von Timo Rieg
Tanjev Schultz sieht die Corona-Berichterstattung des deutschsprachigen Journalismus anders als ich. Das war nicht nur wahrscheinlich, sondern tatsächlich ›alternativlos‹, zumindest wenn wir bis ins letzte Detail gehen. Denn was wir beide äußern, sind Sichtweisen, – »based on individual observations and opinions«, wie es in der von Schultz angeführten Pre-Print-Studie von Quandt et. al. heißt. Eine solche Spannweite des Meinungs- oder Interpretationsspektrums habe ich in der Corona-Berichterstattung vermisst. Natürlich war sie »facettenreich«, und selbst der Underdog Jakob Augstein durfte irgendwo außerhalb seiner eigenen Wochenzeitung etwas sagen. Aber wir suchen hier doch nicht wie Journalistenpreisjurys nach irgendwelchen Perlen im Austernmeer. Mir zumindest geht es um die Orientierungsleistung des Journalismus, und damit wohl letztlich um seine Qualität(en). Meine Frage an die Journalismusforschung ist daher:
Wie messen wir die Informationsleistung des Journalismus? Additiv, indem jeder Aspekt, der irgendwo behandelt wurde, einer medialen Gesamtleistung gutgeschrieben wird, punktuell mit den üblichen Stichprobenverfahren, als Vollerhebung eines Vollprogramms (Sender, Zeitung, Internetseite)? Oder als Ökosystem, in dem sich reale Nutzer aufhalten, also mit ihrer Instagram-Timeline, ihren Radiosendern, ihrem YouTube-Konsum und dem persönlichen Austausch, also eben als tatsächliche Mediennutzung? Jeder einzelne Informations- und Meinungsanbieter darf zurecht sagen: »Bei uns gab es aber Dies und Das!« Für den realen Diskurs in der Demokratie ist das allerdings unbedeutend (und es ist vielleicht die Frage zu stellen, wie weit General Interest Medien hier für Verknüpfungen sorgen sollten, die sich bisher völlig überproportional auf Twitter-Erregungen konzentrieren, Stichwort: ›Das Netz lacht/tobt…‹). Anders gesagt: Interessiert uns, was ›der Journalismus‹ in irgendeiner Form angeboten hat oder was in der Gesellschaft angekommen ist?
Mir ging es mit keinem Wort darum, die Corona-Politik zu beurteilen. Mich interessiert, an der Schnittstelle von Demokratie und Journalismus, wie weit wir Bürgerinnen und Bürger alle nötigen Informationen hatten, um uns unsere eigene Meinung zu bilden, um als Souverän entscheiden zu können (wenn man uns denn fragte), um ggf. eigene Vorschläge zu machen, zu protestieren, zu jubeln, was auch immer, um jedenfalls Subjekte, nicht Objekte der Politik zu sein. Mich verwundert schon die Eingangsthese von Schultz: »Kaum ein anderes Land hat die Corona-Krise (bisher) so gut gemeistert wie Deutschland«. Ich könnte dies weder behaupten noch widerlegen. Was heißt denn ›gut meistern‹? Über welchen Zeitraum schauen wir da, wie verrechnen wir die verschiedenen Wirkungen und Nebenwirkungen? Und was weiß ich über die Länder dieser Welt? Wer gerade seinen Job verloren hat, wird vielleicht weniger begeistert sein. Wie werden die Folgeschäden verrechnet, wie die mit der Corona-Politik vertanen Möglichkeiten? Um nur mal das eigentlich brennende, von Corona aber verdrängte Thema Klimawandel in Erinnerung zu rufen: Uns vertrocknen gerade die Wälder (auch wenn es ein wenig regnet), das neue Waldsterben ist überall zu sehen, die Folgen werden katastrophal sein. Begeben wir uns, von Corona genesen, auf eine neue Völkerwanderung? Das Haber-Bosch-Verfahren, auf dem der heute allgegenwärtige Kunstdünger basiert, hat hundert Jahre lang den landwirtschaftlichen Ertrag enorm gesteigert – aber möglicherweise dann auch bald für immer radikal reduziert. Betrachten wir für die Erfolgsmessung die ersten Jahre, die ersten hundert Jahre oder den Gesamtlauf der Dinge? Vielleicht war das tolle Haber-Bosch-Verfahren eine fürchterlich fatale Idee. So wie möglicherweise Gentechnik, Atomkraft und der schier wahllose Einsatz von Antibiotika (dessen Folgen wir so ganz am Rande auch bei Corona mitbekommen).
Wirkungen und Nebenwirkungen zu betrachten ist nicht sophistisch: Nach dem augenblicklichen Stand der Forschung sind viele Menschen nicht trotz, sondern wegen der künstlichen Beatmung gestorben! Deshalb ist es essentiell, Tatsachen und Meinungen zu trennen. Denn zu Tatsachen muss niemand mehr recherchieren, zu Meinungen aber immer (und, um Schultz’ Beispiel für »Godwin’s Law« als rein empirische Feststellung aufzugreifen: Mark Zuckerberg hat als (ehemals atheistischer) Jude wenigstens bis vor einigen Tagen selbst die Tatsachenleugnung des Holocausts in bestimmten Fällen noch für publikationswürdig gehalten, was ich hingegen deutlich als Desinformation ausgeschlossen habe). Zumindest ursprünglich basierte die Pandemie-Politik ganz überwiegend auf der Notfallmedizin, auf der Bereitstellung von ›Intensivbetten‹ mit allen negativen Konsequenzen. Während in Deutschland für die ›Lebensretter an der Front‹ geklatscht wurde, spielten Ärzteschaft und Pflegepersonal in leeren Hospitälern Karten und schoben ansonsten Panik, wie sie mit den gleich auf sie zukommenden Triage-Entscheidungen klar kommen sollten (was ich nicht aus den Medien, sondern eigener Recherche weiß).
Ich bin (hoffentlich) kein Leugner von irgendwas. Ich möchte vom Journalismus Fakten erfahren und die verschiedenen Meinungen dazu, weil ich selber leider nicht schlau genug bin, mir alles selbst auszudenken. Der launige Titel meines Kommentars, »Desinfektionsjournalimus«, spielt genau auf die Vermischung von Meinung und Tatsache an: Händewaschen, Händewaschen, Händewaschen schallt es bis heute durch die Medien, als sei Corona ein Hautpilz, und ich denke mir, mal alle Nebenwirkungen des ›Sagrotanwahns‹ ausgeblendet – diese Parole können nur Menschen ausgeben, die mit ihren Händen nichts anderes als Tastaturen anfassen. Als ›Outdoor-Biologe‹ habe ich nun wahrlich schon in viel Dreck gewühlt, und jeder Bauer lacht sich kaputt über die amtliche Empfehlung, »nach jedem Tierkontakt« die Hände zu waschen. Herrschaftszeiten, verkauft uns nicht für blöd und sagt, was Fakt ist und nicht, was eure Meinung über unseren Umgang mit Fakten ist. »Popel nicht mit ungewaschenen Händen in der Nase« wäre okay, aber vielleicht auch viel zu selbstverständlich, als dass sich daraus eine Hygienekampagne machen ließe (die übrigens selbst Drosten überzogen fand).
»Nichts war und ist alternativlos« sagt Schultz und stimmt mir damit zu. Aber wurde die Frage, was wir mit einer Billion Euro Lebenswertes machen könnten, so recherchiert, dass sich am Ende wenigstens die Mehrheit der Bevölkerung ohne Wenn und Aber hinter die Regierungspolitik gestellt und gesagt hat: Was ihr vorhabt ist richtig, wir können dem keine einzige neue Idee hinzufügen, und wir sind auch völlig einverstanden damit, woher ihr das Geld dafür nehmt, wen ihr für diese Politik über die Klinge springen lasst? Der Journalismus hat sich am völlig unbedeutenden Lobbyismus Philipp Amthors abgearbeitet, während tatsächlich gerade jeden Tag Milliarden Euro Corona-Hilfe verteilt werden, praktisch ohne irgendeine Transparenz, ohne öffentliche Kontrolle, vor allem ohne vorherigen öffentlichen Diskurs. Wo waren da die viel gelobten Rechercheteams, vor allem am Anfang, bevor die erste staatliche Maßnahme beschlossen wurde, deren Wirkungen und Nebenwirkungen jedenfalls die Öffentlichkeit nicht kannte? Später wird es sicherlich wieder schöne Rekonstruktionen geben. Für sehr viele Menschen kommen die aber, so oder so, zu spät.
Über den Autor
Timo Rieg (*1970) ist freier Journalist mit den Schwerpunkten Medienkritik und Demokratieentwicklung. Er hat Biologie in Bochum und Journalistik in Dortmund studiert. Kontakt: rieg@journalistenbuero.com
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Zitationsvorschlag
Timo Rieg: Vernachlässigte Medienkritik. In: Journalistik, 2, 2020, 3. Jg., S. 179-181. DOI: 10.1453/2569-152X-22020-10692-de
ISSN
2569-152X
DOI
https://doi.org/10.1453/2569-152X-22020-10692-de
Erste Online-Veröffentlichung
September 2020
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