Editorial

 

Liebe Leserinnen und Leser,

 

sogar in liberalen Demokratien vergeht kaum ein Tag, an dem nicht irgendwer im Streit grundsätzlich wird und den anderen die Presse- und Meinungsfreiheit unter die Nase reibt. Natürlich ist es gut, diese Freiheit hochzuhalten. Doch leider handelt es sich oft nur um ein plumpes Manöver im Meinungskampf – um eine strategische Übertreibung, die den Blick auf die wahren Gefährdungen vernebelt. Auffällig ist auch, dass über einen Aspekt nur noch selten gesprochen wird: die »innere Pressefreiheit«.

Wie groß sind die Spielräume einer Redaktion, unabhängig von Eigentümern zu berichten? Das war einmal ein wichtiges Thema für die Journalistik als Disziplin – und für die Gewerkschaften. Ein Team um Uwe Krüger knüpft an diese Tradition an und präsentiert interessante Ergebnisse einer Umfrage. Von den befragten Medienjournalist:innen halten einige das Thema offenbar nicht mehr für so relevant, weil das Ringen mit den Tech-Giganten heute wichtiger wirkt als das Ringen mit einem klassischen Verleger. Mag sein – doch hat der Fall von »Ippen Investigativ« gerade wieder gezeigt, wie wertvoll redaktionelle Autonomie ist. Bestimmt erinnern Sie sich: Der Verleger Dirk Ippen fuhr seinen eigenen Leuten in die Parade und bremste eine kritische Berichterstattung über den Bild-Chefredakteur Julian Reichelt aus.

International betrachtet ist vielerorts die »äußere Pressefreiheit« bedroht oder schlicht nicht existent. Es fällt nicht leicht, optimistisch zu bleiben, wenn man jedes Jahr wieder die Weltkarte studiert, auf der die Organisation »Reporter ohne Grenzen« den Zustand der Pressefreiheit farblich darstellt. So viel Rot (nicht gut) und so viel Dunkelrot (überhaupt nicht gut)! Wie konnte beispielsweise der »arabische Frühling« so schnell verblühen? Sahar Khamis und Khalid Al-Jaber zeigen in ihrem Aufsatz, wie trügerisch die Hoffnung war, die sozialen Medien könnten die Region dauerhaft demokratisieren.

Unsere Zeitschrift ist an Stimmen aus aller Welt interessiert. Autor:innen können ihre Texte auf Englisch einreichen, die Redaktion kümmert sich zusätzlich zur Veröffentlichung auf Englisch um eine Übersetzung ins Deutsche. So haben wir es auch beim Beitrag der ukrainischen Kollegin Olha Harmatiy gemacht. Die Journalismusforscherin aus Lviv hat die Berichterstattung über Umweltthemen in der Ukraine untersucht. Zurzeit kämpfen die Menschen um ihr Überleben im Krieg. Dieser trägt aber auch zur weiteren Zerstörung der Natur bei. Olha Harmatiy hält es für wichtig, die Umwelt-Berichterstattung zu verbessern. Erst nach dem Ende des Krieges werden wir wohl das ganze Ausmaß nicht nur des menschlichen Leidens, sondern auch der Zerstörung von Städten, Landschaften und Biotopen klarer erkennen können.

Andere Zeit, anderer Ort: Stine Eckert, eine der Herausgeberinnen der Journalistik, hat spannende Archivfunde zu einem Aufsatz über die Welt des Radios in den USA der 1930er-Jahre verarbeitet. Welche Rolle spielten Frauen bzw. welche Rollen wurden ihnen zugewiesen? Stine Eckert hat die Artikel der Branchenzeitschrift Broadcasting untersucht. Einiges wirkt – leider – gar nicht so fern. Frauenstimmen wurden buchstäblich unterdrückt, galten wahlweise als zu »affektiert«, »steif« oder »eintönig«. Allen Fortschritten zum Trotz müssen sich die Kommentatorinnen von Fußballspielen auch heute noch mit solcher Borniertheit herumschlagen.

In seinem Essay reflektiert Roger Blum seine Erfahrungen als Mitglied und sogar Präsident von wichtigen Gremien der Medienregulierung, wie dem Schweizer Presserat. Sein Beitrag lässt sich als Appell lesen, in solchen Organisationen mitzuarbeiten. In Deutschland wird aus Anlass skandalträchtiger Vorgänge in mehreren ARD-Anstalten verstärkt über Reformen der Kontrollorgane debattiert. Konstruktive Kritik, vielleicht sogar Mitarbeit aus der Journalismusforschung könnte willkommen sein. Wer dazu Vorschläge oder Erfahrungen hat, kann diese gerne mit uns teilen. Schreiben Sie uns und reichen Sie Manuskripte ein: redaktion@journalistik.online

Eine Anregung zur Debatte liefert auch ein Interview, das der Medienjournalist Wolfgang Scheidt mit Henning Eichler geführt hat. Anlass ist eine Studie Eichlers für die Otto-Brenner-Stiftung über die Macht der Algorithmen und die Social-Media-Angebote von ARD und ZDF. Wie problematisch ist die Plattform-Logik für den Qualitätsjournalismus, wie lässt sie sich verantwortungsbewusst nutzen?

Versäumen Sie es nicht, durch unsere Rezensionen und die »Top 10 des Buchjournalismus« zu stöbern!

Eine anregende Lektüre wünscht Ihnen

Tanjev Schultz, im Oktober 2022

Die englische Version des Editorials wurde übersetzt von Sophie Costella.