Editorial

Nicht erst seit Ausbruch der Corona-Seuche entbrennen Debatten darüber, wie frei unsere Gesellschaft ist und welche Rolle unsere Medien spielen (sollen). Wie viel Kritik ist notwendig, welche Kritik ist angemessen, wo drohen Einschränkungen der Freiheit? Welche Formen der »Gegenöffentlichkeit« gibt es und wie sind sie zu beurteilen?

Wie immer lohnt sich ein Blick zur Seite, auf andere Staaten und Gesellschaften, und ein Blick zurück – in die Geschichte. In dieser Ausgabe der Journalistik tun wir beides. Zunächst blicken wir in eine Region, die Menschen, die es sich leisten können, auch in pandemischen Zeiten Sonne, Glitzer und Glamour verspricht: Katar, Dubai, Abu Dhabi. Dort locken aber nicht nur Luxushotels, sondern auch Hochschulen, an denen viele »Expats« arbeiten – nicht zuletzt in Medienfächern und in der journalistischen Ausbildung. Worauf lässt man sich dabei ein? An­dreas Sträter untersucht dies in seinem Aufsatz »Kompetenz: Zwischen den Zeilen lesen«. Er hat Expats befragt und zeigt, wie diese zu »Grenzgängern« werden, die darauf achten, nicht an gesellschaftlichen Tabus zu rühren. Eine (mächtige) Opposition scheint noch in weiter Ferne zu liegen.

Fern wirken auch die Zeiten, die im Mittelpunkt von Gernot Pürers Beitrag über linksextreme Zeitschriften in der Bundesrepublik zu Beginn der 1970er-Jahre stehen. Wie haben die Magazine Agit 883, FIZZ und Hochschulkampf über die sich formierende »Rote Armee Fraktion« geschrieben? Pürer liefert nicht nur eine ebenso faszinierende wie bedrückende Analyse der Militanz jener Tage; er verbindet sie mit einer erhellenden Darstellung der medienkritischen Diskurse. Was vielen Studierenden damals, ohne dass sie gleich zu Terroristen wurden, leicht über die Lippen kam – das Wort von der »Kulturindustrie«, die Medien als »Manipulationsmaschinen« – lässt sich heute nicht mehr ganz so leicht (oder leichtfertig?) ausdrücken. Wer die Presse heute der Lüge zeiht, steht oft nicht links, sondern sehr weit rechts.

Dass eine gehaltvolle Medienkritik aber weiterhin nötig ist und dass sie sich auch weiterhin, wie 1968ff., mit der BILD-Zeitung beschäftigen sollte, zeigt der Aufsatz von Lukas Franziskus Adolphi: »BILD dir dein Afrika« ist eine kritische Diskursanalyse der BILD-Berichterstattung über Afrika in Zeiten der Pandemie. Adolphi erkennt Muster einer »apokalyptischen Repräsentation« des Kontinents – gefährliche Zerrbilder also, die hinterfragt werden müssten.

Lässt sich angemessener und auch konstruktiver berichten? Der Ansatz und die Bewegung des Konstruktiven Journalismus könnten ein Mittel sein, den Journalismus – nicht nur den der Boulevardmedien – besser zu machen. Gabriele Hooffacker berichtet in ihrem Essay von einem Lehrprojekt, das zeigt, wie lösungsorientierter Journalismus in der Aus- und Fortbildung aufgegriffen werden kann. Im Idealfall könnte er die Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Krisen in produktive Bahnen lenken und Auswege aufzeigen, schreibt Hooffacker.

Auswege würde man sich auch für die oft festgefahrenen Debatten über Identitätspolitik, Gendern, »Political Correctness« und eine angebliche »Cancel Culture« wünschen. Bevor in übereiltem Harmoniestreben bestehende Konflikte geleugnet oder kleingeredet werden, müssen diese allerdings erst einmal klar herausgearbeitet werden. In diesem Sinne bietet unsere Rubrik »Debatte« in dieser Ausgabe zwei sehr unterschiedliche Perspektiven auf die genannten Reizwörter und die mit ihnen verknüpften Auseinandersetzungen: Ingo von Münch erkennt in einer nach seiner Wahrnehmung offenbar zunehmenden Moralisierung der Öffentlichkeit, die durch Gebote und Verbote einer gesinnungsethisch rigide formulierten »Political Correctness« geprägt sei, eine Gefährdung des Journalismus und der Pressefreiheit. Medien würden unter Druck gesetzt, unter anderem durch »Themenblockaden«, »obrigkeitliche Formulierungsvorgaben« und einen »Trend zur Intoleranz«.

Druck? Ja, natürlich, schließlich geht es um Machtfragen. So ließe sich die Antwort auf den Punkt bringen, die Martina Thiele in ihrem Debattenbeitrag gibt. Statt über einzelne Begriffe oder pauschal über Meinungsfreiheit und Zensur zu diskutieren, sollten Privilegiertheit und Macht ins Zentrum der Debatte rücken. Vielleicht, so eine Anregung ihres Artikels, wäre es an der Zeit, Herbert Marcuses Aufsatz über »Repressive Toleranz« neu zu entdecken.

Ginge es ausschließlich um Macht, wären der Diskurs und das Editorial an dieser Stelle allerdings schon am Ende. Dann käme es wohl nur noch darauf an, wer sich durchsetzt. Gibt es nicht doch die Chance auf zumindest partielle Formen der Verständigung?

Wie immer freuen wir uns auf Ihre konstruktiven Anregungen und Beiträge. Diskutieren Sie also mit – direkt unter den Aufsätzen, dem Essay und den Debattenbeiträgen. Haben Sie Themenanregungen, ein Manuskriptangebot oder Kritik? Schreiben Sie uns an redaktion@journalistik.online. Folgen Sie der Journalistik gern auch auf Facebook: https://www.facebook.com/journalistik.online. Eine anregende Lektüre wünscht

Tanjev Schultz, im Frühjahr 2021