»… und immer nur an den Leser denken«? Journalistik, Sichtbarkeit und Sprache

von Martina Thiele

Das Problem

Seinerzeit forderte Focus-Chefredakteur Helmut Markwort neben »Fakten, Fakten, Fakten« die Fokussierung auf die »Leser«. Das war in den 1990er-Jahren. Heute, im Jahr 2020, herrscht Uneinigkeit darüber, ob in der Journalistik, einem »Fachmagazin mit Herausgeberprinzip«, geschlechtergerechte Formulierungen verwendet werden sollten, gar müssen! Ob wir drei Herausgeber und zwei Herausgeberinnen künftig den Autoren und Autorinnen nahelegen sollten, geschlechtergerecht zu formulieren. Bislang gibt es in dem »stylesheet« dazu keine Aussagen. Anderes wie die Zitationsweise, Umfang und Form der möglichen Beiträge wird vorgegeben, doch zur geschlechtergerechten, nicht-diskriminierenden Sprache findet sich dort nichts.

Geschlechtergerechte Sprache

Was heißt das? Lediglich, dass wir darum bitten (und uns selbst bemühen!), ›Frauen‹ und ›Männer‹‚ u.v.m. in der Schriftsprache sichtbar werden zu lassen. Durch die Nennung der ›männlichen‹ und ›weiblichen‹ grammatischen Form, durch das Binnen-I, den Unterstrich, das Gender-* … . Wir würden bei der Wahl der Form größtmögliche Freiheit lassen, wohlwissend, dass das Binnen-I oder die Nennung der ›männlichen‹ und ›weiblichen‹ grammatischen Form ›heteronormativ‹ gelesen werden kann und z. B. das Gender-Sternchen*, der Asterisk, mehr Offenheit und Vielfalt ermöglicht, so auch die Schreibweise Journalistinnen*, die etwas anderes bedeutet als die Schreibweise Journalist*innen. Mag sein, manch eine*r kennt diese Unterschiede nicht. Eine Frage des Alters? Des Geschlechts? Des Wissen-Wollens? Oder der grundsätzlichen Abneigung gegen diesen »Gender-Quatsch«?

Freiheit oder Zwang

Wir Herausgeber*innen würden also viele verschiedene Varianten akzeptieren, aber erwarten, dass geschlechtergerecht formuliert wird. Die ausschließliche Verwendung der männlichen Form, der Hinweis auf das »generische« Maskulinum oder darauf, dass Frauen mitgemeint seien, genügt nicht. Und das wäre im Jahr 2020 für die Journalistik neu!

Aber dürfen wir das denn? Dürfen wir »unseren« Autoren und Autorinnen vorschreiben, wie sie zu schreiben haben? Ist das nicht Zwang? Und würden diese Vorschriften nicht »Edelfedern« und »Sprachpäpste« davon abhalten, bei uns zu publizieren?

Ich meine: 1. Ja, wir Herausgeber*innen dürfen den Autor*innen im »style sheet« und mehr noch im direkten Austausch mitteilen, dass uns ein »Mitmeinen« nicht genügt. Das ist unser Recht und auch unsere Pflicht. Ebenso haben Autorinnen und Autoren dann das Recht, nicht in der Journalistik zu publizieren. 2. Wir sollten nicht nur an die »Edelfedern« denken, die sich aufgrund unserer Vorgaben vielleicht andere Publikationsmöglichkeiten suchen, sondern auch an diejenigen Autor*innen, die wir bislang nicht im Blick hatten und die irritiert sind, dass in der Journalistik diese Mindeststandards demokratischen Sprachgebrauchs nicht gelten. 3. Es stellt sich die Frage, warum gerade bei diesem Thema – geschlechtergerechte Sprache und ihre verbindliche Verwendung – Grundsatzdebatten ausbrechen über Meinungsfreiheit, künstlerische Freiheit, Verständlichkeit, Inklusion und Exklusion, aber wenig über Funktionen und Wirkungen von Sprache gesprochen wird. Spiegelt sie Machtverhältnisse wider, kann sie sie verändern, Bewusstsein schaffen? Wer bestimmt, was »guter« Journalismus, was angemessene oder verständliche Sprache ist?

Die Abwehr gegenüber inklusiver Sprache deutet m.E. auf die Abwehr der Tatsache, dass gesellschaftliche Vielfalt Realität ist. Erstaunlicherweise sind es häufig diejenigen, die beruflich viel mit Sprache zu tun haben und sich selbst als Kreative sehen, die aber gerade nicht kreativ werden, wenn es um sprachlichen Ausdruck, um die Suche nach Alternativen und die Weiterentwicklung von Sprache geht.

Auslöser der Debatte

Die Zusammensetzung des Herausgeber*innenteams hat sich verändert und damit kam dieses Thema, Sprache und Inklusion, auf die Tagesordnung. Konkreter Anlass war ein Beitrag für die Journalistik, in dem der Autor ausschließlich von den Journalisten, dem Leser, dem Volk, den Anhängern, den Gegnern, etc. »dort«, in einem Land auf der Südhalbkugel, sprach. Wenngleich die historische und auch die aktuelle Situation in vielen Gesellschaften weltweit so ist, dass Männer in wichtigen Positionen sind, dass sie über andere entscheiden und ihre Regeln gelten, so gibt es doch noch »mehr Menschen«, »weitere Beteiligte«, nicht nur »Betroffene«, sondern »Akteur*innen«. Haben sie keine Stimme, noch nicht einmal das Recht, erwähnt zu werden? Sollten sich diejenigen, die über andere schreiben, nicht zumindest bemühen, für Sichtbarkeit zu sorgen?

Selbstverständigungsprozesse

Doch bevor über inklusives Schreiben nachgedacht werden kann, sind wir als diejenigen, die eine Zeitschrift herausgeben, gefordert zu entscheiden: über die Autor*innen, ihre Themen, ihre Sprache, ihre Perspektiven. Es geht also nicht nur um geschlechtergerechte Sprache, sondern darum, insgesamt Vielfalt und Komplexität abzubilden, mit dem Ziel, die Beschränktheit unserer Wahrnehmung aufzubrechen. Das kann gelingen, wenn wir verschiedenen Autor*innen ein Forum bieten, andere Erfahrungen gelten lassen und differierende Sichtweisen auf Journalismus und Journalistik ermöglichen.

Nachdem wochenlang Argumente ausgetauscht worden sind und die »Fronten verhärtet« waren, kam als »Lösungsvorschlag«, wir sollten unsere Debatte öffentlich machen. Doch hilft Öffentlich-Machen, wenn wir uns im kleinen Kreis nicht einigen können? Wäre es nicht sinnvoller, zunächst unter uns für Klärung zu sorgen und dann abzustimmen über einen Passus wie »wir erwarten von unseren Autor*innen, dass sie diskriminierungsfrei formulieren und für Sichtbarkeit von Diversität sorgen«?

Fast waren wir schon so weit und es gab sogar eine Mehrheit für die Aufnahme des Satzes in die Hinweise für Autor*innnen. Dann aber ging die Diskussion erst richtig los und endete mit diesem »Lösungsvorschlag«: Positionspapiere veröffentlichen. Sie geben immerhin Einblick in eine Debatte, deren Zeitpunkt, Ausmaß, Dauer und auch Heftigkeit mich erstaunt. Ich bin davon ausgegangen, dass möglichst diskriminierungsfreies Schreiben in der Wissenschaft und also auch in der Journalistik bereits selbstverständlich ist. Schließlich sind die Argumente bekannt und unzählige linguistische, kognitionspsychologische, soziologische und auch kommunikationswissenschaftliche Studien belegen, dass es einen Unterschied macht, ob ich von den Lesern oder aber den Leserinnen und Lesern spreche. Auch finden sich in praktischen Ratgebern und online hilfreiche Hinweise, wie es geht, inklusiv und verständlich zu schreiben.[1] Dass dennoch immer wieder und in letzter Zeit vermehrt öffentlich über das »Gendern« gestritten wird, von »Zwang« die Rede ist und Toleranz für Ignoranz eingefordert wird, ist symptomatisch für ein Unbehagen gegenüber dem »Neuen«, dem »Komplizierten«, dem angeblich »Nicht-Verständlichen« und gegenüber Regeln, die als »ideologisch« und zu weit gehend empfunden werden. Sich mit diesem Unbehagen genauer zu befassen und zu fragen, wer es schürt, wer es warum verspürt, schiene mir sinnvoller als wochenlang darüber zu streiten, ob das »style sheet« um den Punkt geschlechtergerechte Formulierungen ergänzt wird. Trotzdem sorgt dieser Streit für Klarheit – ich bin dafür, dass in den Hinweisen für die Autor*innen steht: Wir erwarten eine geschlechtergerechte, nicht-diskriminierende Sprache.

Fussnoten

1 Beispiele versammelt die Seite www.genderleicht.de/geschlechtergerecht-schreiben-in-sieben-schritten/, ein Projekt des Journalistinnenbundes. Und es gibt noch mehr Formulierungstipps, z. B. der »Neuen deutschen Medienmacher*innen«, einer Initiative für Vielfalt in den Medien: https://glossar.neuemedienmacher.de/ oder https://geschicktgendern.de/


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Zitationsvorschlag

Martina Thiele: »… und immer nur an den Leser denken«? Journalistik, Sichtbarkeit und Sprache. In: Journalistik, 1, 2020, 3. Jg., S. 66-69

Erste Online-Veröffentlichung

Juni 2020