Alexandra Borchardt: „Mehr Wahrheit wagen. Warum die Demokratie einen starken Journalismus braucht“ und Birk Meinhardt: „Wie ich meine Zeitung verlor. Ein Jahrebuch.“

Rezensiert von Horst Pöttker

»Das vorliegende Buch beschäftigt sich mit Bedürfnissen und dem Verhalten des Publikums auf der einen und den Zwängen und Möglichkeiten des Journalismus auf der anderen Seite. Sein wichtigstes Anliegen ist: Beide Seiten sollten sich nicht als Gegner verstehen, sondern als Partner, die ein gemeinsames Ziel verfolgen. Idealerweise jenes, das Leben für den Einzelnen und das Zusammenleben in der Gesellschaft ein kleines bisschen besser zu machen.« (18)

So steht es in Alexandra Borchardts Einleitung unter der Überschrift »Ein tiefer Graben. Der Journalismus und sein Publikum«. Das klingt wohltuend. Wer wollte nicht Gräben zwischen Menschen überbrücken und die Welt besser machen. Dennoch ist es nicht selbstverständlich, zumal, was den Journalistenberuf betrifft.

Die Vorstellung oder der Wille, die Welt besser machen zu wollen, führen nicht zuverlässig zu diesem Ziel. Die Häupter der Französischen Revolution, von der Idee der Weltverbesserung beseelt, haben sich dann gegenseitig die Köpfe abgeschlagen. Das Engagement, die Welt am deutschen Wesen genesen zu lassen, hat den Genozid kolonisierter Völker und den Ersten Weltkrieg begleitet. Und ob die gute Absicht Jack Dorseys, Bill Gates’ oder Mark Zuckerbergs, die Menschheit mit schrankenloser Kommunikation besser zu machen, erfolgreich sein wird, muss sich erst noch erweisen. Alexandra Borchardt scheint selbst etwas skeptisch zu sein, sonst hätte sie ihren Wunsch nicht auf »ein kleines bisschen« Weltverbesserung reduziert.

Unterhalb einer historisch inspirierten Imagination genereller und großer Risiken kann man auch konkret fragen, ob die Intention, die Welt zu verbessern, speziell zum Journalistenberuf gehören sollte. Was verbessert die Welt, oder bescheidener, was führt dazu, dass es Menschen in ihrem »Zusammenleben in der Gesellschaft« besser oder zumindest nicht schlechter geht? In hochkomplexen Gesellschaften wie unseren, die sich aus einer Vielzahl beruflicher Spezialisierungen zusammensetzen, hängt das offenbar auch davon ab, ob die Berufstätigen sich ihrer Aufgaben bewusst sind und effektiv und zuverlässig an ihnen orientieren (können). Daraus, dass die anderen sich darauf verlassen (können) und dass alle sich bewusst sind, dass alle anderen mit ihren besonderen Funktionen zum Ganzen beitragen, entsteht das Geflecht, das wir gesellschaftlichen Zusammenhalt, soziale Integration, Gemeinwohl nennen und das die Grundlage von Wohlergehen und Verbesserungspotentialen bildet. Demnach tragen Journalistinnen und Journalisten vor allem dann dazu bei, die Welt besser zu machen, wenn sie sich verlässlich und für andere erkennbar auf ihre besondere Aufgabe konzentrieren.

Darüber, worin diese Aufgabe besteht, liegen den beiden Büchern kontroverse Auffassungen zugrunde. Birk Meinhardt ist in der DDR aufgewachsen, hat dort Journalistik studiert und als Sportreporter erste Berufserfahrungen gesammelt, war nach der Wiedervereinigung lange als Reporter und Kolumnist bei der Süddeutschen Zeitung (SZ) und lebt heute als freier Schriftsteller. In seinem Buch schildert er anschaulich, detailreich und tiefgründig die wachsenden Zweifel, die ihn 2012 zur Trennung vom Leib-und-Magen-Blatt der (west-)deutschen Bildungsschicht führten. Seine Erfahrungen mit dem SED-Regime und dessen Medien prägen seine Auffassung vom Journalistenberuf auf doppelte Weise: Einerseits, weil sie ihn auf Freiheit und Selbstbestimmung, die in der DDR fehlten, besonders begierig machen; und andererseits, weil sie ihn für mentale Mechanismen, die mit Unfreiheit und Fremdbestimmung einhergehen, besonders sensibel sein lassen.

Meinhardt gibt drei Reportagen im Volltext wieder, die die SZ nicht gedruckt hat. In einer geht es um Investmentgeschäfte der Deutschen Bank und die Macht der internationalen Ratingagenturen; in der zweiten um politisch opportune Fehlurteile im Kampf gegen Rechts; und in der dritten um die Relaisstation Ramstein, über die per Knopfdruck auf einer Luftwaffenbasis im fernen New Mexiko Menschen im Nahen Osten mehr oder weniger zielgenau getötet werden. Manuskripte z. B. wegen dürftiger Recherche oder holpriger Sprache abzulehnen, ist das gute Recht der Verantwortlichen in jeder Redaktion. Meinhardt geht es jedoch um die ihm aus der DDR bekannte politische Opportunität, aus der heraus Ablehnungen von Manuskripten oder redaktionelle Veränderungen trotz professioneller Qualität begründet werden. Dem Verantwortlichen bei der SZ, der seine Reportage über die Fehlurteile umgearbeitet haben will, antwortet er:

»Die Rechten, sagen Sie, könnten meine Geschichte für ihre Zwecke nutzen. Das ist […] genau das Argument, dass ich in meinem ersten Leben, als junger Journalist in der DDR, oft, zu oft gehört habe. Deine Kritik hier, hieß es, mag ja berechtigt sein, aber sie könnte dem Klassenfeind zupasskommen, also lassen wir das bleiben. Und sowieso, wo bleiben die entgegengesetzten Beispiele? Es gibt doch genügend davon, oder nicht? Also bitte, lieber Birk, schreib das um, schreib es hinein, etc.« (69).

Meinhardts Kritik liegt die Überzeugung zugrunde, dass es die journalistische Aufgabe sei, zutreffend und umfassend zu berichten, also die Welt so transparent zu machen, wie sie ist, ohne Rücksicht darauf, wem zutreffende Informationen (politisch) nützen oder schaden könnten. »Sagen, was ist«, hat Rudolf Augstein das genannt. Meinhardt dazu ausdrücklich:

»Die Realität, wenn es denn eine harte ist, muß geschildert werden, und diese Schilderung soll nicht weichgespült und schon wieder halb zurückgezogen werden durch allseits opportune Relativierungen. Wenn es denn wehtut, die Stücke zu lesen, liegt es nicht an den Stücken, sondern daran, was darin abgebildet wird« (70).

Schon in der DDR habe er gegen diese Überzeugung nur mit schlechtem Gefühl gehandelt. Angesichts der zivilisierten Watte, in die Änderungsansinnen beispielsweise bei der SZ gepackt würden, wünsche er sich »das Rohe der einstigen Ablehnungen zurück. Jenes Unverblümte der Wortwahl. Jenes Rabiate des Tons. Jenes Feindselige der Blicke. Man war machtlos, aber man wußte genau, woran man war« (71).

Alexandra Borchardts Buch durchzieht eine andere Grundauffassung von der journalistischen Aufgabe, auch wenn der Akzent auf der Alliteration von Wahrheit und Wagen im Titel nicht diesen Eindruck macht. Aber: »Was ist Wahrheit?«, hat schon Pontius Pilatus gefragt. Nach Borchardt jedenfalls mehr als bloß Richtigkeit, darüber hinaus auch etwas Gutes, Erstrebenswertes, eben die Absicht, die Welt nicht nur abzubilden, sondern – wenn auch nur ein »ein kleines bisschen« – besser zu machen. Das geht weniger aus Borchardts durchaus zutreffenden Hinweisen auf Gefährdungen hervor, denen der Journalistenberuf, wie wir ihn bisher kannten, aufgrund des digitalen Umbruchs seiner wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen und technologischen Bedingungen ausgesetzt ist: Die Anzeigeneinnahmen der Informationsmedien brechen weg, mit der sinkenden Chance auf ein kontinuierliches Einkommen sinkt auch die Qualifikation der Berufseinsteiger(innen), das Vertrauen in die Medien geht mit der schwindenden Unterscheidbarkeit verlässlicher Information in den digitalen Netzwerken zurück, Algorithmen und Bots drohen professionelle Verantwortlichkeit zu verdrängen. Düster stimmt auch die Aufreihung zahlreicher Fallen, in die Journalisten und Journalistinnen schon immer und heute mehr denn je tappen: Von der Ego- und Neid- über die Tempo-, Macht- und Daten- bis zur Arroganz- und Stereotypen-Falle (vgl. 75-102).

Was die frühere Chefin vom Dienst bei der SZ, die am Reuters Institute in Oxford geforscht hat und an mehreren Journalismus-Akademien unterrichtet, für die Aufgabe des Journalistenberufs hält, lässt sich eher an ihren Vorstellungen darüber ablesen, womit der Journalismus seine Krise überwinden soll. Charakteristisch sind die Schilderungen von Leitfiguren, denen es nachzueifern gelte, vor allem bekannte Journalistinnen wie Maria Ressa, Hannah Suppa oder Julia Leeb. Über die schreibt Borchardt:

»Leeb war im Kongo, in Nordkorea und in Syrien. Will man etwas gegen das Leid tun, so glaubt sie, muss man es dokumentieren. Deshalb spezialisiert sie sich auf sogenannten 360-Grad-Journalismus, der ihrer Meinung nach den Journalismus revolutionieren wird. Mithilfe virtueller Realität bekommen die Zuschauer damit zumindest optisch und akustisch das Gefühl vermittelt, sich mitten im Geschehen zu befinden, sie können die Blicke in alle Richtungen schweifen lassen. Wenn Menschen sich fühlten, als wären sie dabei, so Leeb, entwickelten sie mehr Mitgefühl und Empathie. Das sporne sie dazu an, sich zum Beispiel politisch für die entsprechenden Themen zu engagieren« (25).

Dass Borchardt im Engagement für das Gute die Aufgabe des Journalismus und den Schlüssel für seine Zukunft sieht, geht en passant auch aus zahlreichen ihrer Formulierungen und auch noch aus den letzten Sätzen ihres Buchs hervor: »Wenn Journalisten ihrem Publikum besser zuhören würden, aber auch das Publikum den Journalisten, wäre viel gewonnen. Denn beide stehen – so sollte es sein – auf derselben Seite. Es ist die Seite derer, die um ein besseres Leben für alle ringen« (201).

Darin liegt etwas Pädagogisches. Anders als bei Meinhardt geht das Engagement über eine zutreffende, ungeschönte Darstellung dessen hinaus, was ist; gemeint ist nicht zuletzt das Engagement für etwas, das im moralischen Sinn im Begriff von Wahrheit steckt. Wie viele andere bezeichnet Borchardt das mit der weitläufigen Chiffre »Demokratie«. Hanns Joachim Friedrichs berühmtes Bonmot kontert sie:

»[…] wo verläuft die Grenze zwischen guter Sache und existentieller Sache? Demokratie ist zum Beispiel eine solche existentielle Sache, und sie zu unterstützen ist nun mal die Mission von Journalismus in freien Gesellschaften. Sich mit der Demokratie gemein zu machen ist deshalb nicht nur erlaubt, sondern zwingend« (98).

Während Borchardts Engagement einer guten Sache gilt, die sie Demokratie nennt und für die sie das Publikum gewinnen, zu der sie es erziehen will, engagiert Meinhardt sich für das zwar nicht vollkommen erreichbare, aber regulativ durchaus wirksame Ideal der Objektivität, das Borchardt für weniger wichtig hält, weil es »ein schwer zu fassender Begriff« (99) sei.

Das Genre der Rezension ruft nach einer Beurteilung. Meinhardts konsequente Konzentration auf die Aufgabe, zu berichten, was ist, sein Engagement für umfassende Transparenz als professionelle Haltung scheint mir sinnvoller. Berufe, die menschliches Handeln im Interesse des Guten zu beeinflussen und zu steuern haben, gibt es eine Menge: Lehrer, Pfarrer, Juristen, Politiker, auch Werbeleute und »Öffentlichkeitsarbeiter«. Daneben ist auch ein Beruf nötig, bei dem wir uns darauf verlassen können, dass er nichts anderes will, als uns über alles zu informieren, das wir wissen sollten, damit wir uns individuell und sozial auf realistischer Grundlage selbst entscheiden können, wie wir handeln wollen.

Mit Engagements für gute Sachen jenseits der professionellen Aufgabe, auch mit Engagement für die Demokratie ist die Versuchung verbunden, Informationen wegzulassen, von denen anzunehmen ist, dass sie dieser Sache schaden könnten. Engagement für die Demokratie setzt allzu oft eine feste Vorstellung von dem voraus, was sie ausmacht, z. B. das Mehrheitsprinzip. Dass auch Mehrheiten sich schrecklich irren und demokratische Prozeduren hochproblematische Folgen haben können, wissen gerade wir Deutsche in Erinnerung an 1933 (Hitler Reichskanzler) oder die US-Amerikaner im Rückblick auf 2017 (Donald Trump Präsident).

Demokratie ist nicht nur ein institutionell verankerter Zustand, sondern vor allem ein permanenter Prozess produktiven Wandels, der durch Konflikte entsteht. Um diesen demokratischen Prozess in Gang zu halten, ist unerschrockenes, nicht von politischen, pädagogischen, moralischen oder ideologischen Scheuklappen beengtes Öffentlichmachen auch solcher Gegebenheiten nötig, die nicht zu den in der Blase der Journalistinnen und Journalisten selbstverständlich erscheinenden Auffassungen passen. Engagement für Demokratie in einem demokratischen Staat ist nebenbei immer auch Engagement für diesen Staat in seinem gegebenen Zustand und seine gerade aktuellen Repräsentanten und Repräsentantinnen. Von der »öffentlichen Aufgabe« des Journalismus im Sinne einer Verantwortung für den bestehenden Staat und die ihn tragende Volksgemeinschaft war zuerst im Schriftleitergesetz von 1933 die Rede.

Angenommen, die Süddeutsche Zeitung sei ein Aushängeschild des Qualitätsjournalismus in Deutschland heute, dann zeigt jedes der beiden Bücher auf seine Weise, dass dieser Journalismus hinsichtlich seines mentalen Fundaments, seiner Auffassung von der professionellen Aufgabe mehr auf Borchardts als auf Meinhardts Seite steht. Im Engagement für etwas außerhalb der professionellen Grundpflicht zum Publizieren dessen, was ist, wird sogar ein Weg zur Überwindung der Krise gesehen. Vielleicht erklärt auch das, warum das Vertrauen in die Informationsmedien auf breiter Front nachlässt.

Diese Rezension erschien zuerst in rezensionen:kommunikation:medien, 14. Januar 2021, abrufbar unter https://www.rkm-journal.de/archives/22500.

Über den Rezensenten

Horst Pöttker, Jahrgang 1944, ist pensionierter Professor für Theorie und Praxis des Journalismus an der Technischen Universität Dortmund und Seniorprofessor an der Universität seiner Heimatstadt Hamburg.

Titelinformationen</h3

Alexandra Borchardt (2020): Mehr Wahrheit wagen. Warum die Demokratie einen starken Journalismus braucht. Berlin: Dudenverlag, 224 Seiten, 18,- Euro.

Birk Meinhardt (2020): Wie ich meine Zeitung verlor. Ein Jahrebuch. Berlin: Das Neue Berlin, 144 Seiten, 15,- Euro.