Das Elend mit den Bildern Quellenanalyse und Faktenprüfung in Kriegszeiten

von Peter Welchering

Abstract: Fotos und vor allem Videos werden im hybriden Krieg zur Waffe. Sie sollen die Lufthoheit über den (digitalen) Stammtischen sichern und die Menschen »das Richtige« annehmen und denken lassen. Dafür wird Bildmaterial gnadenlos gefälscht. Uns erreichen zurzeit täglich Bilder aus den Kampfgebieten in der Ukraine, bei denen wir überprüfen müssen, ob sie authentisch oder manipuliert sind. Das benötigt Zeit und grundlegende bildforensische Kenntnisse. Viele Prüfwerkzeuge und Plattformen stehen dafür sogar kostenlos zur Verfügung. Doch welche Erkenntnisse sie liefern, ist vielen im Journalismus Tätigen nicht so ganz klar. Das hat sich seit dem Streit um die Auswertung von Satellitenbildern des russischen Verteidigungsministeriums durch die britische Plattform Bellingcat im Sommer 2015 nicht wesentlich verändert (vgl. Higgins 2021: 90-141). Bildauswerter von Bellingcat hatten zwei Satellitenfotos forensisch untersucht, die das russische Verteidigungsministerium auf einer Pressekonferenz am 21. Juli 2014 vorgelegt hatte. Mit ihnen sollte belegt werden, dass der Malaysia-Airlines-Flug MH17 am 17. Juli 2014 von ukrainischen Raketenwerfern abgeschossen wurde. Die Bellingcat-Bildforensiker wiesen Manipulationen nach (vgl. Welchering 2015b). Diese Debatte war auch entstanden, weil einige Journalist*innen die Aussagen-Reichweite der Bellingcat-Analyse nicht richtig eingeschätzt hatten. Deshalb ist es so wichtig, grundlegende Kenntnisse der Quellenanalyse und bildforensischer Methoden zu haben. Mit bildforensischen und quellenanalytischen Methoden kann man keine Kriegsverbrecher*innen überführen. Aber es können durchaus erste Indizien auf Tatzeiten und Tatorte recherchiert werden. Und es muss klar vor dem Fehler gewarnt werden, sich allein auf eine reverse Bildersuche zu verlassen, um Manipulationen an Videos und Fotos erkennen zu können.

Am 3. April 2022 war für einige Redaktionen und Bildforensiker*innen auch in Deutschland unerwartete Sonntagsarbeit angesagt. Aus Butscha, einer Vorstadt von Kiew, erreichte ein Video die Medien in Deutschland. Und dieses Video zeigte Leichen in den Straßen von Butscha. Der Ort war einige Wochen von russischen Truppen besetzt.

Die hatten die Stadt Ende Februar eingenommen und waren Ende März wieder abgezogen worden. Das Video zeigte erschossene Menschen, Menschen mit auf dem Rücken gefesselten Händen. Aufgenommen hatten ukrainische Streitkräfte die Bilder während einer Patrouillenfahrt durch Butscha.

Sie beschuldigten die russischen Truppen, hier Kriegsverbrechen begangen zu haben. Der Kreml wies die Vorwürfe zurück und sprach seinerseits von einem Fake, später von einer Inszenierung.

Das Video zeigt tote Menschen. Wer die Menschen umgebracht hat, das lässt sich so einem Video nicht entnehmen. Deshalb stand hier zunächst Aussage gegen Aussage: Die ukrainische Regierung beschuldigte russische Truppen, der Kreml beschuldigte ukrainische Truppen. Aber zunächst ging es hier am 3. April um die Frage: Ist das Video echt oder gefälscht?

Um diese Frage beantworten zu können, läuft in der Regel ein dreistufiger Gegencheck ab. Zunächst wird nach weiteren Videos, aber auch Fotos im Netz gesucht, die dieselbe Szenerie – in diesem Fall also die toten Menschen auf den Straßen in Butscha – zeigen.

Zweitens ist ein Plausibilitätscheck angesagt. Es muss also geprüft werden, ob das auf dem Video erkennbare Wetter mit dem Wetter übereinstimmt, das zum (in den Metadaten) angegebenen Zeitpunkt am mutmaßlichen Aufnahmeort herrschte. Hierbei helfen Plattformen zur Wetterdokumentation wie https://www.wunderground.com/history oder die Suchmaschine https://www.wolframalpha.com/. Eine Analyse von Sonnenstand und Schattenfall kann helfen, den Aufnahmezeitpunkt einzugrenzen. Dies lässt sich mit Werkzeugen wie www.suncalc.org, www.Findmyshadow.com oder www.shadowcalculator.eu recht unaufwändig durchführen.

Drittens ist Detailarbeit erforderlich. Auf die Kleidung, auch auf Uniformen, die im Bild zu sehen sind, wird geschaut. Gibt es da Besonderheiten? Stimmen diese Uniformen mit den üblichen Uniformen oder Dienstbekleidungen überein? Die Fahrzeuge, die im Bild sind, werden näher bestimmt. Bei Militärfahrzeugen werden die festgestellten Fahrzeugtypen mit den offiziellen Angaben des jeweiligen Verteidigungsministeriums abgeglichen.

Auch Rückfragen bei Militärberater*innen und die Recherche in Blogs, die sich mit militärischen Themen beschäftigen, sind in der Regel durchaus hilfreich. Bei Videos mit einer Tonspur sind zudem der Sprachabgleich und die Sprachanalyse wichtig. Dort kommen wir ohne die Unterstützung durch Übersetzer*innen nicht aus. Nur mit Transkriptions- und Übersetzungsprogrammen zu arbeiten, reicht da nicht, wenngleich entsprechende Services für den ersten Eindruck Material liefern können, aber eben nur für den ersten Eindruck.

Die Unterstützung durch Privatpersonen, die vor Ort Videos aufnehmen, Fotos machen und für Nachfragen der hier recherchierenden Journalistinnen und Journalisten zur Verfügung stehen, ist groß. So können von deutschen Journalist*innen-Schreibtischen aus ganz konkrete Fragen zur Orientierung auf Satellitenbildern und daraus entsprechend generierten Umgebungskarten gestellt werden. Dabei ist dann in der Regel sogar das Zwei-Quellen-Prinzip anwendbar.[1]

In einigen Fällen sind durch derartige Recherche-Nachfragen vor Ort Übertreibungen oder falsche Angaben der ukrainischen Behörden korrigiert worden. In anderen Fällen war es möglich, zusätzliches Bildmaterial von Menschen aus dem Kriegsgebiet direkt zu erhalten. (Vgl. Stahnke 2022) Bei Bearbeitung und Verwendung dieses Materials müssen natürlich auch alle Prinzipien des Informant*innenschutzes eingehalten werden. Denn die Militärbehörden auf beiden Seiten versuchen zu verhindern, dass Fotos und Videos, die für sie unvorteilhafte Details aufzeigen, an unabhängige Journalistinnen und Journalisten im Westen gelangen (vgl. Welchering/Kloiber 2017).

Wer hat uns verraten? Metadaten!

Soll Material aus solchen Quellen veröffentlicht werden, empfiehlt es sich, das entsprechende Video noch einmal zu »grabben«, also quasi eine Neuaufnahme auf dem eigenen PC anzufertigen, so dass Sicherheitsbehörden und Aktivist*innengruppen nur die Metadaten des veröffentlichenden Medienhauses in Erfahrung bringen können, nicht aber die Originaldaten. Diese Informant*innenschutz-Maßnahme muss natürlich transparent gemacht werden.

Denn die Metadatenanalyse würde ja sonst falsche Schlussfolgerungen nahelegen. Mit ihr werden in der Regel Daten wie der Aufnahmezeitpunkt, ein etwaiger Bearbeitungszeitpunkt, Kameratyp, zum Teil sogar die gewählte Blende und ähnliche Daten ermittelt. Werkzeuge hierfür stellen bereit: fotoforensics.com, der Image Verification Assistent mever.iti.gr/forensics oder metadata2go.com, Jeffrey’s Exif Viewer unter exif.regex.info.

Allerdings können diese Metadaten für die quellenanalytische Arbeit natürlich nur verwertet werden, wenn sie direkt aus der Originaldatei entnommen werden. Das ist nicht in jedem Fall sichergestellt und fällt mitunter in Redaktionen bei nur flüchtiger Betrachtung leider auch gar nicht auf.[2]

Wenn die Metadaten die Plausibilitätstests bestehen, wird solch ein Bild oder Video oft schon für die Berichterstattung freigegeben. Wenn es hingegen noch Zweifel gibt, dann geht es weiter in der Bildforensik.

Hier sind allerdings die journalistischen Faktenprüfer*innen dann doch oftmals überfordert. Es empfiehlt sich deshalb, in solchen Fällen Bildforensiker*innen hinzuzuziehen. Deren Aufgabe ist es, zum Beispiel Bildrauschen und Farbfehler des Materials zu prüfen. Typische Interpolationsmuster bei den Farben, die durch Kompressionen verursachten Blockartefakte und Abbildungsfehler vor allen Dingen in der Beleuchtung werden geprüft.

Das führt zu einem spezifischen Rauschanteil im fotografierten Bild. Eben dieser Rauschanteil ist über mehrere Aufnahmen einer Handykamera oder Spiegelreflexkamera ziemlich stabil, variiert aber von Gerätemodell zu Gerätemodell. Inzwischen existieren regelrechte Referenzrauschmuster der unterschiedlichen Kameramodelle, mit denen sich das Rauschsignal auf dem zu prüfenden Foto vergleichen lässt.

Damit können die Rechercheur*innen nicht nur überprüfen, mit welchem Kameramodell das Foto gemacht wurde, sondern auch, ob es Abweichungen im Rauschanteil gibt, die von Bildbearbeitungsprogrammen wie zum Beispiel Photoshop verursacht wurden. Diese Methode wird noch ergänzt durch eine Farbuntersuchung.

Denn die Sensoren der digitalen Kameras messen nur die Helligkeit, Farbe erhält das Video erst durch das Farbfilterfeld. Die Farbwerte werden dabei aus Helligkeits- und Temperaturwerten errechnet, »interpoliert« nennen die Fachleute das. Aus dem Muster der Helligkeits- und Farbtemperaturwerte können Hinweise auf eine nachträgliche Bearbeitung gezogen werden.

Zusatzmaterial als zweite Quelle

Aus Butscha gab es weitere Videos, die auf verschiedenen Kanälen des Messengerdienstes Telegram verteilt worden waren. Auch der Ort der jeweiligen Aufnahmen konnte nach Auskünften durch das ukrainische Verteidigungsministerium rasch mittels sogenannter Geolokalisationsdienste und teilweise einfach durch Hinzuziehen und Vergleich entsprechenden Materials von Google Maps bestätigt werden.

Es war in allen hier untersuchten Fällen von Videomaterial aus Butscha vom 3. April die Yablunska-Straße in Butscha. Das im Video der ukrainischen Patrouille feststellbare Wetter – regnerisch – stimmte mit den Wetterangaben der Wetterdienste überein. Das Video stammte vom 1. April. Das war über die Auswertung der Metadaten feststellbar.

Das Video war ungeschnitten, und es waren auch keine Datenblöcke verschoben oder hinzugefügt. Die Helligkeits- und Farbtemperaturwerte waren stimmig. Es gab also keinen Hinweis darauf, dass das Video gefälscht war.

Allerdings können mit solchen Bildanalysen eben nicht die Täter*innen ermittelt werden. Das müssen letztlich Ermittler*innen vor Ort machen. Jedoch kann ein Video-Satellitenabgleich mitunter Hinweise auf den Tatzeitpunkt bzw. auf einen möglichen Zeitkorridor geben.

Hier haben die Kolleg*innen von der New York Times auch angesetzt (vgl. Browne et al. 2022). Sie haben sich Aufnahmen des Satellitendienstes Maxar aus Butscha angeschaut, und zwar vom 28. Februar und vom 19. März 2022. Auf den Satellitenaufnahmen vom 28. Februar waren die Straßen frei, auf dem Bild vom 19. März waren Leichen auszumachen. Das heißt, die Toten auf den Straßen lagen da schon am 19. März, aber noch nicht am 28. Februar.

Daraus lässt sich der Schluss ziehen, dass die toten Menschen während der russischen Besatzung auf die Yablunska-Straße kamen und dort nicht erst nach dem Rückzug der russischen Truppen am 30. März 2022 abgelegt wurden, wie das russische Verteidigungsministerium argumentierte.

Um herauszubekommen, ob die auf den Satellitenaufnahmen von Maxar zu sehenden toten Menschen dieselben Menschen waren, die auf dem Video der ukrainischen Patrouille vom 1. April zu sehen sind, haben die Times-Kolleg*innen die Satellitenbilder mit den Videoaufnahmen direkt abgeglichen.

Dafür wird der Bildschirm geteilt oder mit zwei Bildschirmen gearbeitet. In diesem Fall sind auf der linken Bildschirmseite die Videoaufnahmen und auf der rechten die Satellitenfotos zu sehen. Die Videoaufnahmen zeigen eine Fahrt durch die Straße, und rechts und links an der Straße liegen Leichen.

Die Fundorte dieser Leichen sind anhand von Gebäuden, Autos und Wrackteilen mit den auf den Satellitenaufnahmen auszumachenden Leichen verglichen worden. Alle Leichen auf den Satellitenaufnahmen konnten Leichen auf den Videos zugeordnet werden.

Die Videos zeigen allerdings mehr Leichen als auf den Satellitenaufnahmen zu sehen waren. Und die Videos zeigten natürlich auch mehr grausige Details, so zum Beispiel Leichen mit gefesselten Händen, verkohlte Leichenteile und Menschen mit einem Kopfschuss.

Die meisten Satellitendienste liefern Bilder mit einer Auflösung, die größer ist als zehn Zentimeter. Lediglich militärische Satelliten schaffen eine Auflösung von unter vier Zentimetern. Videoaufnahmen vor Ort bieten da natürlich wesentlich mehr Details für die Analyse.

Auch Satellitenbilder können lügen

Natürlich müssen auch die Satellitenbilder auf Authentizität geprüft werden. Zugeliefertes Satellitenmaterial von Regierungen ist stets als problematisch zu bewerten und muss entsprechenden Plausibilitätstests unterzogen werden. Direkt angekauftes Rohmaterial von kommerziellen Dienstleistern gilt als wesentlich vertrauenswürdiger.

Russische Behörden haben im Zusammenhang mit den Vorkommnissen in Butscha Videos veröffentlicht, die nahelegen sollten, dass die Patrouillenfahrt eine Inszenierung mit Darsteller*innen war. Die auf dem Video zu sehenden Menschen seien gar nicht tot gewesen, sollten diese Videos suggerieren.

Auf einem Video soll ein am Straßenrand liegender Mensch nach der Vorbeifahrt der Patrouille aufgestanden sein. Also mit anderen Worten: Da lag kein toter, sondern ein lebendiger Mensch. Bei näherer Betrachtung ergab sich, dass hier der Seitenspiegel des Fahrzeugs aufgenommen worden war. Das heißt, der Mensch am Straßenrand war über den Seitenspiegel zu sehen.

Die Kamera schwenkte dabei von rechts nach links und zurück. Der Schwenk wird wiederholt. So entstand dann der Eindruck, als würde zumindest die Kleidung des Menschen kurz bewegt. Das ist aber eine optische Täuschung, die durch den mehrfachen Schwenk verursacht ist.

In einem zweiten Video, so wurde von russischer Seite behauptet, sei zu sehen, dass ein am Straßenrand liegender Mensch den Vorbeifahrenden zuwinke. Das ist beim Anschauen Frame für Frame, Bild für Bild, allerdings nicht zu sehen gewesen. Diese Frame-Betrachtung zeigt einen Flecken auf der Windschutzscheibe, vermutlich ist das ein Regentropfen.

Als Beweis taugen solche manipulierten Videos dann eben auch nicht. Gleichwohl wird mit derart manipuliertem Material von allen Seiten gern gearbeitet. Werden derartige Manipulationen dann aufgedeckt, fallen die Reaktionen darauf mitunter ausgesprochen robust aus. Da müssen Quellenanalytiker bzw. Faktenprüferinnen dann häufig sehr viel an Beschimpfungen und Drohungen wegstecken.[3]

Generell können quellenanalytische und bildforensische Methoden bei der Untersuchung von Material aus Kriegsgebieten zwei Aufgaben erfüllen: Erstens kann dadurch geklärt werden, ob das gelieferte Videomaterial gefälscht ist oder nicht. Ist es nicht gefälscht, dann muss ein Ermittlungsteam vor Ort geschickt werden. Denn dann ist dort tatsächlich etwas passiert, das der Klärung bedarf.

Und zum Zweiten können grobe Zeitkorridore festgelegt werden, innerhalb derer die mutmaßlichen Kriegsverbrechen begangen wurden. Das lässt sich mit Satellitenbildern und dem Abgleich mit Videos vor Ort tatsächlich machen. Allerdings ist es dabei auch wichtig, die engen Erkenntnisgrenzen dieser Analysen stets zu bedenken.

Zeitdruck gefährdet die Analyse

Doch die Erwartungen von Leser*innen und Zuschauer*innen gehen nicht selten darüber weit hinaus. Hier müssen Journalistinnen und Journalisten den Mut haben, ihre Analysen einzuordnen und den Indizienbereich genau zu benennen. Das erfolgt leider nicht immer. Unter Umständen hat das auch damit zu tun, dass quellenanalytische und bildforensische Methoden für die Recherche in der journalistischen Aus- und Fortbildung nicht ausreichend vermittelt werden.

Ein typisches Beispiel für eine unzureichende Analyse im Vorfeld findet sich bei Bild-TV. Der Fernsehsender strahlte am 24. Februar, also zu Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine, veraltete Bilder unter anderem eines Fallschirmjägereinsatzes in der Berichterstattung über russische Angriffsoperationen aus. Das Bildmaterial stammte von einer Militärübung aus dem Jahre 2014 und zeigte keine gegen die Ukraine gerichteten Kriegshandlungen.

Bild-TV korrigierte den Fehler. In den sozialen Netzwerken wurde die Berichterstattung von Bild-TV als »westliche Fake-News« kritisiert. Es wurde gezielte Falschinformation durch die beteiligten Journalistinnen und Journalisten unterstellt.

Oft werden in solchen Fällen nicht einmal die verfügbaren Metadaten der Videodateien angeschaut. Argumentiert wird dann immer mit dem sehr großen Zeitdruck. Doch die grundlegenden Ursachen für derartige Fehler liegen meist woanders.

Das fängt nicht selten mit der unzureichenden Rechercheausbildung im Volontariat an, weil nicht wenige Verantwortliche in den Medienhäusern die Recherchefähigkeit in der Fläche nicht mehr als wichtig empfinden. Auch in etlichen der äußerst zahlreichen journalistischen Ausbildungsgängen an Hochschulen werden quellenanalytische und bildforensische Methoden vernachlässigt. Mitunter scheint sogar die Meinung vorzuherrschen, dass eine reverse Bildersuche diese Recherchemethoden sogar überflüssig machen würde.[4]

Nachholbedarf in der Ausbildung

Diese Diskussion wird in der journalistischen Aus- und Fortbildung schon länger als 20 Jahre geführt. Zunächst ging es nur um Ausbildungszeiten und -kosten, die nun einmal aufgewendet werden müssen, um entsprechend fundierte Recherchekenntnisse zu vermitteln. Doch das erweiterte sich schnell.

Als sich abzeichnete, dass Recherchefähigkeit in der Fläche immer mehr verloren ging und als Ausgleich die sogenannten »investigativen« Einheiten in den Medienhäusern etabliert wurden, sollten quellenanalytische und bildforensische Methoden nur noch innerhalb dieser Abteilungen angewandt werden, so war auf verschiedenen Konferenzen und Veranstaltungen zur journalistischen Aus- und Fortbildung zu hören (vgl. Welchering 2021).

In diesen Abteilungen allerdings begnügte man sich dann doch in nicht wenigen Fälle mit dem von Google Fellows vermittelten sehr einseitigen Ansatz für eine reverse Bildersuche. Denn das war kostengünstiger als eine umfassende Analyse, die Beauftragung von externen Bildforensiker*innen oder die Ausbildung des eigenen Personals in diesem Bereich.

Insbesondere im jetzigen Krieg in der Ukraine wäre bei der reversen Bildersuche zumindest eine Erweiterung der traditionell hier bemühten Suchmaschinen – wie zum Beispiel Google oder tineye.com – um die russische Suchmaschine Yandex.com angesagt gewesen. Da aber in viel zu vielen Fällen in Redaktionen allenfalls eine Schmalspureinweisung für Googles Suchmaschine stattgefunden hatte, waren die übrigen Suchmaschinen mit ihren Recherchewerkzeugen oftmals schlicht nicht bekannt.

Durch den Krieg in der Ukraine ist zwar ein gewisser Hype um die Analyse von Bildern und Videos hierzulande entstanden. Doch darf dieser Hype nicht darüber hinwegtäuschen, dass die grundlegenden Fähigkeiten und Fertigkeiten in Sachen Quellenkritik und Bildforensik zu oft einfach nicht vorhanden sind.

So ist es auch nicht verwunderlich, dass Kolleg*innen der New York Times den aufschlussreichen Abgleich von Videomaterial mit Satellitenaufnahmen zu den Geschehnissen in Butscha durchführten und veröffentlichten. Erst danach wurde diese quellenanalytische Methode auch in deutschen Medien diskutiert.

False-Flag-Videos haben eine lange Tradition

Auch die Kolleginnen und Kollegen der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ) haben früh über sogenannte »False-Flag-Videos« berichtet, die von russischer Seite bereits vor dem Angriff auf die Ukraine am 24. Februar 2022 auf verschiedenen Netz-Plattformen veröffentlicht wurden. Diese Videos sollten Angriffe der Ukraine auf Russland zeigen (vgl. Jacot-Descombes 2022, Zellweger 2022). Wir wissen aus der Geschichte, dass derartige Narrative über solche Angriffe gern zum Kriegsgrund erhoben werden.

Auf verschiedenen Videos ist auf den ersten Blick zu sehen, wie ukrainische Soldaten mit gepanzerten Fahrzeugen auf russisches Staatsgebiet vordringen. In einem Video ist davon die Rede, dass sich diese Grenzverletzung in der Nähe von Luhansk ereignet haben soll.

Faktenprüfer*innen von Bellingcat haben die im Video zu sehenden Sträucher, Panzersperren und Gebäude mit Satellitenbildern verglichen. Die Nähe von Luhansk konnten sie bestätigen, allerdings auf prorussischem Separatistengebiet, nicht auf russischem Territorium.

In anderen Videos sind die gepanzerten Fahrzeuge näher zu erkennen. Die genaue Fahrzeug-Modifikation lässt sich im Bestand der ukrainischen Armee nicht ausmachen. Es ist also überaus zweifelhaft, ob die ukrainische Armee derartige Fahrzeuge überhaupt besessen bzw. gefahren hat. Die Indizien deuten also auf eine Inszenierung.

In einem weiteren am 18. Februar 2022 auf einem prorussischen Telegram-Kanal veröffentlichten Video, dass die NZZ-Rechercheur*innen anführen, soll gezeigt werden, wie angeblich polnischsprachige Saboteur*innen an diesem Tag versucht hätten, einen Chlor-Tank in der Donbass-Region zu sprengen.

Bei Untersuchung der Metadaten des Videos stießen die Rechercheur*innen auf eingebettete Audiodaten aus einem Youtube-Video aus dem Jahr 2010, in dem Explosionsgeräusche zu hören sind. Diese Audiodaten mit Explosions-Atmo sind in das Video vom 18. Februar 2022 hineinkopiert worden. Zudem zeigten die Metadaten, dass das Video am 8. Februar 2022 aufgenommen wurde, also zehn Tage vor dem behaupteten Sabotageakt.

In Deutschland tun wir uns mit solchen Recherchen oftmals schwer. Und da liegt einer der Gründe sicherlich in der Journalist*innenausbildung.[5] Ein Beispiel: In den Grundlagenseminaren für Volontär*innen und Seiteneinsteiger*innen an Zeitschriften der Journalisten-Akademie Stuttgart wurden bildforensische und quellenanalytische Methoden seit dem Jahr 2010 mit relativ großem Zeitaufwand vermittelt. Es gab natürlich immer Forderungen, dieses Thema zugunsten von Themen wie etwa »Suchmaschinenoptimierung« einzudampfen (vgl. Welchering 2015a). Acht Jahre lang wehrte die damalige Geschäftsführerin der Journalisten-Akademie derartige Einschränkungen der Rechercheausbildung ab. Nachdem sie in den Ruhestand gegangen war, ersetzte ihr Nachfolger diesen Bereich durch Themen wie Social-Media-Produktionen für Instagram und später TikTok sowie verwandte Plattformen.[6]

Das wirkt sich durchaus auf unsere journalistischen Diskussionen bei der Themenfindung aus. So wurde die Sitzung des nationalen Sicherheitsrates Russlands am 21. Februar 2022 im russischen Staatsfernsehen um 17:00 Uhr Moskauer Zeit angeblich live übertragen. Vor allem Kolleginnen und Kollegen in Großbritannien bezweifelten sofort, dass es sich um eine Live-Übertragung handelte. Denn ein Blick auf die teuren Armbanduhren der Sitzungsteilnehmer mit deren teilweise recht großen Ziffernblättern ergab, dass die angeblich »live« gesendeten Bilder bereits um 12:46 Uhr Moskauer Zeit aufgenommen worden waren. Deutsche Medien berichteten recht spät darüber.[7]

Wenn wir uns in der journalistischen Aus- und Fortbildung nicht wieder auf grundständige Methodenkenntnisse und deren Vermittlung verständigen können, wird es immer schwieriger werden, solchen propagandistischen Videos die genaue Aufklärung von Sachverhalten entgegensetzen zu können (vgl. Schiffer 2021, insbes. S. 90ff.).

Über den Autor

Peter Welchering arbeitet seit 1983 als Journalist für Radio, Fernsehen und Print (u. a. Deutschlandradio, ZDF, verschiedene ARD-Sender, Frankfurter Allgemeine Zeitung) sowie mit verschiedenen Lehraufträgen an Journalistenschulen in Deutschland und anderen Ländern. Welchering ist zertifizierter Trainer im Journalismus (KfJ). Er hat Philosophie studiert und meint, dass ihm das dort erworbene Rüstzeug bei seiner journalistischen Arbeit durchaus hilft. Er unterrichtet Online/Offline-Investigation an der Merz-Akademie, Stuttgart. An der Georg-August-Universität Göttingen lehrt er journalistische Praxis (u. a. als Einführung in den Wissenschaftsjournalismus). Welchering war drei Jahre Volontärsausbilder im Heise-Verlag (u. a. c’t) und acht Jahre Chefredakteur und Redaktionsdirektor im Konradin-Verlag (Computer Zeitung und Online-Portale). Seit 2001 arbeitet er im eigenen Medienbüro und ist mit einem seiner Arbeitsschwerpunkte in der journalistischen Aus- und Fortbildung tätig.

Die englische Version dieses Artikels wurde übersetzt von Sophie Costella.

Literatur

Baab, Patrik (2022): Recherchieren. Ein Werkzeugkasten zur Kritik der herrschenden Meinung. Frankfurt/M.: Westend.

Browne, Malachy; Botti, David; Willis, Haley (2022): War in Ukraine. Satellite images show bodies lay in Bucha for weeks, despite Russian claims, in: New York Times, 4. April 2022, https://www.nytimes.com/2022/04/04/world/europe/bucha-ukraine-bodies.html (15.04.2022)

Higgins, Eliot (2021): Digitale Jäger. Ein Insiderbericht aus dem Recherchenetzwerk Bellingcat. Köln: Quadriga.

Jacot-Descombes, Jasmine; Zellweger, Conradin (2022): Als Vorbereitung auf die Invasion in der Ukraine flutete Russland das Internet mit gefälschten Videos, NZZ, 01.03.2022, https://www.nzz.ch/international/false-flag-gefaelschte-videos-russland-ukraine-krieg-ld.1672236 (17.04.2022)

Schiffer, Sabine (2021): Medienanalyse. Ein kritisches Lehrbuch. Frankfurt/M.: Westend Verlag.

Stahnke, Jochen (2022): Open Source Intelligence. Wie Amateure den Geheimdiensten Konkurrenz Machen. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11.04.2022. https://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/ukraine-was-open-source-intelligence-ueber-den-krieg-verraet-17949655.html (16.04.2022)

Welchering, Peter (2015a): Nur Google reicht nicht – Die meisten Redaktionen sind mit Online-Recherchen heillos überfordert, in: Impresso 1/2015, Stuttgart: Südwestdeutscher Zeitschriftenverlegerverband.

Welchering, Peter (2015b): Fotos lügen. Satellitenfotos zum MH17-Absturz über der Ukraine offenbar gefälscht. In: ZDF, heute.de vom 1. Juni 2015.

Welchering, Peter (2020): Journalistische Praxis: Digitale Recherche. Verifikation und Fact Checking. Wiesbaden: Springer VS.

Welchering, Peter (2021): Wie wir den Journalismus abschaffen. TEDx-Vortrag am 18. September 2021 in der Stuttgarter Liederhalle. https://www.youtube.com/watch?v=-QcRg8DOYzo (16.04.2022)

Welchering, Peter; Kloiber, Manfred (2017): Informantenschutz. Ethische, rechtliche und technische Praxis in Journalismus und Organisationskommunikation. Wiesbaden: Springer VS.

Fussnoten

1 Dabei ist es wichtig, ausreichende Maßnahmen für den Informant*innenschutz mit einzuplanen. So führe ich Videokonferenzen mit Informantinnen und Informanten vor Ort über gut abgesicherte Konferenzräume des Anbieters Visavid. Vertrauliche Dinge werden in verschlüsselten Internet Relay Chats über das TOR-Netzwerk ausgetauscht.

2 Erhellenden Aufschluss kann auch die Betrachtung von Bildmaterial mit einem Hexadezimaleditor bringen. Hier lassen sich die Dateistrukturen erkennen und oftmals auch Erstellungsbedingungen.

3 Ich wurde während der vergangenen Wochen oft gefragt, ob mich die Arbeit an solchen Faktenprüfungen nicht stark belaste, langfristig sogar schädige. Ich habe auf drei relevante Dinge in diesem Zusammenhang hingewiesen: Ganz wichtig ist das Gespräch mit Kolleginnen und Kollegen über das, womit man bei dieser Tätigkeit konfrontiert ist. Genauso wichtig ist es, sich Zeit für die Reflektion zu nehmen, was diese journalistische Arbeit gerade mit mir macht. Und drittens ist von Zeit zu Zeit eine Supervision zu empfehlen. Darüber hinaus ist manchmal Personenschutz schon eine beruhigende Maßnahme.

4 Darauf macht Patrik Baab aufmerksam, der auf die Unzulänglichkeiten derartiger Google-Suchläufe hinweist und hervorhebt: »Eine weitere große Recherche-Barriere stellt aber die verdeckte und intransparente Einflussnahme auf den öffentlichen Kommunikations- und den journalistischen Suchprozess durch die einprogrammierten Algorithmen dar. Denn die Daten werden durch die Suchalgorithmen aufbereitet. Dadurch ergibt sich eine veränderbare Auswahl.« (Baab 2022: 211).

5 Bei aller Kritik, die ich hier an den Zuständen in der journalistischen Aus- und Fortbildung äußere, gibt es natürlich auch Entwicklungen, die Mut machen. Der seit Sommer 2020 monatlich stattfindende Recherche Jour Fixe der Wissenschaftspressekonferenz gehört genauso dazu wie die hybride Seminarreihe zur Recherche an der Journalisten-Akademie in München. Bei beiden Projekten darf ich mitwirken. Dies sei aus Transparenzgründen angemerkt. Bei der Arbeit mit den Kolleg*innen von ProRecherche e.V. hat sich während der vergangenen Jahre herausgestellt, dass das Interesse an quellenanalytischen und bildforensischen Methoden bei Journalistinnen und Journalisten durchaus groß ist, die Medienhäuser, für die sie tätig sind, bei der Finanzierung entsprechender Fortbildungen allerdings sehr zögerlich sind. Die Nachfrage diesbezüglicher journalistischer Ausbildungsinhalte wird in den meisten Fällen allerdings auch nicht von den in dem journalistischen Maschinenraum Tätigen gesteuert, sondern von Managern der Medienhäuser und Verbandsfunktionären. Inwieweit das zu einer Verzerrung bei der Themensetzung führt, wäre einmal eine lohnende Fragestellung für eine empirische Untersuchung.

6 Diese Entwicklung führte dazu, dass ich meine Tätigkeit als Dozent der Journalisten-Akademie Stuttgart Ende des Jahres 2018 nach 24 Jahren Lehrtätigkeit dort einstellte. Ich konnte die Vernachlässigung journalistischer Grundlagen, insbesondere der Recherche-Systematik, aus berufsethischen und medienpolitischen Gründen nicht mehr mittragen. Neu ist diese Entwicklung gleichwohl nicht. Bereits im Jahr 2001 wurde mir in Seminaren, die ich an der damaligen Axel-Springer-Schule in Berlin hielt, klar, dass die dort Verantwortlichen an einer Vermittlung quellenanalytischer Methoden nicht sonderlich interessiert waren. Ich beendete diese Lehrtätigkeit deshalb. Hingegen wurde während der vergangenen Jahre dieser Themenschwerpunkt in der Recherche in einigen universitären Ausbildungsgängen in Deutschland und der Schweiz ausgebaut. Eine quantitative Analyse ist hier allerdings noch Desiderat.

7 Ich erinnere mich an die Diskussionen mit Kolleg*innen über den angeblichen Live-Bericht des russischen Staatsfernsehens recht gut. Dass die Vergrößerungen der Bildareale um die jeweiligen Ziffernblätter hier sehr schnell Aufschluss darüber gaben, dass die Berichterstattung aufgezeichnet war, verblüffte die Kollegen im besten Fall, in anderen Fällen wurde schlichtweg bestritten, dass mit einer so simplen Methode eine so weitreichende Aussage indizienmäßig unterfüttert werden könne. Immerhin würde man damit ja das russische Staatsfernsehen beschuldigen, einen Fake produziert zu haben. Das Thema wurde in dieser Diskussion zunächst vertagt. Einige Zeit später bestätigte dann Kreml-Sprecher Dmitri Peskow, dass es sich bei der Sendung des russischen Staatsfernsehens über die Sitzung des Sicherheitsrates um eine Aufzeichnung gehandelt habe. Angesichts des Kriegs ist das sicherlich eine Petitesse, verdeutlicht aber das Gesprächsklima, das nicht selten vorherrscht, wenn im bundesdeutschen Journalismus über quellenanalytische Verfahren und die Analyse von Bildinhalten diskutiert wird. Die entsprechende Arbeit mitsamt den zugrundeliegenden methodischen Ansätzen wird zu oft geringgeschätzt. Das erschwert die Arbeit ganz wesentlich.


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Zitationsvorschlag

Peter Welchering: Das Elend mit den Bildern. Quellenanalyse und Faktenprüfung in Kriegszeiten. In: Journalistik. Zeitschrift für Journalismusforschung, 2, 2022, 5. Jg., S. 186-197. DOI: 10.1453/2569-152X-22022-12285-de

ISSN

2569-152X

DOI

https://doi.org/10.1453/2569-152X-22022-12285-de

Erste Online-Veröffentlichung

Juli 2022