Pakt mit dem Teufel Henning Eichler im Interview mit Wolfgang Scheidt

Abstract: Seine im Auftrag der Otto Brenner Stiftung durchgeführte Studie »Journalismus in sozialen Netzwerken. ARD und ZDF im Bann der Algorithmen?« fokussiert auf den Konflikt ›Public Value versus Plattformisierung‹: Henning Eichler, Hörfunkjournalist beim Hessischen Rundfunk und Vertretungsprofessor für Media Sciences and Digital Journalism an der Hochschule RheinMain, zeigt im Interview auf, wie algorithmische Funktionsweisen und Plattform-Logiken journalistische Inhalte beeinflussen. Eichler fordert mehr Transparenz von Werbeplattform-Betreibern und eine Digitalethik für Social-Media-Redaktionen.

Herr Eichler, soziale Netzwerke sind für ARD und ZDF alternativlos. Ende 2021 haben Sie in Ihrer Studie 751 journalistische Angebote von öffentlich-rechtlichen Medien ermittelt, ein Viertel davon wurde exklusiv auf Werbeplattformen wie Facebook, Instagram, Twitter oder YouTube ausgespielt. Wie unterscheidet sich Social-Media-Journalismus von linear ausgestrahltem Content?

Henning Eichler: Zum einen durch das Kommunikationsprinzip: Radio und TV liegt die klassische One-to-Many-Kommunikation zugrunde, d. h. ein Sender oder Kommunikator verbreitet Inhalte an eine große Menge von Empfängern. Dagegen gilt für soziale Netzwerke das Many-to-Many-Prinzip: Communities tauschen untereinander Inhalte aus, kommunizieren miteinander und interagieren. Die Folge: Der Verbreitungsweg erfolgt nicht mehr von einer Institution an eine große Nutzerschaft, sondern Inhalte gehen beim Netzwerk-Prinzip zwischen Communities und Nutzerschaften hin und her. Zum zweiten arbeiten lineare und non-lineare Redaktionen sehr unterschiedlich: Plattform-Content wird spezifisch erstellt, um eine maximale Reichweite zu erzielen. Inhalte lassen sich nicht einfach aus der linearen Welt in die digitale Welt von YouTube oder Spotify transferieren. Stattdessen müssen journalistische Inhalte plattformoptimiert hergestellt werden. Zuerst werden Konzeption, Zielgruppen und Altersgruppen definiert, um die geeignete Plattform für die avisierte Peergroup auszuwählen. Jeder journalistische Inhalt ist exakt für diese Plattform konzipiert: Wie lang darf der Beitrag sein? Bei TikTok sind Inhalte zwischen 30 Sekunden und einer Minute lang, bei YouTube ist eine bis 20-minütige Doku möglich. Darstellungsform, Tonalität, grafische Gestaltungselemente – das heißt, ist die Reporterin oder der Reporter im Bild zu sehen oder sogar Teil der Handlung – all diese Gestaltungselemente gilt es zu beachten und für die bespielte Plattform umzusetzen. Jede Plattform hat ihre eigene Regeln, die dafür sorgen, ob journalistische Inhalten toppen oder floppen.

Die Empfehlungsalgorithmen von kommerziellen Plattformen favorisieren emotionale, polarisierende und kurze Inhalte – komplexe, tiefgründige und ausgewogene Inhalte landen oft im Nirwana. Wie wirkt sich das auf die Beitragslänge, Tonalität, Dramaturgie und Themenauswahl von »plattformisierten« Inhalten aus?

Henning Eichler: Ein Beispiel ist das öffentlich-rechtliche, für Instagram und Facebook produzierte Video-Format Deutschland3000. Eva Schulz agiert dort als Host nicht immer als distanzierte Journalistin oder Moderatorin, sondern sie nimmt eine Haltung ein, bezieht klar Stellung. Der Grund: Die Redaktion hat erkannt, dass meinungsstarke oder klar positionierte Beiträge die Nutzerschaft auf Plattformen zu mehr Interaktion animieren. Höhere Interaktion bedeutet, dass der Plattform-Algorithmus den Inhalt priorisiert und weiter ausspielt. Das heißt: Interaktion führt zu einer stärkeren Verbreitung und mehr Reichweite. Folglich ist eine Redaktion gut beraten, Inhalte so zu gestalten, dass Interaktion begünstigt und Zuspruch bzw. Widerspruch getriggert werden. Nach Plattform-Logik ist das zielführender, als journalistisch möglichst ausgewogen und distanziert zu berichten. Das zeigt, wie eine Redaktion Regeln von Plattformen nicht nur erkennt, sondern für ihre Arbeitsweise übernimmt.

Wenn Werbeplattformen bestimmen, welche Inhalte wann an welche Nutzer*innen ausgespielt werden und in welchen Kontext einzelne Beiträge eingebunden sind – welche Gefahren birgt das?

Henning Eichler: Das Grundproblem ist, dass öffentlich-rechtliche Inhaltersteller keinen Einfluss darauf haben, an wen Inhalte überhaupt ausgespielt werden. Ab dem Moment, in dem ein Beitrag produziert und auf die Plattform gestellt wird, ist er aus der Hand gegeben und der Distributions-Algorithmus entscheidet. Die Redaktion gibt damit ein Stück Autonomie an die Plattform ab. Gefährlich wird es, wenn Redaktionen ihre gesamte Distribution über solche Netzwerke bewerkstelligen. Es ist wichtig, immer auch einen alternativen, technisch unabhängigen Weg von den sozialen Netzwerken zu gehen, was bei den ÖRM (Öffentlich-Rechtlichen Medien) durch Mediatheken, Audiotheken und eigene Websites von »funk«, dem Content-Netzwerk von ARD und ZDF, gegeben ist. Natürlich werden dort die Angebote nicht so stark wahrgenommen wie in den sozialen Netzwerken. Umso entscheidender ist es, dass sich Journalist*innen exakt überlegen, wie sehr sie den Regeln der Plattformisierung folgen, wie stark sie sich daran orientieren und wie sie dafür sorgen, journalistische Maßstäbe zu wahren und zu gewährleisten. Im redaktionellen Alltag erfordert das ein ständiges, tägliches Abwägen, wie sehr Inhalte sich an den Regeln der Plattformen-Ökonomie orientieren und wie stark man sich am journalistischen Wertegerüst festhält. In diesem Dilemma stecken alle Journalist*innen, die für soziale Netzwerke produzieren. Es gibt keinen Königsweg, jeder muss sich permanent hinterfragen und die Umstände reflektieren.

Mit Ihrer Studie »Journalismus in sozialen Netzwerken« thematisieren Sie den Grundkonflikt zwischen Public Value versus Plattformisierung. Inwiefern orientieren sich gebührenfinanzierte Social-Media-Inhalte an algorithmischen Funktionsweisen und Konventionen von Werbeplattformen?

Henning Eichler: Bei den Befragungen für meine Studie sagte eine Redaktion explizit, dass auf Facebook Inhalte, die eher komplex, hintergründig oder vielschichtig sind, von der Nutzerschaft kaum beachtet werden. So hatte der Wirecard-Skandal auf Facebook von der Reichweite her keine Chance. Das führte dazu, dass Redaktionen solche Themen nicht mehr anboten. Auf TikTok werden Themen aus dem Bereich Umwelt und Naturschutz von der Nutzerschaft kaum angenommen. Eine Erkenntnis meiner Interviews lautet: Redaktionen bieten auf sozialen Netzwerken, mangels Resonanz, bestimmte Inhalte gar nicht mehr an, obwohl sie gesellschaftlich relevant und aus journalistischer Sicht wichtig wären.

Die 18 interviewten Mitarbeiter*innen aus Social-Media-Redaktionen und Redaktionsmanager*innen fühlten sich in ihrer journalistischen Arbeit erheblich beeinträchtigt. Wie stark beeinflussen Plattform-Logiken redaktionelle Entscheidungen und journalistisches Handeln?

Henning Eichler: Der Einfluss von Plattform-Logiken auf redaktionelle Arbeit ist offensichtlich und findet auf verschiedenen Ebenen statt. Das beginnt bei der Entwicklung und Konzeption von neuen Formatideen. Redaktionen stellen sich primär die Fragen: Welche Chance hat ein Format in welchem sozialen Netzwerk auf eine akzeptable Reichweite? Für welche Plattform sollen wir es produzieren? Im Entwicklungsprozess werden Benchmarks definiert, wie hoch eine quantitative Reichweite tatsächlich sein könnte und sollte. Alle redaktionellen Schritte sind an die Erfolgswährungen von Plattformen gekoppelt: Darstellungsweise und Themenauswahl, alle Redaktionen, die für soziale Netzwerke arbeiten, werten Metriken und Analytics von Plattformen regelmäßig aus. Diese Plattform-Ökonomie wird von den Redaktionen akzeptiert und in die tägliche Arbeit übernommen. Dazu zählen Interaktionsrate, Verweildauer – also wie lange Nutzer*innen einem Beitrag folgen und wann sie rausklicken – Abrufzahlen und Umfang von Reaktionen und Kommentaren. All diese Währungen haben die Plattformen für ihr Geschäftsmodell der Plattform-Ökonomie selbst erdacht und entwickelt. Die Redaktionen übernehmen die Plattform-Logik 1:1 für ihre Arbeit, sie beeinflusst die Bewertung von redaktionellen Beiträgen. In Redaktionssitzungen ist es üblich, Analytics von Plattformen zu diskutieren und zu analysieren. Die Journalist*innen beobachten genau, warum bestimmte Inhalte gut funktionierten und was aus Plattform-ökonomischer Sicht richtig war – oder vice versa. Das heißt: Die Plattform-Währungen haben direkten Einfluss auf die redaktionelle Arbeit, journalistische Arbeit wird mit Blick auf die Plattform-Logik bewertet und analysiert. Natürlich gehen Redaktionen damit unterschiedlich um: Für die einen sind das essentielle Grundlagen, auf deren Basis Entscheidungen getroffen werden. So stellt die »funk«-Redaktion Formate ein, wenn sie bestimmte Zahlenwerte verfehlen. Andere Redaktionen nehmen die Zahlen weniger wichtig, sie vertrauen auf das eigene Wertegerüst, das höher als die Plattform-Logiken bewertet wird. Es existieren beide Pole, aber keine Redaktion ignoriert Daten und Zahlen von Plattformen, sie sind bei allen redaktionellen Entscheidungen präsent.

Eine Digitalethik könnte journalistisches Arbeiten auf Werbeplattformen klar definieren. Wie müsste ein ›Code of Conduct‹ aussehen?

Henning Eichler: Erstens müssen alle Stakeholder die Problematik der Plattform-Ökonomie für öffentlich-rechtliche Inhalte ernstnehmen, annehmen und diskutieren. Die Interviews mit für soziale Netzwerke tätige Journalist*innen zeigen, dass das Thema sie im Alltag bewegt, umtreibt und zum Teil belastet, aber öffentlich kaum wahrgenommen wird. Alle Medieninstitutionen sind gefordert, den Grundkonflikt öffentlich zu thematisieren in einer zivilgesellschaftlichen Debatte. Zweitens geht es darum, Plattformen zu regulieren oder zumindest dazu anzuhalten, dass gemeinwohlorientierte, öffentlich-rechtliche Inhalte algorithmisch nicht benachteiligt werden. Noch besser wäre eine Regelung der Europäischen Union, in Zusammenarbeit mit der EBU (European Broadcasting Union), um öffentlich-rechtliche, gemeinwohlorientiere und qualitätsvolle Inhalte auf den Plattformen algorithmisch zu bevorzugen. Das Ganze sollte durch eine Aufsicht und Regulierung umgesetzt werden. So könnten gesellschaftlich relevante und seriös recherchierte Inhalte auf den Plattformen eine größere Nutzerschaft finden. Gleichzeitig müssten Redaktionen nicht mehr so plattformaffin arbeiten, sondern könnten sicher sein, dass ihre öffentlich-rechtlichen Inhalte durch eine algorithmische Extrabehandlung eine große Nutzerschaft erreichen. Darüber hinaus sollten öffentlich-rechtliche Institutionen viel stärker eigene, technische Infrastrukturen fördern. Die Kooperation zwischen ARD und ZDF bei den Mediatheken und mehr selbst entwickelte Apps sind sinnvoll, um Inhalte anzubieten, die nach einer anderen algorithmischen Logik funktionieren. Die algorithmische Auswahl kann Inhalte priorisieren, die gut recherchiert und besonders ausgewogen sind, hintergründig berichten, neue Perspektiven aufzeigen und transparent aufgebaut sind. Also Qualitätskriterien, die wir aus dem klassischen Journalismus kennen. Natürlich funktioniert das nur auf eigenen Plattformen und digitalen Infrastrukturen. Die öffentlich-rechtlichen Medien müssen viel mehr Geld und Ressourcen in die Entwicklung solcher Projekte investieren.

Die Veröffentlichung Ihrer Studie löste große Resonanz aus. So hält es Tanja Hüther, Leiterin des ARD-Distributionsboards, für essentiell, dass die ÖRM nur die »gute Seite der Technik« nutzen. Wenn man die kommerziell orientierten Plattformen von YouTube, Instagram, TikTok & Co. nicht nutzt – ist das im Hinblick auf Reichweiten nicht kontraproduktiv?

Henning Eichler: Wenn sich Frau Hüther darauf bezieht, wie ÖRM sich in kommerziellen Plattformumgebungen bewegen, ist diese Trennung unmöglich. Nur die gute Seite der Technik zu nutzen und die schlechte außen vor zu lassen, funktioniert dort nicht. Man bekommt nur beides. In gewisser Weise geht man einen Pakt mit dem Teufel ein, wenn man Inhalte über soziale Netzwerke verbreitet. Auf der einen Seite erhält man hohe Reichweiten und Zielgruppen, die man anders nicht erreichen würde. Auf der anderen Seite muss man bereit sein, bestimmte Regeln und Logiken von Netzwerken mitzuspielen. Zur Plattform-Ökonomie gehören: Große Datenmengen von allen Nutzerinnen und Nutzern werden eingesammelt, es besteht keinerlei Transparenz darüber, welche Daten eingesammelt, wie sie genutzt werden und welche Nutzer- und Nutzungsdaten den Öffentlich-Rechtlichen zur Verfügung gestellt werden. Es bleibt unklar, wie die Algorithmen genau funktionieren und nach welchen Kriterien die Empfehlungssysteme funktionieren. Das alles nimmt man in Kauf, wenn man soziale Netzwerke als Distributionswege nutzt. Das ist die Kehrseite der Medaille.

Was meint Frau Hüther dann?

Hennig Eichler: Wenn Frau Hüther auf die eigene, technische Infrastrukturen wie Media-, Audiothek und eigene Systeme rekurriert, lässt sich durchaus nur die gute Seite der Technik nutzen. Dafür gilt es, eigene, algorithmische Empfehlungssysteme aufzubauen, die werteorientiert und nach ethischen Grundsätzen und Wertegerüsten funktionieren. Allerdings muss diese eigene Infrastruktur erst forciert und etabliert werden, bis die Nutzerschaft bereit ist, sich intensiver z. B. auf einer Mediathek aufzuhalten und YouTube weniger oder gar nicht mehr zu nutzen. Momentan können Media- und Audiotheken mit den Funktionalitäten der sozialen Netzwerke nicht mithalten. Hinzu kommt, dass die avisierte Konversion der Nutzer*innen von sozialen Netzwerken zu den öffentlich-rechtlichen Plattformen noch nicht befriedigend funktioniert. Seit diesem Jahr hat die ARD das strategische Ziel, Nutzer*innen in den sozialen Netzwerken mit kurzen Beiträgen und Ausschnitten zu ködern, um sie damit auf die eigenen Plattformen wie Audio- und Mediathek zu locken. Trotz vieler Versuche und Experimente ist der durchschlagende Erfolg ausgeblieben. Um wirklich nur die gute Seite der Technik nutzen zu können und junge Leute zu erreichen, müsste das Herüberziehen von Nutzerinnen und Nutzern von den kommerziellen Plattformen zu den Öffentlich-Rechtlichen besser funktionieren.

Ist es für die ÖRM sinnvoll, Influencer ins Boot zu holen, die schon Reichweite mitbringen, anstatt eigene Reichweite aufzubauen?

Henning Eichler: Grundsätzlich folgen Influencer*innen streng der Plattform-Logik. Ihre hohe Reichweite und Nutzerschaft erzielen sie, weil sie alle Spielregeln so gut verstehen und befolgen. Die Frage lautet: Behalten Influencer*innen ihre hohe Reichweite, wenn sie eher werte- und qualitätsorientierte Inhalte in sozialen Netzwerken präsentieren? Wenn erfolgreiche Influencer nur in der ARD Mediathek präsent sind, müssten ihnen Nutzer*innen in eine andere Medienumgebung folgen. Dort stehen ihnen weder interaktive, noch partizipative Social-Media-Funktionen zu Verfügung, die sie zum Beispiel von YouTube kennen. Das heißt: Optionen, sich mit der Community auszutauschen, sich zu vernetzen, Feedback an die Redaktion zu geben oder Tools wie Umfragen oder Quiz. In der ARD Mediathek fehlen solche Funktionen und solange das der Fall ist, werden Nutzerinnen ihre gewohnten, sozialen Netzwerke kaum verlassen.

Kann man aus dem Social-Media-Bereich Arbeitsweisen für die linearen Kanäle übernehmen, um effizienter zu arbeiten und junge Zielgruppen für öffentlich-rechtliche TV– und Radio-Angebote zu begeistern?

Henning Eichler: Absolut. Zum einen können lineare Umgebungen die viel stärker ausgeprägte Nutzerorientierung von den sozialen Netzwerken übernehmen, um näher an Bedürfnissen und Wünschen von Nutzerinnen und Nutzern zu sein. In einigen Redaktionen und Innovationsabteilungen werden Prototypen von neuen Formaten und Sendungen entwickelt, die stichprobenartig Zielgruppen vorgestellt und in Gruppeninterviews diskutiert werden. Sowohl bei der Formatentwicklung als auch beim Feedback und bei der Weiterentwicklung von Sendungen ist diese Nutzerorientierung hilfreich. Zum anderen gibt es viel Potential bei Interaktions- und Partizipationsmöglichkeiten für das TV– und Radio-Publikum. Zum Beispiel ermöglicht das Community-Management einen Feedback-Kanal in die Redaktion. Beide Punkte sind ohne große Abwandlungen für lineare Formate geeignet. Gerade in linearen Umgebungen sollte man aufmerksamer und agiler auf Veränderungen von Bedürfnissen der Nutzer*innen reagieren, um dichter an der Nutzerschaft zu sein und Sendungen sowie Angebote schneller anzupassen und weiterzuentwickeln.

Medienpolitisch soll die Novelle des Medienstaatsvertrags den öffentlich-rechtlichen Anbietern mehr Flexibilität sichern, Inhalte auf Werbeplattformen wie sozialen Netzwerken auszuspielen. International hat das EU-Parlament strengeren Regeln für Internetplattformen zugestimmt. Mit dem DSA (Digital Services Act) soll Hassreden oder anderen illegalen Inhalten im Netz Einhalt geboten werden, der DMA (Digital Market Act) die Marktmacht großer Internetkonzerne eindämmen. Werden die Abhängigkeit von ARD und ZDF von Meta, Google, Apple und Amazon dadurch geringer und Werbeplattformen ihr Grundgeschäftsmodell überdenken?

Henning Eichler: Nein, am Geschäftsmodell von Plattformen wird sich nichts ändern. Aber Plattformbetreiber müssen mit einer größeren Sensibilität auf dem europäischen Markt agieren. Die Abhängigkeit von ÖRM und allen, die auf sozialen Netzwerken agieren, wird fortbestehen, da sie strukturell und systemisch ist. Die ÖRM werden weder durch DSA und DMA noch durch den Medienstaatsvertrag eine größere Autonomie erreichen. Dennoch ist der DSA ein wichtiges Signal, um den großen Plattformen kontra zu geben. Zum ersten Mal versucht der europäische Raum, ein neues Regelwerk aufzustellen, um das Heft des Handeln wieder in die Hand zu bekommen. In den letzten Jahren reagierte die Medienpolitik nur auf dynamische Entwicklungen der Plattform-Ökonomie. Mit dem neuen Instrumentarium könnte die Politik tatsächlich ihre Aufsichts- und Regulierungspflicht wahrnehmen. Für die Öffentlich-Rechtlichen bietet sich die Chance, Inhalte algorithmisch priorisiert ausgespielt zu bekommen. Im Medienstaatsvertrag steht, dass Plattformen keine Inhalte diskriminieren dürfen. Im Umkehrschluss heißt das: Plattformen dürften eigentlich gar keine algorithmische Priorisierung vornehmen – was natürlich absurd ist. Laut Medienstaatsvertrag haben die Medienanstalten die Aufsicht über Plattformen. Wenn die Aufsichtsbehörden bei Inhalten eine Diskriminierung feststellen, können sie die Plattformen auffordern, das sofort zu ändern. Ob die öffentlich-rechtlichen Inhalte dadurch tatsächlich mehr Reichweite erzielen, bleibt fraglich. An der grundsätzlichen Asymmetrie zwischen globalen Digital-Unternehmen und eher regionalen Medieninstitutionen wird sich wenig ändern. Entscheidend ist, ob in Europa eine funktionierende Aufsicht, Regulierung und Sanktionierung installiert werden kann, um Plattformen zu signalisieren, dass im europäischen Raum strengere Regeln gelten als im Rest der Welt.

Was müsste sich ändern, dass die Black Box der Algorithmen transparenter wird und journalistische Angebote in den sozialen Netzwerken die gleiche Verbreitungs-Chance haben?

Henning Eichler: Man müsste Plattformen dazu bringen, gemeinwohlorientierte Inhalte algorithmisch nicht zu benachteiligen oder sogar zu bevorzugen. Somit könnten Qualitätsinhalte möglichst viele Menschen erreichen. Technisch ließe sich auf Plattformen eine Zwei-Säulen-Funktion installieren (siehe hierzu als Quelle: Schwartmann et al. 2020): Nutzerinnen und Nutzer könnten zwischen kommerziell orientiertem Algorithmus und gemeinwohlorientierten Algorithmus wählen. Beispielsweise listet auf der YouTube-App der allgemeine Algorithmus die YouTube-Vorschläge. Innerhalb von YouTube könnte man auf den Public-Value-Algorithmus wechseln und erhält ein anderes Portfolio von Inhalten, die sich an Qualität, Gemeinwohl, Vielfalt und Ausgewogenheit orientieren. Dieser Public-Value-Algorithmus müsste in Zusammenarbeit mit einer unabhängigen Organisation entwickelt und beaufsichtigt werden.

Und wie steht es mit der Plattform-Transparenz?

Henning Eichler: Der DSA enthält die Forderung, der Wissenschaft Zugang zu den Algorithmen und ihren Funktionsweisen zu ermöglichen. Dabei bleibt offen, wie die Daten entstanden sind und inwiefern die zur Verfügung gestellten Datensätze vollständig sind. Wünschenswert wäre es, auch journalistischen Organisationen Teile dieser Datensätze und algorithmische Funktionsweisen zugänglich zu machen. So könnten Redaktionen und andere qualitätsorientierte Organisationen verstehen, wie algorithmische Empfehlungssysteme funktionieren.

Welche Rolle könnten Journalistik und Kommunikationswissenschaft im Spannungsfeld Public Value vs. Plattformisierung spielen?

Henning Eichler: Die Wissenschaft kann Denkanstöße geben, was die Idee des Public Value betrifft. Die ÖRM agieren hier mit einem recht oberflächlichen Ansatz, der nicht alle Dimensionen von Public Value umfasst. Insbesondere das zivilgesellschaftliche Aushandeln dessen, was ÖRM, auch in kommerziellen Medienumgebungen, leisten sollten, wird kaum berücksichtigt. Eine Aufgabe der Wissenschaft sehe ich auch darin, die Plattformisierung und ihre Folgen herauszuarbeiten und verständlich zu machen. Das sind unverzichtbare Grundlagen, um strategische Entscheidungen und eine klare Positionierung der ÖRM zu erzielen. Dazu gehört auch, sich Gedanken über eine Digital-Ethik zu machen. Auch hier können Impulse aus der Wissenschaft kommen.

Werden lineare Inhalte irgendwann tatsächlich mit digitalen Inhalten verschmelzen – oder bleiben es zwei Welten?

Henning Eichler: Das ist stark von der Nutzungssituation abhängig. Wenn ich abends auf dem Sofa sitze, nutze ich die Mediathek, den linearen Fernseher oder einen längeren Podcast auf dem Smartphone. Diese Lean-back-Situation unterscheidet sich fundamental von einer U-Bahnfahrt, wo ich auf die Schnelle etwa bei Instagram einen Nachrichtenüberblick wähle. Insofern glaube ich an keine Angleichung beider Welten. Aber lineare Medien werden weiter an gesellschaftlicher Relevanz verlieren und in der täglichen Mediennutzungsroutine unwichtiger, aber nicht ganz verschwinden und einen festen Platz in den Tagesritualen von Menschen behalten. Entscheidender sind Formatfragen: Welche Angebote nutze ich in welcher Lebenssituation? Wer kocht oder bügelt, hat vielleicht eine Stunde Zeit und hört sich in Ruhe einen Podcast oder ein Feature an. Wer ein zehnminütiges News-Update sucht, wählt als Nachrichtenbriefing einen kurzen News-Podcast oder die Newsleiste auf dem Smartphone. Zukünftig wird es weniger um die Frage linear oder non-linear, sondern um Formate, Bedürfnisse und Nutzungssituationen gehen.

Kostenloser Download der Studie »Journalismus in sozialen Netzwerken. ARD und ZDF im Bann der Algorithmen?« unter: https://www.otto-brenner-stiftung.de/journalismus-in-sozialen-netzwerken/

Über den Autor

Wolfgang Scheidt (*1967) beendete 1998 als Magister Artium sein Studium der Kommunikationswissenschaft, der Psychologie und des Medienrechts an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Seit 2005 ist er festangestellter OnAir Manager bei der Seven.One Entertainment Group der ProSieben Sat.1 Media SE. Parallel publiziert er als freiberuflicher Journalist regelmäßig über Medienthemen für Fachmagazine wie mebu live oder Journalistik. Kontakt: wolfgang.scheidt@gmx.de

Die englisches Version des Interviews wurde übersetzt von Sophie Costella.

Literatur

Schwartmann, Rolf; Hermann, Maximilian; Mühlenbeck, Robin L. (2020): Transparenz bei Medienintermediären. Hrsg. von Medienanstalt Hamburg/Schleswig Holstein. Leipzig: Vistas.


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Zitationsvorschlag

Henning Eichler im Interview mit Wolfgang Scheidt: Pakt mit dem Teufel. In: Journalistik. Zeitschrift für Journalismusforschung, 3, 2022, 5. Jg., S. 322-331. DOI: 10.1453/2569-152X-32022-12679-de

ISSN

2569-152X

DOI

https://doi.org/10.1453/2569-152X-32022-12679-de

Erste Online-Veröffentlichung

Dezember 2022