Rezensiert von Stine Eckert
Anna Sophie Kühnes Studie zu Identitäts- und Handlungsmustern ostdeutscher Journalist*innen ist in der Reihe »BestMasters« bei Springer VS erschienen. In dieser Reihe werden Masterarbeiten veröffentlicht, die an »renommierten Universitäten« in Deutschland, Österreich und der Schweiz mit der Höchstnote bewertet wurden. Dementsprechend ist die 93-seitige Publikation wie eine Masterarbeit strukturiert. Die Leser*innen können sich entlang der Kapitel und zahlreichen Unterkapitel orientieren. Ab Seite 57 finden sie die Auswertung, die den interessantesten Teil des Buches darstellt. Hier kommen die elf Journalist*innen, die Kühne in zwei Fokusgruppen-Diskussionen interviewt hat, mit eigenen Zitaten zu Wort.
Bemerkenswerterweise stimmten die fünf Journalisten der Veröffentlichung ihres Klarnamens zu, während alle sechs Journalistinnen ein Pseudonym wählten (dies wird nicht weiter analysiert). So bleiben die Kurzbiographien der Journalistinnen etwas vage, bieten aber einen Überblick über die beruflichen Stationen der Teilnehmenden. Von Interesse für die Arbeit war für Kühne vor allem das Verständnis der ostdeutschen Identität verschiedener Generationen von Journalist*innen vor und nach der Wende.
In der Gruppe der ab 1986 Geborenen sprach Kühne mit dem MDR-Reporter Thomas Vorreyer, dem Ressortleiter »Streit« der Zeit und Mitbegründer der Zeit im Osten Martin Machowecz sowie drei Journalistinnen. Sie arbeiten freischaffend oder für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Die ältere Gruppe der in der DDR zwischen 1949 und 1972 Geborenen wird durch sechs Teilnehmer*innen vertreten: RBB-Medienjournalist Jörg Wagner, Zeit-Autor Christoph Dieckmann, ZDF-Sportjournalist Thomas Skulski, Thüringen-Korrespondent des Deutschlandfunks Henry Bernhard und zwei Journalistinnen, eine in Rente und eine Literaturautorin für das Neue Deutschland. Kühnes Auswahl berücksichtigt eine Vielzahl an Medien, in denen ostdeutsche Journalist*innen arbeiten, sowie fast ebenso viele Männer wie Frauen. Sie ist allerdings, wie eine Teilnehmerin und auch die Autorin anmerkt, auf erfolgreiche Journalist*innen beschränkt, während diejenigen, die es nicht in den Beruf schafften oder – vor allem in der älteren Kohorte – nach der Wende nicht mehr in Medienberufen blieben oder bleiben konnten, nicht Teil der Datenerhebung sind.
Kühne fasst ihre Ergebnisse in fünf Thesen zusammen. Diese bestätigen bestehende Forschung zum Thema ostdeutsche Identitäten, bieten aber vor allem spannende Einblicke in Berufsverständnis und -erfahrung der jüngeren Kohorte. Außerdem arbeitet sie Nuancen in den Erfahrungen der älteren Journalisten*innen heraus und zeigt Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen beiden Gruppen auf. Vor allem zeigt Kühne durch eine Analyse der Intersektion von Alter mit DDR- bzw. ostdeutscher Herkunft die Komplexität ostdeutscher Identität auf. Beide Gruppen zeigen »spezifisch ostdeutsche Erwartungs- und Deutungsstrukturen, die die Akteur:innen in ihrer Entscheidung beeinflussten, Journalist:in zu werden« (S. 58). Während das bei den jüngeren Journalist*innen ein durch ihr Aufwachsen in der Nachwendezeit der 1990er- und frühen 2000er-Jahre entwickeltes ausgeprägtes Ungerechtigkeitsempfinden ist, so sind es bei den älteren ein geschärfter Sinn für politische Stimmungen, das Elternhaus und Bildungswege in der DDR. Alle Teilnehmenden bestätigen, dass ihre ostdeutsche Identität erst im Westen Gestalt annahm, und drücken ihre besondere Wertschätzung der Pressefreiheit aus. Die älteren Journalist*innen betonen ihr noch heute existierendes Feingefühl für Ideologie. Die jüngere Gruppe zeichnet sich, wie Kühne schreibt, darin aus, dass sie ihre Erfahrung als Ostdeutsche mit Erfahrungen anderer Menschen, die Rassismus erlebt haben, vergleichen: Sie stellen eine Parallele her zwischen People of Color in Deutschland, die Rassismus erklären müssen, und Ostdeutschen, die Ostdeutschland erklären müssen. Außerdem weisen sie auf ihre Solidarität mit marginalisierten Gruppen und ihr Verständnis für die Belastung, die Diskriminierungserfahrungen mit sich bringen, hin. Beide Gruppen sehen sich in einer Vermittlungsrolle zwischen Ost- und Westdeutschland.
In ihrer zweiten These arbeitet Kühne heraus, dass die ältere Gruppe kritisiert, die oppositionelle Arbeit und Tricks der DDR-Journalist*innen, die Zensur zu unterlaufen, seien in der Nachwendezeit nicht genügend gewürdigt worden, und daran habe sich auch bis heute nichts geändert. So erzählt Jörg Wagner, dass Liveschaltungen genutzt worden seien, um spontan kritische Stimmen im Rundfunk unterzubringen, nach dem Motto »Das versendet sich«. In vorproduzierten Beiträgen wäre diese Kritik herausgestrichen worden. Die detaillierten Zitate rücken den Erfahrungsschatz der Journalist*innen in den Vordergrund und beleben die wissenschaftliche Arbeit enorm. Hier liest sich die Studie wie ein spannendes Buch, in dem Zeitzeug*innen, im Rahmen des Forschungskontexts von Kühne, ihre Sicht auf DDR-Journalismusgeschichte lebendig vermitteln können.
Unabhängig vom Alter sehen die interviewten Journalist*innen die Medienlandschaft in Deutschland kritisch. Diese Kritik gilt sowohl der Personalebene wie auch in Bezug auf ostdeutsche Themen. Wieder einmal wird festgestellt, dass ostdeutsche Journalist*innen unterrepräsentiert sind, vor allem in Leitungsfunktionen. Christoph Dieckmann bringt die »verheerenden Folgen für die ostdeutsche Gesellschaft« (S. 67) zum Ausdruck. Kühne fasst seine Sicht zusammen: »Im Herbst 1989 habe das Volk seine öffentliche Sprache gefunden, doch ›dieser Fund ging wieder verloren, weil die gesamtdeutsche Öffentlichkeit eine bundesdeutsche Öffentlichkeit ist, […] westdeutsch geprägt, ohne es selbst zu wissen‹« (S. 67). Jörg Wagner stellt fest: »Die Ossis haben in der Medienlandschaft bis heute kaum etwas zu sagen.« (S. 67). Während formell der Beruf seit der deutschen Einheit allen offensteht, bemerken die Teilnehmenden, dass sich nur diejenigen Ostdeutschen den Einstieg in den Journalismus leisten könnten, die aus stabilen ökonomischen Verhältnissen kommen und ein unterstützendes Elternhaus haben. Materielle Unterschiede zwischen Ostdeutschen und Westdeutschen seien weiterhin ein großes Problem. Der Aufstieg im Medienbereich ist, wie die Teilnehmenden sagten, auch weiter durch sich selbst rekrutierende, westdeutsche Eliten schwer. Ebenso werden fehlende Medienarbeits- und Ausbildungsplätze in Ostdeutschland kritisiert. Inhaltlich resümiert Kühne, bleibe die Berichterstattung über Ostdeutschland zumeist weiter eine Auslandsberichterstattung, die von beiden Gruppen als klischeebehaftet wahrgenommen werde. Ein identitätsstiftendes Medium für die inner-ostdeutsche Verständigung sowie ein im Osten angesiedeltes und überregional wahrgenommenes Medium existiere weiterhin nicht. Die Zeit im Osten bleibe das einzige positive Beispiel.
Kühnes vierte These ist, dass die Diskriminierung von Ostdeutschen keine Frage der Generation sei. Vielmehr hätten jüngere und ältere Journalist*innen aufgrund ihrer ostdeutschen Herkunft im Beruf Abwertungserfahrungen durch Westdeutsche gemacht. Nur einige sagten, dass dies nicht auf sie zuträfe. Die Teilnehmenden sprachen ebenso an, dass es in den 1990er-Jahren ein ausgeprägtes Desinteresse westdeutscher Journalist*innen an der journalistischen Realität in den ostdeutschen Ländern gegeben habe. Kühne fasst zusammen, dass Wissen zu Ostdeutschland in westdeutschen Redaktionen weiterhin fehle und hier eine Verknüpfung mit Diskriminierung bestehe. Sie zitiert eine jüngere Journalistin, die sagt, sie habe sich während ihrer Arbeit in Köln ihren sächsischen Dialekt »richtig krass abtrainiert« (S. 78), um nicht mehr darauf angesprochen zu werden. Kühne zieht das Fazit, dass Ostdeutsche weiterhin nach einem »westdeutschen, vermeintlich universellen Maßstab be- und verurteilt« (S. 78) werden.
These fünf verbreitet etwas Hoffnung. Die jüngere Kohorte habe durch ein neues Bewusstsein für ihre ostdeutsche Identität einen langsamen Wandel in Gang gesetzt. Hier blitzt, wie an einigen anderen Stellen der Arbeit, das Geschlecht als wichtige Dimension in Gesellschaft und Medien auf. Nur so kann Martin Machowecz, den Kühne direkt zitiert, sagen, dass ostdeutsch ein »geiles Label« ist: »Für mich als weißen Mann gibt es kein anderes Alleinstellungsmerkmal, als Ossi zu sein« (S. 79). Eine Journalistin der jüngeren Generation spekuliert auch, ob ihre ostdeutsche Herkunft vielleicht entscheidend für eine erfolgreiche Bewerbung war. Doch leider dringt die Autorin hier, wie auch an anderen Stellen, in denen es um Elternzeit, Geburt, Kinder, Kinderbetreuung, Arbeitsverlust und die Stellung der arbeitenden Frau in der deutschen Gesellschaft geht, nicht weiter in die Tiefe. Wenn auch nicht Fokus der Arbeit, so stechen doch Beispiele hervor, die klare Unterschiede zwischen ostdeutschen Journalistinnen und Journalisten zeigen. Eine Teilnehmerin der älteren Gruppe erzählt etwa, dass sie Ende der 1980er-Jahre beim Thüringer Tageblatt in Elternzeit ging, nur um zur Zeit des Wiedereinstiegs zu erleben, dass es mit der Zeitung vorbei war. Ihre Bemühung, bei der kirchlichen Presseabteilung zu arbeiten, waren erfolglos. Dort bekam, wie die Teilnehmerin beschrieb, ein ehemaliger Chefredakteur trotz Stasikontakten die Stelle. Die Geschlechterkomponente wird hier nicht weiter untersucht.
Nach ihrem Fazit, dass ostdeutsche Identität ihren Ausdruck auch im journalistischen Wirken findet, bietet Kühne als Ausblick Handlungsempfehlungen. Während es für Jüngere kein Makel mehr sei, ostdeutsch zu sein, und dies Berufseinsteiger*innen eventuell sogar zum Vorteil gereiche, stünden strukturelle und materielle Barrieren weiterhin im Weg. Kühne empfiehlt, ostdeutschen Nachwuchs mit Stipendien, Mentoring und mehr Präsenz von journalistischen Vorbildern in Schulen und Ausbildungsinstitutionen zu fördern. Westdeutsche Medienhäuser sollten ostdeutsche Talente gezielter rekrutieren und fördern. Es müsse auch mehr wirkmächtige Medien aus Ostdeutschland geben, um den Diskurs nachhaltig zu verändern. Sie schließt mit dem Appell, mehr miteinander zu reden, unter ostdeutschen und westdeutschen Journalist*innen, aber auch unter verschiedenen Generationen ostdeutscher Medienschaffender, da auch hier mitunter Verständnislücken bestünden.
Kühne legt eine weitere wichtige Arbeit vor, die hilft, das asymmetrische deutsche Mediensystem und die anhaltenden Auswirkungen der Wende- und Nachwendezeit nicht aus den Augen zu verlieren. Während ihre Handlungsempfehlungen bestehende Forschung bestätigen, ist Kühnes Plädoyer vor allem deshalb stark, weil es auch eine jüngere Generation anspricht und aufzeigt, dass ostdeutsche Identitäten in den Medien weiterhin eine entscheidende Rolle spielen. Sie müssen komplex mit anderen Identitätsdimensionen wie zum Beispiel Alter verhandelt werden. Um der Verstetigung eines »ungleich vereinten« Deutschlands (Mau 2024) etwas entgegenzuhalten oder verfestigte Unterschiede zumindest zu verstehen, braucht es kontinuierliche Forschung zur Intersektion mit ostdeutscher bzw. westdeutscher Identität in allen Bereichen. Für die Journalismusforschung sollte gelten, dass wissenschaftliche Arbeiten konsequent die historische innerdeutsche Herkunft als Faktor berücksichtigen. Denn auch für nachfolgende Generationen von Journalist*innen ist sie identitätsstiftend und dementsprechend relevant für ihre Arbeit. Die jüngeren Ostdeutschen fordern klar einen neuen Diskurs und neue Medien. Ihr Zukunftspotenzial sollte genutzt werden. Dies kann auch für die Demokratie nur förderlich sein.
Literatur
Mau, Steffen (2024): Ungleich vereint. Warum der Osten anders bleibt. Berlin: Suhrkamp.
Über die Rezensentin
Stine Eckert, Jahrgang 1982, ist Associate Professor of Journalism im Department of Communication an der Wayne State University in Detroit und Mitherausgeberin der Journalistik/Journalism Research.
Über dieses Buch
Anna Sophie Kühne (2023): Zwischen Anpassung und Selbstbehauptung. Identitäts- und Handlungsmuster ostdeutscher Journalist*innen. Wiesbaden: Springer VS, 93 Seiten, 46,99 Euro.