Editorial

Liebe Leser*innen,

die Klammer des Krieges in der Ukraine hat uns immer noch fest im Griff, vor allem die von der Gewalt und Zerstörung unmittelbar betroffenen Menschen. Die Ungewissheit, wie lange dieser Angriffskrieg weiterwütet, hält an. Andere Konflikte laufen zudem parallel weiter. Wie in unserer Stellungnahme zum Krieg in der Ukraine in Ausgabe 1/2022 nachzulesen war, sind wir der festen Überzeugung, dass wir als Kommunikations- und Medienwissenschaftler*innen zum öffentlichen Diskurs durch Analysen und Fachwissen beitragen und Kommunikation für den Frieden fördern können. Diese Ausgabe nimmt diesen Faden konkret auf.

So beleuchtet Sabine Schiffer die bisherige Berichterstattung zum Krieg unter der Fragestellung, wie Medien ihrer Aufgabe nachkommen, Behauptungen kritisch zu prüfen und einzuordnen und die Interessen einzelner Akteur*innen darzustellen, ohne selbst Teil von Kriegspropaganda zu werden. Dazu passend und vertiefend erläutert Peter Welchering die vielen einzelnen Arbeitsschritte von journalistischen Bildforensiker*innen, die die Echtheit von Fotos aus Kriegsgebieten nachprüfen, wie zum Beispiel aus der Kiewer Vorstadt Butscha. Er ruft dazu auf, grundsätzliche Methodenkenntnisse in der journalistischen Aus- und Fortbildung nicht zu vernachlässigen. In einem weiteren Mosaikstein zur Rolle von journalistischen Medien in Kriegszeiten zeichnet Daria Gordeeva die schwierige Lage von unabhängigen Medien und Journalist*innen in Russland nach, für die der 24. Februar 2022 eine Zäsur darstellt, nach der »das Sprechen schwierig, aber das Schweigen noch schwieriger wird.« Viele sind auf Onlinekanäle und/oder ins Ausland ausgewichen, um ihrer Arbeit überhaupt weiter nachgehen zu können.

Aus kommunikations- und medienwissenschaftlicher Perspektive rückt Krieg die Arbeit von Journalist*innen besonders in den Mittelpunkt, wie die oben genannten Beiträge demonstrieren, aber er rückt auch weiterreichende und immer wieder diskutierte Fragen in ein neues Licht. Wie grenzt sich Journalismus von anderen Quellen, Informationen, Wissenssystemen und auch von Propaganda ab? Wie können Medien in Krisenzeiten und während radikaler Umbrüche wirtschaftlich bestehen? Welche Ansprüche hat Journalismus an seine eigenen Inhalte, Themen und Werte, wie zum Beispiel dem oft diskutierten Ideal der Neutralität? David Muschenich geht diesem Qualitätskriterium nach und grenzt es mithilfe von Ansätzen aus der Wertesoziologie von Konzepten ab, die oft im Zusammenhang mit Neutralität erörtert werden, um zu einer präziseren Definition zu gelangen, die mehr Klarheit für Studien bieten soll. Für die wirtschaftliche, praktische Ebene fassen Eva Brands und Konrad Scherfer in ihrer Bestandsaufnahme zu digitalen Routinen von Zeitungsnutzer*innen zusammen, wie Zeitungshäuser aktuell versuchen, Leser*innen davon zu überzeugen, für digitaljournalistische Angebote langfristig zu bezahlen, während sie den Spagat, Print und Onlineangebote zu bedienen, weiter meistern müssen. Welche Themen es kaum oder erst gar nicht in die Angebote der deutschsprachigen Medien – ob digital oder in Print – schaffen, untersucht Hektor Haarkötter in seinem Beitrag zu Agenda Cutting und den vernachlässigten Nachrichten im vergangenen Jahr, die die Initiative Nachrichtenaufklärung ermittelt hat. Im Gegenzug dazu gibt unsere neue Reihe »Die Top 10 des Buchjournalismus« Einblicke in Thematiken mit denen sich Journalist*innen in Bücherlänge auseinandersetzen. Dazu stellen Fritz Hausjell und Wolfgang R. Langenbucher, unter Mitarbeit von Maria Beinborn, in ihrem aktuellen Beitrag Bücher und Rezensionsausschnitte von Journalist*innen vor, die während der Corona-Pandemie veröffentlicht worden sind.

Kriegs- und Krisenzeiten bedeuten Paradigmenwechsel für den Journalismus, wie das historische Beispiel einer weiteren Frau zeigt, die in ihrem Falle das journalistische Handwerk in der Zeit nach dem 2. Weltkrieg erlernte: Ingeborg Bachmanns weniger bekannte Arbeit als Journalistin begann beim amerikanischen Besatzungssender Rot-Weiß-Rot in Wien. Sie bedeutete vor allem »learning by doing«, brachte aber auch die Offenheit, neue Formate nutzen zu können, wie Eva Schmidt in dieser Ausgabe hervorhebt.

Neben vielen anderen Aspekten zur Rolle des Journalismus in Kriegs- und Krisenzeiten und weiteren Themen sind auch Analysen und Perspektiven von und mit ukrainischen, ukrainisch-stämmigen oder weiteren russischen Journalist*innen und Kommunikationswissenschaftler*innen wünschenswert. Autor*innen können diese gern an uns senden: redaktion@journalistik.online

Stine Eckert, 20. Juni 2022