Editorial

Liebe Leserin, lieber Leser,

vielleicht nutzen Sie Hörfunk- oder Fernseh-Angebote des öffentlich-rechtlichen Rundfunks – besonders, wenn Sie in bedrohlichen Situationen wie der Covid-Pandemie oder den Kriegen in Osteuropa und im Nahen Osten nach vertrauenswürdigen Informationen suchen. Dabei mögen Ihnen angesichts von Missständen, wie sie der Skandal um die verschwenderische Intendantin des Rundfunks Berlin-Brandenburg (rbb) und ARD-Vorsitzende Patricia Schlesinger zutage gefördert hat, Zweifel an der Seriosität dieser traditionsreichen Medieninstitution gekommen sein. Im Extremfall münden solche Zweifel in die Forderung, den öffentlich-rechtlichen Rundfunk und damit die lästigen Rundfunkbeiträge abzuschaffen, zu deren Zahlung im Prinzip jeder deutsche Haushalt in gleicher Höhe verpflichtet ist. In unserem Themenschwerpunkt finden Sie Ideen, was getan werden müsste, um den öffentlich-rechtlichen Rundfunk als Quelle verlässlicher Information zu erhalten und weiter zu entwickeln.

Die drei Beiträge behandeln diese Fragen aus unterschiedlichen Perspektiven. Peter Welchering äußert in dieser Deutlichkeit wohl notwendige Kritik an den Arbeitsverhältnissen im öffentlich-rechtlichen Rundfunk aus der Binnensicht eines erfahrenen journalistischen Mitarbeiters. Mein Beitrag gibt aus der Außenperspektive eines wohlwollenden sozialwissenschaftlichen Beobachters und kontinuierlichen Radiohörers Anregungen für tiefgreifende Reformen; und in der Analyse von Hans Peter Bull treffen sich Außen- und Binnenperspektive, indem er einen vom Norddeutschen Rundfunk (NDR) unternommenen Versuch, sich Kenntnisse über interne Probleme und Reformbedürftigkeit zu verschaffen, von unabhängiger Position aus unter die Lupe nimmt.

Mit diesem ersten Themenschwerpunkt im sechsten Jahrgang der Zeitschrift versuchen wir, dem Problem geringerer Nachhaltigkeit von Fachzeitschriften etwa im Vergleich mit wissenschaftlicher Buchliteratur entgegenzuwirken. Mit Themenschwerpunkten verbindet sich die Hoffnung, dass eine Zusammenstellung mehrerer Beiträge zum gleichen Thema am selben Ort in Rezeption und Erinnerung mehr Gewicht hat als verstreute einzelne Aufsätze. Produktiv für die Beachtung mag im Übrigen sein, dass unser Schwerpunkt sich in eine auch anderswo geführte aktuelle Debatte einfügt. Dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk mangelt es zurzeit nicht an Aufmerksamkeit.

Ursprünglich hatten wir die Idee und haben sie im Call for Papers in der Ausgabe 2/2023 annonciert, einen Schwerpunkt zur Rundfunkorganisation im Allgemeinen zusammenzustellen. Auch aufgrund des auf die Öffentlich-rechtlichen konzentrierten Interesses hat sich das dann von selbst auf den Gegenstand des Diskurses eingeengt. Wir freuen uns, wenn uns bald Analysen auch noch zu anderen Formen und Beispielen der Rundfunkorganisation angeboten werden.

Die anderen Beiträge in dieser Ausgabe leiden gewiss nicht an zu viel einengender Aufmerksamkeit, im Gegenteil: Sie weisen auf Aufmerksamkeitslücken in Journalismus und Journalistik in Bezug auf bestimmte Themen oder Quellen hin. Nora Hespers geht der Frage nach, warum die Medienkritik, die sonst um Gegenstände nicht verlegen ist, sich ausgerechnet für digitale Plattformen wie »X«, das frühere Twitter, sowie die Auswirkungen von deren Interessen und Aktivitäten auf den Journalismus so wenig interessiert. Katja Schmidt, Tanjev Schultz und Gert G. Wagner zeigen, welche Bedeutung die allgemeine Bevölkerungs- und Berufsstatistik, die dafür bisher kaum genutzt worden ist, als Quelle für die Journalismusforschung haben kann. Maryna Grytsai erinnert an Menschen, deren gefährliche Arbeit wenig Aufmerksamkeit findet, obwohl sie zumal für die Berichterstattung über Konflikte und Kriege von enormer Bedeutung ist: Auslandskorrespondentinnen und -korrespondenten berichten nicht (nur) aus eigener Anschauung, sondern stützen sich auf einheimische Informanten und Informantinnen, sogenannte Stringer oder – hier so genannt – »Fixer«. T. J. Thomson und Ryan J. Thomas untersuchen Chancen und Gefahren eines Phänomens, das im anschwellenden Diskurs über Künstliche Intelligenz (KI) unterzugehen droht: Nicht nur Texte, auch (bewegte) Bilder lassen sich täuschend echt technisch generieren.

Schließlich kann auch die Rubrik, mit der wir in Ausgabe 2/2022 begonnen haben, unter dem Gesichtspunkt der Vernachlässigung betrachtet werden. Journalismus – darunter werden meistens Nachrichten und andere flüchtige Informationsprodukte und die dahinter stehenden Arbeitsweisen verstanden. Es gibt aber auch Bücher, die es im Hinblick auf ihre aktuellen Themen und anregenden Darstellungsweisen verdienen, Journalismus genannt zu werden. Solche Bücher stellen nach einem ursprünglichen Konzept von Hannes Haas die Wiener Kollegen Fritz Hausjell und Wolfgang R. Langenbucher vor. Vielleicht sind journalistische Bücher, die auf tieferen Recherchen fußen, in einer Zeit, in der »News« sich dem Publikum gratis und ungewollt aufdrängen, für die Zukunft des Journalistenberufs besonders wichtig.

Mit dieser Ausgabe versuchen wir also, beiden Anforderungen gerecht zu werden, die sich an eine Zeitschrift des Fachs Journalistik stellen lassen: Einerseits schalten wir uns auf tiefgreifende, eben wissenschaftliche Weise in eine aktuelle Debatte ein. Und andererseits werden Themen und Gegenstände analysiert, die anderswo wenig Beachtung finden.

Unabhängig davon, welches der beiden Ziele Ihren Vorstellungen näherliegt, wünschen wir Ihnen eine anregende Lektüre.

Horst Pöttker