkt gewählt, wer befragt und wer zitiert, was erwähnt und was weggelassen wird. Nichts davon ist frei von normativen Überlegungen (Dobusch 2022c).
Das ist auch der Grund, warum schon Max Weber 1904 im Titel seines Aufsatzes Die ›Objektivität‹ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis den zentralen Begriff der Objektivität unter Anführungszeichen gesetzt hat. Wenn aber an normativen Entscheidungen kein Weg vorbeiführt, wie könnte dann eine Antwort aussehen?
Dafür möchte ich zum Abschluss den Blick auf eine weitere, bislang unerwähnte Digitalplattform lenken. Eine Plattform, die in der medialen Debatte über digitale Öffentlichkeit kaum je Erwähnung findet, obwohl ihre Bedeutung für unser Weltwissen und damit unser Weltverstehen kaum hoch genug eingeschätzt werden kann: Ich spreche von der freien Online-Enzyklopädie Wikipedia. Nicht nur ist sie die einzige nicht-kommerzielle unter den 100 meistbesuchten Webseiten der Welt. Auch die mit Abstand meistbesuchte Webseite, das wichtigste Tor ins Weltwissen, Google featured sie prominent in Suchergebnissen. Und neue, gehypte KI-Anwendungen werden ganz wesentlich mit Wikipedia-Daten trainiert.
Wenn wir uns anschauen, wie es um die Glaubwürdigkeit und Robustheit des Wikipedia-Wissens bestellt ist, dann zeigt sich, dass dieses gerade in dynamischen und politisch kontroversen Themenfeldern – von Covid über den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine bis hin zur Klimakrise – ausgesprochen akkurate und aktuelle Informationen liefert (Bruckman 2022). Das ist, mit Verlaub, ein Treppenwitz der Internetgeschichte. In den ersten zehn Jahren ihrer Geschichte, war die meistgestellte Frage zur Wikipedia: »Ja, kann man das glauben, was da drinnen steht? Da kann ja jeder alles Mögliche hineinschreiben!«
Paradoxerweise ist es genau diese radikale Offenheit der Wikipedia, die sie prinzipiell offen für Manipulationsversuche macht, auch Teil der Lösung, wie es gelingt, Manipulationsversuchen zu widerstehen. Jede Änderung ist dauerhaft transparent nachvollziehbar, und das gilt auch für die Dokumentation eigener Schwächen und Fehler. So gibt es umfassende Beiträge über systemischen Bias in der Wikipedia wegen des großen Männerüberhangs unter den Autoren ebenso wie eine lange Liste an Fehlern und Manipulationsversuchen in der Geschichte der Wikipedia (Wikipedia 2024).
Der zweite Grund für die Robustheit des Wikipedia-Wissens ist, dass Wikipedia im krassen Gegensatz zu den großen kommerziellen Plattformen zum Kompromiss zwingt (Seemann 2019). Zu jedem Thema gibt es nur einen Artikel. Widersprüchliche Auffassungen müssen ausdiskutiert werden oder als Kontroverse selbst im Artikel abgebildet werden. Wissen wird dadurch als das kenntlich, was es immer schon war: umstritten und vorläufig, sicheres Wissen gibt es nicht. Gleichzeitig ist aber auch dieses Wissen nicht Ergebnis von Abstimmungen, sondern ausverhandelt. Das ist nicht immer schön anzusehen, natürlich gibt es Konflikte, zum Beispiel, ob der Wiener Donauturm architektonisch ein Fernsehturm ist, auch wenn er nie als Fernsehsender fungiert hat, aber am Ende gibt es keine Alternative zum Kompromiss.
Die Wikipedia ist das beste Beispiel für das enorme Potenzial von offenen, gemeinschaftlich finanzierten, konsens- oder zumindest kompromissorientierten Plattformen. Wikipedia ist gleichzeitig aber mehr als ein – keineswegs perfektes, aber doch – Vorbild in Sachen Transparenz und Deliberation. Aus Perspektive öffentlich-rechtlicher Medien, ist Wikipedia auch eine Drittplattform, die global strukturiert und gleichzeitig in über 200 Sprachversionen dezentral verankert ist. Ein Ort für die Verbreitung öffentlich-rechtlicher Inhalte jenseits von werbegetriebenen Algorithmen, wo die Audio- und Bewegtbildinhalte öffentlich-rechtlicher Medien die perfekte Ergänzung zu den Texten der Artikel darstellen. Ein Partner im unendlichen Bemühen zu sagen, was ist (Dobusch 2022a).
Und dass das zwar ambitioniert, aber durchaus realistisch ist, auch das zeigt das Beispiel der Wikipedia: Seit Anfang 2023 veröffentlichen ZDF und ARD regelmäßig Videos, die ihren Weg in Wikipedia-Artikel finden. So helfen Terra-X-Videos beim Verstehen der Erderhitzung und Videos der Tagesschau-Redaktion erklären, wie das deutsche Wahlsystem funktioniert, um nur zwei von mittlerweile Hunderten Beispielen zu nennen, die Monat für Monat mehrere Millionen Mal angesehen werden (Franke 2023).
Mit diesem konkreten Beispiel möchte ich zum Schluss noch einmal zusammenfassen, warum ich davon überzeugt bin, dass die besten Zeiten öffentlich-rechtlicher Medien noch vor uns liegen:
Erstens werden sie sich, ihrem demokratischen Auftrag verpflichtet, mehr noch als in der Vergangenheit, von privat-profitorientierten Medien unterscheiden und neue digitale Aufgaben übernehmen.
Zweitens sind die dafür notwendigen Reformen nicht nur absehbar, wir befinden uns längst mittendrin. Worüber ich hier geschrieben habe, ist nicht einmal eine Revolution, sondern eine logische Weiterentwicklung bereits begonnener Digitalisierungspfade.
Drittens: Die Konflikte am Weg dorthin sind keine existenzielle Bedrohung, sondern sind es Wert, geführt zu werden – als notwendiger Anlass für Selbstreflexion und Selbstvergewisserung, was die Rolle öffentlich-rechtlicher Medien im Zeitalter digitaler Plattformen und neofaschistischer Bewegungen sein kann, sein soll, ja sein muss.
Dieser Beitrag beruht auf einer Rede, die Leonhard Dobusch anlässlich der Verleihung der Otto-Brenner-Preise für kritischen Journalismus 2023 gehalten hat.
Über den Autor
Leonhard Dobusch, Univ.-Prof. Dr. (*1980) ist seit 2016 Professor für Betriebswirtschaftslehre mit Schwerpunkt Organisation an der Universität Innsbruck und wissenschaftlicher Leiter des Momentum-Instituts in Wien. Nach sechs Jahren als Vertreter für den Bereich »Internet« im ZDF Fernsehrat wurde er 2022 in den ZDF Verwaltungsrat gewählt. Seine Forschungsschwerpunkte sind organisationale Offenheit, Management digitaler Gemeinschaften sowie private Regulierung via Standards. Kontakt: Leonhard.Dobusch@uibk.ac.at
Literatur
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Zitationsvorschlag
Leonhard Dobusch: Von Sendern zum offenen Ökosystem. Zur Reform und Zukunft des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. In: Journalistik. Zeitschrift für Journalismusforschung, 1, 2024, 7. Jg., S. 94-106. DOI: 10.1453/2569-152X-12024-13936-de
ISSN
2569-152X
DOI
https://doi.org/10.1453/2569-152X-12024-13936-de
Erste Online-Veröffentlichung
Mai 2024
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