Editorial

Liebe Leserinnen und Leser,

wissenschaftlicher Pluralismus gehört zum Konzeptkern dieser Zeitschrift, wie im Editorial der ersten Ausgabe nachzulesen ist. Demnach soll der Kreis der Herausgebenden ein ausreichendes Maß an Pluralität im Hinblick auf »Alterskohorte, Geschlecht, Nationalität und akademisches Profil« aufweisen. Auch deshalb, aber vor allem wegen ihrer Kompetenz und Kooperationsbereitschaft freuen wir uns, Stine Eckert als neue Mitherausgeberin vorzustellen. Sie hat in Leipzig Journalistik und Amerikanistik studiert, an der University of Maryland ihren Ph.D. erworben und ist heute Associate Professor an der Wayne State University in Detroit. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen auf der Schnittmenge von Medien, Geschlecht und Minderheiten und auf den demokratischen Potentialen digitaler Medien.

Auch im Inhalt streben wir »ein Optimum an Pluralität von Gegenständen und Problemen, Perspektiven und Methoden, Theorieansätzen und Praxisbezügen« an, so dass »sowohl empirisch-analytische als auch historisch-hermeneutische Beiträge und Essays« Platz finden. Dafür ist diese Ausgabe charakteristisch. Die Aufsätze und der Essay behandeln Themen, die kaum unterschiedlicher sein könnten: Die Frage, wie künstliche Intelligenz (KI) bei der journalistischen Produktion helfen kann, betrifft die Zukunft, während der Beitrag über die österreichische Publizistin Hilde Spiel, deren Karriere durch Exil und Krieg aus der Bahn geworfen wurde, in die Vergangenheit blickt. Mit ihr rücken wir nach etlichen in früheren Ausgaben porträtierten männlichen »role models« – Erich Kästner, Daniel Defoe, Joseph Roth, Mahatma Gandhi, Lincoln Steffens, Norman Mailer – nun eine für journalistische Potentiale und Probleme charakteristische Frau ins Licht. Und während der Beitrag über Probleme der Nachrichtenselektion und -rezeption am Beispiel des Relotius-Skandals unmittelbar die aktuelle journalistische Praxis betrifft, setzt sich der Essay über die ungleiche Honorierung von Forschungsquantität und Lehrqualität mit einem Dauerproblem der journalistischen Berufsbildung an Hochschulen auseinander.

Pluralismus sollte freilich nicht ein monadisches Nebeneinander bedeuten. Unterschiedliche Konzeptionen und Positionen werden durch Debatten verbunden. Deshalb bieten wir in der Journalistik eine Debatten-Rubrik an, unter der Kontroversen in vielfältiger Form ausgetragen werden: mal, wie in Ausgabe 1/2018, in einem von mehreren Autorinnen oder Autoren gemeinsam verfassten Beitrag, der divergierende Positionen vergleicht; mal, wie in den Ausgaben 1/2019 und 1/2021, durch die Gegenüberstellung mehrerer von uns angeregter Beiträge mit kontroversen Positionen; mal, wie in Ausgabe 1/2020, indem die Herausgebenden ihre voneinander mehr oder weniger abweichenden Auffassungen in einer Reihe getrennter Beiträge darlegen; mal, wie in Ausgabe 2/2020, indem wir Replik und Gegenreplik unmittelbar an einen strittigen Beitrag anschließen.

In dieser Ausgabe findet die Auseinandersetzung in einer Form statt, die besonders gut unter die Rubrik Debatte passt. Zum Aufsatz von Siegfried Weischenberg über alternative Medienkritik in Ausgabe 3/2021 haben uns unaufgefordert gleich drei Repliken erreicht. Mandy Tröger, Alexis von Mirbach und Florian Zollmann kritisieren Weischenbergs Kritik an der Medienkritik aus unterschiedlichen Perspektiven und mit unterschiedlichen Intentionen. Der plural Kritisierte hat die Möglichkeit, in der nächsten Ausgabe noch einmal zu antworten.

Nach Jürgen Habermas, der damit in der Tradition des deutschen Idealismus steht, kann und soll vernünftige Verständigung zur Einmütigkeit führen. »Sinnverstehen richtet sich seiner Struktur nach auf möglichen Konsensus von Handelnden«, hat er 1965 in seiner Frankfurter Antrittsvorlesung gesagt. Wenn man sich kaum vorstellen kann, dass z. B. die Debatte über die alternative Medienkritik zum Konsens führen wird, liegt das auch daran, dass Kontroversen gerade durch die Überzeugung der beteiligten Seiten, die Vernunft gepachtet zu haben, angeheizt werden (können).

Angelsächsischer Pragmatismus, wie ihn John Rawls in seiner Theorie des politischen Liberalismus an den Tag legt, versteht unter Pluralismus in komplexen Gesellschaften die Vielfalt »zwar einander ausschließender, aber gleichwohl vernünftiger umfassender Lehren.« Demnach können und sollen Debatten nicht immer zur Einmütigkeit führen, sondern nur dazu, dass die Vernünftigkeit anderer Auffassungen (an)erkannt wird, auch wenn sie von der eigenen abweichen. Konsens ist zu viel verlangt, Toleranz, leidvolles Erdulden zu wenig. Respekt hält plurale Sozialgebilde zusammen.

Ob und in welchem Maße welche Debattenbeiträge in dieser Ausgabe und anderen Respekt vor der Gegenpositionen zum Ausdruck bringen, mögen unsere Leserinnen und Leser selbst entscheiden und uns gern mitteilen an redaktion@journalistik.online

Horst Pöttker