Die Nichtregierungsorganisation Initiative Nachrichtenaufklärung (INA) e.V. präsentiert gemeinsam mit der Deutschlandfunk-Nachrichtenredaktion jährlich eine Liste mit zehn in den (deutschsprachigen) Medien vernachlässigten Themen. Angestrebt ist, Journalistinnen und Journalisten auf Vernachlässigungen, Agenda Cutting und Desinformationen hinzuweisen und Vorschläge für zum Teil exklusive Themen zur weiteren Bearbeitung zu unterbreiten. Da seit längerer Zeit der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine und der Gaza-Krieg, die US-Wahl sowie die deutsche Regierungskrise inklusive Neuwahlen die Berichterstattung beherrschen und gleichzeitig weltweit Journalistinnen und Journalisten wie auch Whistleblower verfolgt, inhaftiert und sogar getötet werden, ist die Suche nach »Vergessenen Nachrichten« besonders wichtig.
Die Top Ten hat auch in diesem Jahr wieder eine Jury mit Vertreterinnen und Vertretern aus den Kommunikations- und Medienwissenschaften und professionellem Journalismus ausgewählt. Studierende an mehreren deutschen Hochschulen überprüften, ob die vorgeschlagenen Themen und Nachrichten zutreffen und ob sie tatsächlich von den Medien vernachlässigt wurden. Alle Themen, die diese Kriterien erfüllen, werden der Jury mit ausrecherchierten Berichten vorgelegt. In einer eintägigen Sitzung entscheiden die anwesenden Jury-Mitglieder, welche der vorgeschlagenen Themen sie als besonders relevant erachten.
Per E-Mail, Post oder Webformular kann jede und jeder bei der Initiative Nachrichtenaufklärung auf besonders wichtige vernachlässigte Themen hinweisen. Das ist von besonderer Bedeutung, damit konkrete Erfahrungen aus der Bevölkerung und nicht nur Absichten und Programme von Interessenverbänden und anderen Institutionen in den Top-Ten-Listen der INA e.V. zur Nachrichtenaufklärung beitragen.
Top 1: Kindersoldaten kämpfen mit deutschen Kleinwaffen
Weltweit werden über 250.000 Kinder und Jugendliche in militärischen Konflikten und kriegerischen Handlungen eingesetzt, wobei Kleinwaffen eine zentrale Rolle spielen. Deutschland, als zweitgrößter Exporteur von Kleinwaffen, hat trotz internationaler Abkommen seine Rüstungspolitik nicht ausreichend angepasst. Exportgenehmigungen für Kleinwaffen erfolgen oft ohne strenge Kontrollen, sodass der Endverbleib der Waffen unklar bleibt. NATO-, EU– und gleichgestellte Staaten werden bei Exporten bevorzugt, was den weiteren Waffenfluss in Länder mit Kinderrechtsverletzungen erleichtert. Kontrolle und Durchsetzung der Exportregeln sind mangelhaft. Ein Umdenken in der Rüstungspolitik der deutschen Bundesregierung ist bislang nicht in Sicht. In deutschen Medien wird darüber praktisch nicht berichtet.
Top 2: Flüchtlingslager auf Samos ist menschenunwürdig
Nach dem medialen Aufschrei über die Zerstörung des Flüchtlingslagers Moria im Jahr 2020 wurde auf der griechischen Insel Samos ein neues »Closed Controlled Access Centre« (CCAC) errichtet, das angeblich die Lebensbedingungen der Geflüchteten verbessern sollte. Allerdings beanstanden Kritiker:innen die weiterhin menschenunwürdigen Zustände, mangelnde Versorgung und die Perspektivlosigkeit der Geflüchteten. Doch die mediale Aufmerksamkeit für die Missstände in den Lagern ist stark zurückgegangen – die drängenden Probleme sind aus dem öffentlichen Bewusstsein verschwunden. Die Thematik ist auch für Deutschland relevant, da die Situation auf Samos die europäische Flüchtlingspolitik widerspiegelt und die Integration von Geflüchteten, insbesondere als Arbeitskräfte zur Bekämpfung des Fachkräftemangels, eine entscheidende Rolle in der politischen Debatte über Asylrecht und Arbeitsmarkt spielt.
Top 3: Verbot von Menschenrechtsorganisationen in Äthiopien
In Äthiopien verschärft die Regierung die Repression. Mehrere Menschenrechtsorganisationen wurden im November 2024 verboten. Deutschland hat als Mitglied des UN-Menschenrechtsrates durch seine Enthaltung bei wichtigen Abstimmungen internationale Kontrollmechanismen geschwächt, was die Straflosigkeit im Land begünstigt. Angesichts der geopolitischen Bedeutung Äthiopiens und der anstehenden Wahlen 2026 ist verstärkter internationaler Druck notwendig, um Menschenrechte zu schützen und langfristige Stabilität zu sichern. In den deutschen und internationalen Medien aber ist Äthiopien weitgehend kein Thema mehr seit dem Ende des großen Krieges, der mit dem Einmarsch der Zentralregierung in Tigray begann und zwischenzeitlich weite Teile Äthiopiens erfasste. Über die Verbote wurde praktisch nicht berichtet.
Top 4: Obdachlos trotz Job
Mehr als eine halbe Million Menschen leben in Deutschland ohne Wohnung – einige, obwohl sie Vollzeit erwerbstätig sind. Die Zahl urbaner, arbeitender Nomaden hat sich in den letzten Jahren verdoppelt, denn nicht einmal in Randlagen der Städte können sie sich ein Zimmer leisten. Das Problem der Obdachlosigkeit hat längst die Mitte der Gesellschaft erreicht, wird von den Medien aber weitestgehend vernachlässigt.
Top 5: Disziplinierung von Beamten: Schnellere Entlassung durch Änderung des Beamtenrechts
Der Bundestag hat ein brisantes Gesetz verabschiedet: Statt eines Entscheidungsprozesses mittels Disziplinarklagen durch Gerichte sind nun Vorgesetzte durch Disziplinarverfahren dazu berechtigt, über die Entlassung von Beamten mit verfassungsfeindlicher Gesinnung zu entscheiden. Das Bundesinnenministerium verspricht sich davon ein effizienteres Vorgehen gegen Extremismus in Behörden. Doch die Opposition und Beamtengewerkschaften schlagen Alarm – sie sehen darin ein Einfallstor für potenziellen Machtmissbrauch. Das demokratische Prinzip der Gewaltenteilung werde weiter ausgehöhlt. Während dem Gesetz in den Medien kaum Aufmerksamkeit zugekommen ist und es öffentlich nicht kontrovers diskutiert wurde, bleibt die zentrale Frage: Ist das wirklich der richtige Weg?
Top 6: Bildungsgerechtigkeit für Heim- und Pflegekinder?
Wenn in Familien Missstände herrschen, werden Kinder und Jugendliche häufig in Pflegefamilien untergebracht. Dabei stellt sich die Frage, ob sie dort einen angemessenen Zugang zu Bildung erhalten. Das Thema ist besonders relevant, da es sich um eine vulnerable Gruppe unserer Gesellschaft handelt, die auch in der medialen Berichterstattung mehr Aufmerksamkeit verdient. Zudem wurde dieses Thema bislang in keinem größeren Medium umfassend behandelt.
Top 7: Deutlich weniger Arbeitsunfälle
Eine positive Nachricht, über die nur wenig berichtet wurde: Die Zahl tödlicher Arbeitsunfälle ist in Deutschland zuletzt deutlich zurückgegangen. Auffallend sind zugleich große Unterschiede zwischen den Branchen. Expert:innen betonen, dass langfristige Fortschritte nur durch ein stärkeres Sicherheitsbewusstsein erreicht werden können. In den Medien bekommen Themen aus der Arbeitswelt insgesamt eher wenig Raum, obwohl diese einen wichtigen Bestandteil des Lebens ausmacht.
Top 8: Morbus Mediterraneus – Wenn kulturelle Vorurteile die Diagnose beeinflussen
Stellen Sie sich vor: Sie liegen in einem Krankenhausbett, haben starke Schmerzen, doch diese werden von Ärzten und Pflegepersonal ignoriert. Sie erhalten keine oder nur unzureichende Schmerzmittel, weil das Personal annimmt, Ihre Schmerzen seien übertrieben. Besonders häufig berichten Menschen mit südländischen Wurzeln oder südländischen Namen von solchen Erfahrungen. Der medizinische Ausdruck dafür lautet »Morbus Mediterraneus« – eine abwertende Bezeichnung für vermeintlich übersteigerte Schmerzwahrnehmung bei Menschen aus dem Mittelmeerraum.
Top 9: Betrug an Vertragsarbeitern aus Mosambik – Deutschland stiehlt sich aus der Verantwortung
Seit über 30 Jahren kämpfen sie um das, was ihnen zusteht – und doch drohen ihre Forderungen ins Leere zu laufen: Rund 17 000 Mosambikaner:innen kamen einst als Vertragsarbeitskräfte in die DDR, wurden dafür aber nie vollständig entlohnt. Bis zu 60 Prozent des Gehalts wurden einbehalten und mit Mosambiks Schuldentilgung verrechnet. Das Unrecht, das den Menschen widerfahren ist, wird zwar mittlerweile anerkannt, Entschädigungszahlungen an die Betroffenen erfolgten bislang jedoch nicht.
Top 10: Erdrosselungsgrenzen – Wenn steuerliche Belastungen die Existenz gefährden
Die Erdrosselungsgrenze soll existenzbedrohende Steuern verhindern, doch über ihre genaue Höhe wird von Gerichten im Einzelfall entschieden. Das bedeutet etwa bei der Erhebung der Grundsteuer, dass die Höhe der Steuer den Steuerzahlenden nicht in seiner freien persönlichen und wirtschaftlichen Entfaltung unverhältnismäßig einschränken darf. Eine Steuer darf keine erdrosselnde Wirkung haben, wenn sie die Existenz der Bürgerinnen und Bürger gefährdet.
Das Thema wird vernachlässigt, weil Medien zwar über Steuererhöhungen und deren Folgen berichten, die Erdrosselungsgrenze als rechtliche Begrenzung dabei jedoch nicht thematisieren.
Weitere Informationen: www.derblindefleck.de
Kontakt: Prof. Dr. Hektor Haarkötter (Hochschule Bonn-Rhein-Sieg)
hektor.haarkoetter@h-brs.de
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Zitationsvorschlag
Initiative Nachrichtenaufklärung: Top Ten der Vergessenen Nachrichten. Medial unterrepräsentierte Themen 2025. In: Journalistik. Zeitschrift für Journalismusforschung, 1, 2025, 8. Jg., S. 117-121. DOI: 10.1453/2569-152X-12025-14982-de
ISSN
2569-152X
DOI
https://doi.org/10.1453/2569-152X-12025-14982-de
Erste Online-Veröffentlichung
April 2025