»Die Weltgeschichte kümmert sich zu wenig um Sonnenstrahlen« Die politische und soziale Dimension im journalistischen Werk von Joseph Roth

von Petra Herczeg

Abstract: Joseph Roth (1894 bis 1939) war nicht nur einer der bedeutendsten Erzähler des 20. Jahrhunderts, der mit Werken wie »Hiob« und »Radetzkymarsch« einem großen Publikum bekannt wurde und dessen literarische Werke auch verfilmt wurden. Er hat ein ebenso umfangreiches journalistisches Schaffen hinterlassen. Sowohl seine literarischen als auch seine journalistischen Tätigkeiten sind von präzisen Beobachtungen und einem soziologischen Blick auf Mensch und Gesellschaft geprägt. In diesem Beitrag wird das journalistische Werk von Joseph Roth analysiert, vor allem sein journalistisches Wirken gegen den aufkommenden Nationalsozialismus, sowie seine Aktualität für den Journalismus heute diskutiert.




In der deutschsprachigen Rezeption seines Werkes wird immer wieder zwischen dem Journalisten, Feuilletonisten und Dichter Joseph Roth unterschieden. Essenziell für die Rezeption des Werkes von Joseph Roth ist aber gerade die Verschränkung seines journalistischen und literarischen Wirkens. Hackert verweist auf »klassische englische Autoren wie Defoe oder Dickens, deren Beiträge zu journalistischen Genres per se nicht geringer bewertet werden als ihre Erzählwerke« (Hackert 2013: 5). Er fügt hinzu, dass »Fiction« in diesem Kontext keinen Wert an sich darstellt »der ihren Textsorten eine höhere Qualität« (Hackert 2013: 5) zuschreiben würde. Dieser Hinweis, der sich auf Defoe und Dickens bezieht, besitzt auch für das Werk von Roth seine Gültigkeit. Das zeigt auch die sechsbändige Werkedition, die 1992 herausgegeben worden ist und »zur Hälfte aus literarischen und journalistischen Arbeiten« (Haas 1999: 259) besteht.

Hackert zitiert Arbeiten von Helen Chambers (2013), die auf die Modernität von Roths Werk verweist, »wenn sein Denken und Schreiben die Frage der menschlichen Identität umkreist. Sie bildet einen Schwerpunkt der Motivik im Erzählwerk wie in den Zeitungstexten, wobei die Verflechtung von Erfundenem und Erfahrenem, von ›fiction‹ und ›faction‹ ebenso im Buch- wie im Zeitungsmedium zu finden ist, wo der Fortsetzungsroman abschnittsweise seiner Buchfassung vorausgeht« (Hackert 2013: 6).

Genau diese Verknüpfungen sind charakteristisch für das Werk von Joseph Roth und dokumentieren einerseits die Vielfältigkeit des Oeuvres und andererseits die Schwierigkeit das Rothsche Werk einzuordnen.

Roth war sein ganzes Leben lang auch Journalist, die meisten seiner erzählerischen Werke erschienen als Vorabdrucke in Zeitungen (vgl. Westermann 1987). Seinen letzten journalistischen Text »Die Eiche Goethes in Buchenwald« – mit dem Zusatz von fremder Hand: »Letzter Artikel vor seinem Tode Montag 22. V. 1939« (JR Werke 3, 1991: 946) – schrieb er wenige Tage vor seinem Tod am 27. Mai 1939 in einem Pariser Armenkrankenhaus.

In der wissenschaftlichen (und auch öffentlichen) Rezeption ist der Journalist Joseph Roth – wie auch Hannes Haas schreibt – sehr spät als Reporter entdeckt worden. »Unverständlich nicht nur wegen der Qualität, sondern auch des Umfangs seines journalistischen Werks« (Haas 1999: 259).

Zur Veranschaulichung sei dazu vermerkt, dass Roth zwischen den beiden Weltkriegen mehr als 1.300 Artikel verfasste. Seine ersten journalistischen Texte schrieb Roth – der sich 1916 als Freiwilliger für den Ersten Weltkrieg gemeldet hatte – für die Kriegszeitung der 32. Infanterietruppendivision, die jedoch 1917 eingestellt wurde (vgl. Westermann 1989: 1110).

Joseph Roth, 1894 in Brody, Galizien geboren, erlebte unterschiedliche gesellschaftliche Entwicklungen, die sowohl sein literarisches als auch journalistisches Werk nachhaltig prägten: Die Entwicklung der Großstadt im Industriezeitalter, die damit einhergehende Ausbildung unterschiedlicher Milieus, den Ersten Weltkrieg, den Zusammenbruch der k. u. k.-Monarchie, die Kriegsheimkehrer, das Elend der Menschen, den Aufstieg von Adolf Hitler, die Verfolgung der Juden und andersdenkenden Menschen und das Exil.

Nach dem Ersten Weltkrieg veröffentlichte Roth journalistische Texte für die »A.Z. am Abend« (Abendblatt Arbeiterzeitung am Abend) und die Zeitschrift »Die Filmwelt« in Wien. Roth, der sich auch in einer Tradition mit Peter Altenberg, Karl Kraus und Alfred Polgar sah (vgl. Bronsen 1974), hat bei Alfred Polgar seine ersten Beiträge als junger Journalist veröffentlicht. Polgar war Literaturredakteur bei der pazifistischen Wiener Wochenzeitschrift »Der Friede«. Er folgte dann auch Alfred Polgar, als dieser Feuilletonchef der neu gegründeten Tageszeitung »Der Neue Tag« wurde. Roths erstes Feuilleton wurde 1919 in »Der neue Tag« publiziert. Das Blatt wurde zwar nach nur 15 Monaten wieder eingestellt, aber bereits in diesem einen Jahr zeigte sich die ungeheure Produktivität von Joseph Roth. Er verfasste mehr als hundert Artikel, Berichte und Feuilletons für die Zeitung.

Die Rückkehr nach Wien – nach dem Ersten Weltkrieg – war schwierig, Roth fand eine Welt vor, die aus den Fugen geraten war, es herrschten chaotische Verhältnisse, kriegstraumatisierte und kriegsversehrte Menschen irrten umher, das Habsburger Reich gab es nicht mehr, und so wurden die Kriegsfolgen zu einem der zentralen Themen für Joseph Roth. Sein journalistisches Vorgehen beschrieb Roth so: »Jedes Ereignis von Weltgeschichtsqualität muß ich auf das Persönliche reduzieren, um seine Größe zu fühlen und seine Wirkung abzuschätzen. Gewissermaßen durch den Filtrierapparat ›Ego‹ rinnen lassen und von den Schlacken der Monumentalität befreien. Ich will sie aus dem Politischen ins Menschliche übersetzen« (JR Werke 1, 1921: 570). So beginnt seine Reportage über Oberschlesien, wo er sich von seiner subjektiven Perspektive aus mit der Situation von Arbeitern befasst, die im Kohlebergwerk arbeiten. Roth folgert: »Ich gäbe viel darum, wenn ich wüßte, wie viele von den hundertfünfundzwanzigtausend noch das letzte Flirren eines Sonnenstrahls erwischen. Die Weltgeschichte kümmert sich zu wenig um Sonnenstrahlen« (JR Werke 1, 1921: 571).

In seinen Ausführungen verbindet er die private Perspektive mit der öffentlichen, indem er die Verstrickungen der Individuen in das Weltgeschehen thematisiert. Ihm war bewusst, wie er seine Artikel zu gestalten hatte, um das Publikum zu erreichen. »Der Perspektivenwechsel gehört zu den klassischen Strategien in der Reportage. Er dient in erster Linie dazu, das Interesse des Lesers zu fesseln und zu bewahren« (Chambers 2013: 51). Vielfältige Zugänge, »immer neugierig, immer darauf bedacht, seinen vor allem bürgerlichen Lesern das nahe Leben, an dem sie achtlos vorüber gingen, vor Augen zu halten« (Ortheil 1992: 67) – das war das journalistische Programm und Selbstverständnis von Joseph Roth.

Das »Soziale« in den Reportagen von Joseph Roth

Als ein wichtiges Kriterium für Sozialreportagen gilt die Authentizität, die sich darin manifestiert, dass der Reporter am Ort des Geschehens war, von seinen Beobachtungen ausgehend die Geschehnisse und Akteure beschreibt und daraus seine Schlussfolgerungen ableitet. Joseph Roth hat nach dem Ersten Weltkrieg zunächst in der Rubrik »Wiener Symptome« für die Zeitung »Der Neue Tag« das Leben der Individuen in einer Zeit der wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Not beobachtet und beschrieben. In der Reportage »Von Hunden und Menschen« schreibt er 1919:

»Zu den vielen Straßenbildern des Wiener Kriegselends hat sich seit einigen Tagen ein neues gesellt: Ein vom Krieg zum rechteckigen Winkel konstruierter Mensch – Invalide mit Rückgratbruch – bewegt sich auf eine fast unerklärliche Weise durch die Kärntnerstraße und kolportiert Zeitungen. Auf seinem mit dem Trottoir eine Horizontale bildenden Rücken sitzt – ein Hund. Ein wohldressierter, kluger Hund, der auf seinem eigenen Herrn reitet und aufpaßt, daß diesem keine Zeitung wegkommt. Ein modernes Fabelwesen: eine Kombination von Hund und Mensch, vom Kriege ersonnen und vom Invalidenjammer in die Welt der Kärntnerstraße gesetzt. Ein Zeichen der neuen Zeit, in der Hunde auf Menschen reiten, um diese vor Menschen zu bewachen. Eine Reminiszenz an jene große Zeit, da Menschen wie Hunde dressiert und in einer sympathischen Begriffskombination als ›Schweinehunde‹, ›Sch…hunde‹ usw. von jenen benannt wurden, die selbst Bluthunde waren und so nicht genannt werden durften« (JR Werke 1, 1919: 95).

In diesem Ausschnitt zeigt sich, wie Roth die Perspektive eines einzelnen Menschen mit der gegenwärtigen Situation verknüpft und aufzeigt, wie sich der Krieg auf die Individuen ausgewirkt hat – die Menschen erhalten dadurch einen Status als Subjekte –, und auch wie Kritik am politischen System geübt werden kann.

In der Reportage »Die Insel der Unseligen« berichtet Joseph Roth über das psychiatrische Krankenhaus am Steinhof in Wien:

»Da liegt sie, die Gartenstadt der Irrsinnigen, Zufluchtsort an dem Wahnsinn der Welt Gescheiterter, Heimstätte der Narren und Propheten. […] Die Häuser sind alle gleich gebaut und heißen ›Pavillon‹, haben römische Ziffern an der Stirnseite und fest verschlossene Pforten. Um manche ist ein Garten gebaut, und dort lustwandeln, sitzen, laufen, stehen die Hausbewohner herum. Es ist gerade die Zeit, da sie an die Luft geführt werden« (JR Werke 1, 1919: 23).

Hier widmet sich Roth einer Gruppe von Menschen, die von der Mehrheitsgesellschaft mehr als oft vergessen werden:

»Ein Mann hockt auf dem Boden und müht sich vergeblich, deutliche Kreise in die noch harte Erde zu zeichnen. Ein anderer bewegt die Fäuste, dreht eine Faust nach innen, hält die andere waagrecht und still und verfolgt aufmerksam jede seiner eigenen Bewegungen. Aber um andere Häuser ist es still, da ist kein Garten. […] Dann kommt das Wiedersehen. Manche Kranke sind erfreut über den Besuch, manche sind verstört, nichts wissen wollend, die einen lachen, die andern weinen. Aber fast alle, die ich sah, durchsuchen zuerst die Taschen, die meisten freuen sich mehr über das Mitgebrachte als über den Besuch« (JR Werke 1, 1919: 23f.).

Roth beschreibt die Menschen in der Anstalt respektvoll und führt mit ihnen auch Interviews, um von ihnen selbst zu erfahren, wie es ihnen geht und wie sie ihre Situation einschätzen. Am Ende seiner Reportage vermerkt er unter der Unterkapitelüberschrift »Abschied«:

»Offen gestanden: Es fällt mir schwer. Abend hüllt die Insel der Unseligen – oder Seligen? – in blauen Dunst. Vielleicht hat er recht, der kleine Professor? Ist die Welt nicht ein Tollhaus? Und ist es nicht praktisch, sich rechtzeitig ein warmes Plätzchen im ›Steinhof ‹[1] zu sichern? Ich werde es vielleicht doch tun. Und – eine Zeitung gründen. Ich suche auf diesem Wege Mitarbeiter …« (JR Werke 1, 1919: 27).

In diesem journalistischen Text nimmt Roth Perspektivenwechsel vor, er erzählt von der Innensicht der Patienten und kombiniert diese mit seinen eigenen Be-obachtungen und Fakten wie dem Abdruck des Speiseplans, den Gesprächen mit den Ärzten. Er lässt die Frage offen, ob wirklich die Insassen die »Verrückten« sind. Sehr plastisch und atmosphärisch dicht schildert Roth seine Erlebnisse.

Nach der Einstellung der Zeitung »Der Neue Tag« übersiedelt Roth 1920 auf der Suche nach neuen Verdienstmöglichkeiten nach Berlin. Der »Reisende mit Traglasten« – in Anlehnung an eine Reportage von Roth aus dem Jahr 1923 – wird einer der bestbezahlten Journalisten seiner Zeit. In seinen Artikeln widmet er sich unterschiedlichen Themen, unternimmt Reisen und verfasst auch Buchrezensionen, Theater- und Filmkritiken, die, wie Westermann bemerkt, oft nur eine reine Pflichterfüllung waren: »Eine zündende Idee, eine brillante Formulierung – der Rest dann einfach floskelreiche Routine« (Westermann 1989: 1113).

Joseph Roths Berichte über den »Leipziger Prozess gegen die Rathenau-Mörder« (1922)

Roth äußerte sich in seinen Berichten für die »Neue Berliner Zeitung – 12-Uhr-Blatt« über den Prozess gegen die Mörder von Walther Rathenau. Der Außenminister war von Mitgliedern der rechtsextremen »Organisation Consul« (OC) ermordet worden. Die nationalistische Presse hatte davor heftig gegen Rathenau als Vertreter der »Judenrepublik« gehetzt. Joseph Roth schrieb neun Artikel über den Prozess, die in der Zeit vom 4. bis 13. Oktober 1922 in der »Neuen Berliner Zeitung« (seit 1919 mit dem Ergänzungstitel »Das 12 Uhr Blatt«) veröffentlicht wurden, sowie einen Beitrag für die sozialdemokratische Zeitung »Vorwärts«. In seiner Biografie über Roth schreibt Sternburg, dass dies die vielleicht besten politischen Reportagen Roths seien (2009: 259). Auch Westermann meint, dass die Ermordung von Rathenau für Roth ein »Schlüsselerlebnis« (1987: 120) gewesen sei. Rathenau wurde in seinem Auto umgebracht – es wurde sowohl eine Eierhandgranate in das Auto geworfen als auch mit einer Maschinenpistole auf ihn geschossen[2] (vgl. Mergenthaler 2014). Beim Prozess waren 13 vor allem junge Männer angeklagt, die Mittäter oder Helfershelfer bei dem Mord an Rathenau waren. Die beiden Haupttäter waren bereits tot: Der 23-jährige Jurastudent und Oberleutnant a.D. Erwin Kern war bei einem Schusswechsel durch die Polizei erschossen worden, der 26-jährige Ingenieur und Leutnant a.D. Hermann Fischer hatte sich selbst erschossen. Der Prozess stieß auf großes öffentliches Interesse, viele Menschen folgten der Verhandlung vor dem Staatsgerichtshof in Leipzig als Publikum. In seinen Berichten beschreibt Roth den Prozess in verschiedenen Abschnitten und konzentriert sich dabei auf eine präzise Darstellung der Szenerie und der einzelnen Angeklagten. Er stellt sogleich Verbindungen zwischen dem Verhandlungssaal und den angeklagten Personen her: »Der Saal, in dem die Verhandlung stattfindet, ist überflüssig mit Kaiserbildern tapeziert. Ölgemalte Zeugen der vergangenen Epoche, sprechen sie vielleicht für die Angeklagten, indem sie sie entschuldigen. Der gemalte Purpur und die zerfetzten Kleidungsstücke Rathenaus – ein Kontrast und ein Kausalzusammenhang zugleich« (JR Werke 1, 1922: 872).

Historische Details werden mit der damals aktuellen politischen Situation verwoben. Roth befasst sich auch sehr ausführlich mit der Tatwaffe. Die Angeklagten werden nicht nur mit der Mordwaffe in einen Zusammenhang gebracht, sondern ihre politische Gesinnung wird auch dazu parallel thematisiert:

»Mit gleichgültiger Miene blicken die Angeklagten auf die Waffe, als wäre sie ein nebensächliches Küchengerät und nicht jenes Instrument, mit dem sie angeblich die Befreiung der Nation vollführen wollten. Gleichgültig erörtert Techow die Schnelligkeit dieser Waffe wie ein Sachverständiger im Schießfach, und um den Mund des Herrn Kapitänsleutnants Tillessen liegt ein Lächeln der Verachtung für alle jene Menschen im Saal, die so gar keine Ahnung haben von Waffen und Heldentaten. […] Merkwürdig, daß die Sachverständigkeit des Mörders sofort aufhört, wenn das Thema politisch wird. Da vernimmt man, daß er überzeugt war von Rathenaus Zugehörigkeit zu den 300 Weisen von Zion, von der Verlobung seiner Schwester mit Radek, vom ›schleichenden Bolschewismus‹ und von der Schädlichkeit des Judentums. Von den zahlreichen Schriften Rathenaus hat er zwar nichts gelesen, weil ihn die Schießwissenschaft mehr interessierte, aber nicht einmal seine totale Unwissenheit zuzugeben ist er mutig genug. Einen einzigen Aufsatz von Rathenau will er gelesen haben, und zwar in Hardens ›Zukunft‹, deren Mitarbeiter Rathenau seit mehr als zehn Jahren nicht mehr war. Wozu lesen? Wozu sich überzeugen? Lieber gleich morden, was leichter ist« (JR Werke 1, 1922: 874f).

Roth schildert die Atmosphäre im Gerichtssaal und beobachtet das Publikum: »Die Hälse gierig gereckt, die Münder offen, als könnte man Worte essen, hockt oben eine Menge Feindseliger zusammen, von denen immer jeder seinen Nächsten auf die Anklagebank oder gleich aufs Schafott wünscht. Man sieht kein Ende. Dort oben wogt ein Meer menschlicher Sensationsbegier.« (JR Werke 1, 1922: 879) Und: »Ich staune über sechshundert Menschen täglich, die sieben bis acht Stunden lang nichts zu tun haben und vom Zuhören leben. Ihr Beruf ist ›Öffentlichkeit‹ sein. Sie leben anscheinend sehr gut, denn sie essen ausgiebig und geräuschvoll. Ihr Appetit wächst mit ihrer Neugier.« (JR Werke 1, 1922: 880) Und die Verteidiger: »müssen es sich gefallen lassen, hier porträtiert zu werden, da es in ihrem eigenen Interesse liegt, in einer Art juridischem Rampenlicht gesehen zu werden. Sie sind durchwegs kerzengerade, forsch und tragen eine unsichtbare Couleur« (JR Werke 1, 1922: 880).

Roth stellt die Angeklagten, die Verteidiger und das Publikum einander gegenüber und zeigt so die unterschiedlichen Machtstrukturen. Sternburg ist zuzustimmen, wenn er in seiner Roth-Biografie anmerkt, dass Roth nicht über die politischen Entwicklungen und Hintergründe geschrieben hat, sondern dass seine »Einblicke in das politische Drama der Republik« (Sternburg 2009: 261) eine bessere Beschreibung der gesellschaftlichen Zustände liefern, »als viele der Leitartikel, die zu diesem Thema erschienen« (Sternburg 2009: 261) sind. Durch die einzelnen Schilderungen wird »[d]ie Durchlässigkeit von Politik, Verbrechen und Justiz« (Wagner 2011: 236) von Roth in seinen Berichten sehr analytisch eingefangen. Und Mergenthaler analysiert, dass Roths Gerichtsreportagen über den Rathenau-Mord nicht die genauen Hintergründe der Verschwörung liefern würden, aber dafür genaue »prägnante psychologische Porträts« (Mergenthaler 2014: 98) der unterschiedlichen Akteure von den Angeklagten über den Richter, die Wachsoldaten, das Publikum, die Verteidiger, die Besucher, die Zeugen, den Oberreichsanwalt – über alle, die am Prozess in unterschiedlichen Funktionen beteiligt sind.

Mergenthaler beschäftigt sich in seinem Beitrag mit der politischen und ästhetischen Reichweite der Reportagen. Roth bezeichnet die Robe des Staatsanwalts als Toga, in der ein gefährlicher Vorsatz schlummere (vgl. JR Werke 1, 1922: 877). Durch die Verwendung des Begriffes »Toga« wird auf »das Habit klassischer Römer, der Bürger und Würdenträger des römischen Reichs« (Mergenthaler 2014: 100) verwiesen. Mergenthaler argumentiert weiter, dass Roth ausführt, dass so kein deutscher Staatsanwalt sprechen würde, sondern ein klassischer Römer. Roth zitiert Cicero mit »Wie lange noch, o Catilina? …« (JR Werke 1, 1922: 885). Catilina, ein ausschweifend lebender römischer Senator, war bei seinem Putschversuch gegen die römische Republik 63 v. Chr. gescheitert. Als Konsequenz wurden den Konsuln umfassende Vollmachten ausgestellt, um die Stabilität im Reich zu gewährleisten. »Es bedurfte 1922 nicht sonderlich großer hermeneutischer Anstrengungen, um im Einräumen dieser Rechte eine Präfiguration des im Artikel 48 der Weimarer Verfassung angelegten Notverordnungsrechtes zu erblicken – schon allein deshalb nicht, weil der Reichspräsident von diesem Recht nach der Ermordung des Reichsfinanzministers Matthias Erzberger am 26. August 1921 bereits Gebrauch gemacht hatte […]. Wenn Roth also die berühmte Eröffnung der ersten Rede zitiert, mit der Cicero seinen politischen Widersacher Catilina vor dem Senat zu überführen und in die Verantwortung zu nehmen sucht, dann durfte er, Roth, davon ausgehen, dass nicht wenige in der Lage waren, ihn in Beziehung zu setzen zur in Leipzig verhandelten Sache, der Mordsache Walther Rathenau.« (Mergenthaler 2014: 103)

Damit wird die Berichterstattung über den Prozess in einen weiteren politischen Zusammenhang eingebettet, in dem es nicht mehr nur um die detaillierte Charakterisierung der einzelnen Protagonisten geht, sondern darum, dass mit dem Mord ein Anschlag auf die Weimarer Republik selbst begangen worden ist. Diese Vorgangsweise ist typisch für Roth. Kritiker werfen ihm oft vor, dass er nicht eingehend recherchieren würde und mehr an den Schilderungen von Details interessiert wäre (vgl. Oei 2012: 32; Pott 2016) als an einer ganzheitlichen Darstellung. Roth bezieht aber eindeutig Stellung und überlässt es seinem Publikum, die Zusammenhänge selbst herzustellen. Er setzt damit auf eine aufgeklärte Leserschaft.

Joseph Roths Harzreise (1930/31) als Einblick in seine journalistischen Verfahrensweisen und den Umgang mit der Öffentlichkeit

Joseph Roth hat, wie 1824/26 Heinrich Heine, den er sehr verehrte, für die Frankfurter Zeitung eine Reise in den Harz unternommen. Allerdings erschienen nicht wie angekündigt fünf Artikel in dem Blatt, sondern nur drei (vgl. Westermann, Nachwort 1989: 1073). Westermann vermutet, dass es Interventionen gegen die Berichterstattung gegeben haben könnte. Roths Texte waren als »Briefe aus dem Harz« – an einen »lieben Freund« gerichtet. Im ersten »Brief aus dem Harz« erläutert Roth sein journalistisches Vorgehen, indem er ausführt, wie er sich in den kleinen Städten umsieht. Die Beschreibung der Landschaften wechselt sich ab mit jenen der Menschen, die Joseph Roth trifft:

»Ich sitze in kleinen Konditoreien, ich gehe in mittelgroße Kinos, ich esse in großen Bierlokalen, ich wandle durch späte Kneipen. […] Ich kenne keinen Menschen, geschweige denn eine Seele. Reichswehrsoldaten kommen mir vertraut vor, nur weil ich auch einmal ein fremder Soldat in kleinen Garnisonen war. Aber ich sehe mir die Gesichter der Soldaten an: Nun sind sie mir fremd. […] Auch die Schulkinder scheinen mir nah und verwandt« (JR Werke 3, 1930: 271).

Der »Meister der Miniatur« (Haas 1999) beobachtet die mitteldeutsche Kleinstadt und ihre Bewohner sehr genau. Durch »die Offenlegung des eigenen Standpunktes, also durch deklarierte Subjektivität wird eine Objektivität zweiter Ordnung erreicht« (Haas 1999: 243). Was Haas damit meint, zeigt sich in den weiteren Rothschen Schilderungen:

»Kein Museum, keine Kirche kann mich für den unheilvollen Anblick entschädigen, den mir zum Beispiel das Schaufenster einer Buchhandlung in einer kleinen Stadt liefert: eine repräsentative Fülle von Dummheit, lyrischem Dilettantismus, mißverstandener idyllischer ›Heimatkunst‹ und einer phrasenreichen Anhänglichkeit an eine ›Scholle‹ aus Zeitungspapier und Pappendeckel, in der man höchstens einen Zylinder einpacken kann, die niemals ein Gefühl birgt, keinen Keim und keinen Samen. […] Wieviel Gift in veilchenblauen Kelchen! Vom energiegeladenen Antlitz des welschen, aber großmütig dem Norden zugeneigten faschistischen Diktators, dessen Kinn an einen umgekehrten Stahlhelm erinnert, bis zu Adolf Hitlers Physiognomie, die alle Gesichter seiner Wähler vorweggenommen hat und in die jeder Anhänger sehen kann wie in einen Spiegel: Alles ist da, alles auf Lager […]« (JR Werke 3, 1930: 274).

In diesem Abschnitt verbindet sich die Reisebeschreibung mit einer Kritik an der »Dumpfheit des öffentlichen Lebens« (JR Werke 3, 1930: 274) und damit daran, wie das politische System agiert. Roth bezieht sich hier – ohne explizit darauf einzugehen – auf die Septemberwahlen 1930 zum Reichstag, bei denen die NSDAP in der von Roth bereisten Region 22,2 Prozent der Stimmen erhalten hatte. »Aber es ist nicht die Art Rothscher Journalistik, solche Zahlen aufzuführen oder zu kommentieren, sondern die gesellschaftlichen Tendenzen in tatsächlich oder prätendiert eigenen Alltagsbeobachtungen […] einzufangen« (Kröhnke 1998: 108). Sehr eindringlich und auch hellsichtig (vgl. Kröhnke 1998) beschreibt Roth die Stimmung in der Provinz. Er begibt sich in eine Konditorei und auch in ein Restaurant, um die Menschen und die Szenerie zu beobachten:

»Ich trinke Bier und rauche Zigaretten, zu Assimilationszwecken und um nicht aufzufallen. […] Ich muss also nicht nur Bier trinken und Zigarren rauchen, sondern auch eine Zeitung lesen. Sie hat´s, obwohl sie ein Amtsanzeiger ist, auf Severing [3] abgesehen und spottet der Demokratie. Sie verleiht mir ein beschäftigtes Aussehen, und keiner von den redseligen Herren wagt es, mich zu stören, als wäre ich mitten in einer Andacht. Die Gesinnung des Blattes beruhigt sie über die meinige. Und einer scheint dermaßen mit mir zufrieden zu sein, daß er sein Glas erhebt, um mir zuzutrinken. Ich antworte ihm ernst, aber charmant und fasse blitzschnell den Entschluß, ihm zu entrinnen« (JR Werke 3, 1930: 284).

Auch hier wird die journalistische Arbeitsweise Joseph Roths deutlich – der Wechsel der Perspektive, die Einbeziehung des Akteurs in das Umfeld und die Auswirkungen der gesellschaftlichen Entwicklungen auf das Individuum.

In seinem zweiten Brief mit der Überschrift »Der Merseburger Zauberspruch [4]« befasst sich Roth mit den Auswirkungen der Chemieindustrie der Leunawerke auf das bereiste Gebiet von Merseburg und Frankleben.

Die Leunawerke hatten das Dorf Runstedt bei Merseburg vernichtet, um Kalium zu gewinnen. Interessant an diesem Bericht ist, dass er über sein großes Vorbild Heinrich Heine und dessen Harz-Reise sehr brüsk und kritisch schreibt:

»Heinrich Heine war, im Harz wenigstens, ein oberflächlicher Reisender. Was er sah und hörte, ward ihm vom Zufall zugeweht, dem trügerischen und gefährlichsten Freund der Schriftsteller. Es stieß ihm zu. Mit heiterem Gleichmut nahm er es auf, schrieb er es hin« (JR, Werke 3, 1930: 275).

Im Vergleich zu Heine versucht Roth sein eigenes Vorgehen zu erläutern, denn:

»Uns aber, lieber Freund, denen in einem langen und mörderischen Kampf mit den steinharten Tatsachen dieser Welt die Grazie allmählich abhanden kommt und denen Gott wahrlich keine Gunst mehr erweist, wenn er sie durch eine immer grausiger werdende Welt schickt, uns steht es nicht mehr an, die Anekdoten aufzulesen, die im Winde des Zufalls einherwehen, und von Begegnungen zu plaudern, die zu dem Ort, an dem sie stattgefunden haben, keine gültige Beziehung haben« (JR Werke 3, 1930: 275f.).

Und er kritisiert nicht nur Heine, sondern auch die Journalisten, die über bestimmte Ereignisse nicht berichten würden:

»Die hurtigen Berichterstatter der hurtigen Zeitungen, die sich doch mit so jäher Begeisterung dem Unheil zuwenden und mit so großen Lettern die Katastrophen, die sich abspielen, zu geschilderten Katastrophen potenzieren, haben merkwürdigerweise manchmal die Neigung, den Donner, der einen Schrecken kündet, zu überhören und den Flammenschein einer unwahrscheinlichen Feuersbrunst zu übersehen« (JR Werke 3, 1930: 276).

Hier beklagt Roth, dass Journalisten nicht aufklären würden, nicht die Themen auswählen und publizieren würden, die informativ und für die (betroffenen) Menschen relevant sind. Roth spricht implizit die Rollenkonflikte an, in denen sich Journalisten befinden – und auch ethische Fragen, wie Max Webers Unterscheidung zwischen Verantwortungs- und Gesinnungsethik, wenn es darum geht, dass sich Journalisten dessen bewusst sein müssen, dass ihre Handlungen auch Folgen haben können und dass sie die Folgen ihres Tuns tragen müssen (Weber 1999). Diese journalistische Verantwortung wird von Roth thematisiert, wenn er schreibt, dass das Dorf »nicht nur umgebracht, sondern auch totgeschwiegen« (JR, Werke 3, 1930: 276) wurde; und nicht nur das, sondern: »Die nackten Tatsachen in ihrem grauenhaften Ausmaß zu berichten, verhinderte wahrscheinlich einfach die Furcht« (JR Werke 3, 1930: 277). Die Furcht davor, darüber zu berichten, bezieht sich vermutlich auf den Konzern IG Farben – der bis zum Zweiten Weltkrieg eines der größten Chemieunternehmen weltweit war. Westermann schreibt in seinem Nachwort, dass »Vertreter der IG Farben massiven Einfluß auf den Herausgeber [der Frankfurter Zeitung ausübten, P.H.], als Roth die Leunawerke als Giftgas-Produzenten attackierte. Vermutlich pfiff die Redaktion ihren Reporter sogar von der Harzreise zurück, denn die Artikelserie bricht plötzlich und unvermittelt nach drei Folgen ab« (Westermann 1991: 1073). Kröhnke weist aber darauf hin, dass nicht zu belegen sei, ob dies tatsächlich so war oder ob sich die Vermutung von Westermann nur auf einen Brief Roths an seine Schwiegermutter bezieht, in dem er fünf Briefe aus dem Harz angekündigt hatte (vgl.Westermann 1991; Kröhnke 1998).

In seiner Merseburg-Reportage schildert Roth nicht nur die Zerstörung der Landschaft, sondern beschreibt auch, dass der Friedhof bzw. die Toten umgesiedelt worden seien. Er lässt dabei einen Arbeiter zu Wort kommen, der in der direkten Rede zitiert wird. Dieser bestätigt, dass der Friedhof übersiedelt worden sei. In dem Artikel kommentiert Roth auch die Situation der Bauern, die ihren Besitz verkauft hatten: »Aber der Krieg kommt, die Inflation, die sicheren Papiere lösen sich auf, die hungrige Weltwirtschaft schreit immer heftiger nach Kali und Kohle, die Besitzer fangen an, das Dorf Runstedt niederzureißen. Die Bauern ziehen mittellos weiter hinein ins Land, mit wertlosen, sicheren Papieren« (JR Werke 3, 1930: 280). Die unterschiedlichen gesellschaftlichen Entwicklungen werden miteinander verwoben, das Politische und Soziale miteinander verschränkt und die Folgen reflektierend eingebettet.

Joseph Roths journalistisches Verständnis ist stark geprägt von einem literarischen Zugang, wie ihn Herodot und Heinrich Heine hatten. 1921 schreibt Roth über das »Feuilleton« als Reaktion auf die »Kothurn [5] -Pathetiker« (JR Werke 1, 1921: 617), dass diese zwar Grammatik gelernt hätten, aber von ihnen auch das Unglück käme, denn sie seien Prediger und Entrüstete (JR Werke 1, 1921: 617): »Es gibt nämlich ganz entsetzliche Feuilletonisten. Aber das sind eben die Konduktpferde. Die Pathetiker, die zufällig unter den Strich geraten. Die Leichenbeschauer mit den erborgten Narrenschellen« (JR Werke 1, 1921: 618). Joseph Roth verwahrt sich gegen klischeehafte Beschreibungen, und an dieser Stelle wird auch deutlich, wie schwierig es ist, Joseph Roths Werk zu klassifizieren. Nach Kröhnke sei es kaum möglich, bei Roth die unterschiedlichen Gattungen »Reportage, Feuilleton, Reisebild scharf zu unterscheiden« (Kröhnke 1998, Fußnote 1: 121). Darauf verweist auch Rossbacher, der sich mit den apokalyptischen Phantasien im Merseburger Zauberspruch von Roth befasst hat (vgl. Rossbacher 1991) und eine Parallele zieht zwischen Roths Kritik an der durch Technisierung zerstörten Umwelt und dem zerstörerischen Wirken des Nationalsozialismus. Die gesellschaftlichen Entwicklungen beobachtete Roth sehr präzise, die Widersprüche des industriellen Fortschritts hat er in vielen Artikeln thematisiert.

1921 schreibt Roth über Heinrich Heine und seine Reisebriefe:

»Die Leute sagen: Heine hat das Feuilletonunheil in die Welt gebracht. Heines Reisebriefe sind aber nicht nur amüsant, sondern eine künstlerisch große Leistung und somit eine ethische. Der entartete Homo sapiens hätte zehn Jahre die Pariser verschiedenen Statistiken studiert und dann ein langweiliges, also unmoralisches Buch geschrieben. Heine hat vielleicht kleine Tatsachen umgelogen, aber er sah eben die Tatsachen so, wie sie sein sollten. Denn sein Auge bestand nicht nur aus optischem Instrument und Sehsträngen. Wenn das ›bürgerlich‹ ist, so ist ›bürgerlich‹ sehr ethisch. Dann lebe das Bürgertum! Herodot, der Feuilletonist des Altertums, war auch ein Bourgeois?« (JR Werke 1, 1921: 617)

Joseph Roth und Heinrich Heine war gemeinsam, dass beide – wie Bronsen schreibt – sowohl ein starkes Mitteilungsbedürfnis hatten als auch ein großes Interesse an den politischen Entwicklungen (vgl. Bronsen 1974).

Für Todorow ist Roth vor allem ein politischer Journalist, »der vorgibt, unpolitisch zu schreiben, aber desto wirksamer seine Leser erreicht« (Todorow 1990: 380) und der durch den Einsatz unterschiedlicher ästhetischer Mittel – wie sehr anschaulicher Bild-Gestaltungen – »die Register der politisch-intellektuellen Semantik« [zieht], »um die Wahrnehmung der Leser unter der sich abzeichnenden Vernarbung, nicht aber Verarbeitung des Versailles-Traumas, des Traumas der Inflation und des Traumas mediokrer republikanischer Alltagsverhältnisse wach zu halten, wenn nicht überhaupt erst aufzurütteln« (Kucher 2011: 224).

Das Nebeneinander von Journalismus und Literatur ist in Roths Werk jederzeit spürbar. Für Roth steht die erlebte Wirklichkeit in einem engen Zusammenhang mit der literarischen, da durch die Literatur den Handlungen »gelegentlich eine Pointe« (JR, Werke 1, 1922: 712) verliehen werde und diese Pointen »die« Wirklichkeit besser zum Vorschein kommen lassen würden. Roth analysiert und beurteilt die von ihm beobachteten Situationen. Seine journalistischen Texte wollen nie belehren, sondern immer nur aufklären.

Autopsie, Analyse und Aktualität: Joseph Roths journalistisches Wirken

Joseph Roth, der genaue Beobachter und »Prosector«, der in seinen journalistischen Arbeiten unterschiedliche Quellen verwendete und dessen Zugang Haas als eine Art von »Autopsie« (1999: 271) charakterisiert hat, gelangte von der Innen- zur Außensicht und zeigte die Diskrepanzen und Widersprüchlichkeiten auf. Er geht »sorgfältig wie ein Zeitungsreporter (Bienert 1992: 151) vor und verdichtet »[i]m künstlerischen Bericht […] Faktenmaterial, atmosphärische Impressionen und Reflexionen« (Bienert 1992: 151). Sowohl die politischen Vorgänge als auch das Handeln einzelner Akteure wird nicht nur beschrieben, sondern auch in einen gesellschaftlichen Kontext gestellt. Im Artikel »Das Dritte Reich, die Filiale der Hölle auf Erden« schreibt Joseph Roth aus seinem französischen Exil – verzweifelnd daran, dass die Journalisten wenig gegen das Regime in Deutschland ausrichten könnten:

»Denn wenn man weiß, daß die Aufgabe der deutschen Presse darin besteht, nicht Tatsachen zu veröffentlichen, sondern sie zu verheimlichen; Lügen nicht nur zu verbreiten, sondern auch zu suggerieren; […] Wenn man Goebbels eine geniale Leistung anmerken soll, so diese: Er hat es vermocht, die offizielle Wahrheit genauso hinken zu lassen, wie er selber hinkt. Seinen eigenen Klumpfuß hat er der offiziellen deutschen Wahrheit verliehen. Es ist kein Zufall, sondern ein bewußter Witz der Geschichte, daß der erste deutsche Propagandaminister hinkt […]« (JR, Werke 3, 1934: 508f).

Joseph Roth war ein zutiefst politischer Journalist, der bereits sehr früh die Gefahr des Nationalsozialismus erkannt und dagegen angeschrieben hat – letztendlich vergeblich. Sein Verständnis von Journalismus war geprägt von Introspektion, einer genauen Beobachtung, das Soziale immer einbeziehend, die gesellschaftlichen und technologischen Entwicklungen ambivalent beurteilend. Letztendlich ein Journalist, der sich immer einer aufgeklärten Öffentlichkeit verpflichtet gefühlt hat.

Seine journalistischen Beiträge sind aktuell, indem sie Mechanismen aufzeigen, wie sich Menschen instrumentalisieren lassen, welche Rolle Journalisten, Politik und Öffentlichkeit spielen, wie sich gesellschaftliche Entwicklungen auf den Einzelnen auswirken können und wie Inhumanitäten aufgezeigt werden können.

Am 27. Mai 1939 starb Joseph Roth in einem Armenkrankenhaus in Paris.

Über die Autorin

Petra Herczeg (*1966) PD Dr., Vizestudienprogrammleiterin und Senior Lecturer am Institut für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft der Universität Wien. Forschungsschwerpunkte: Migration und Medien; Interkulturelle Kommunikation und Journalismusforschung. E-Mail: petra.herczeg@univie.ac.at

Literatur

Primärliteratur

Sämtliche Texte von Joseph Roth sind der sechsbändigen Werkausgabe entnommen und werden im Text zitiert mit: JR, Werke 1; JR, Werke 2 und JR, Werke 3.

Joseph Roth: Werke 1. Das journalistische Werk 1915 – 1923. Hrsg. v. Klaus Westermann. Köln [Kiepenheuer & Witsch] 1989

Joseph Roth: Werke 2. Das journalistische Werk 1924 – 1928. Hrsg. v. Klaus Westermann. Köln [Kiepenheuer & Witsch] 1990

Joseph Roth: Werke 3. Das journalistische Werk 1929 – 1939. Hrsg. v. Klaus Westermann. Köln [Kiepenheuer & Witsch] 1991

Sekundärliteratur

Bienert, Michael (1992): Die eingebildete Metropole. Berlin im Feuilleton der Weimarer Republik. Stuttgart, J.B. Metzler

Bronsen, David (1974): Joseph Roth. Eine Biographie. Köln, Kiepenheuer & Witsch

Chambers, Helen (2013): Zeichen der Zeit: Aufsätze zur Reportage von Joseph Roth. Schriftenreihe der Internationalen Joseph Roth Gesellschaft in Wien

Eichner, Heiner; Nedoma, Robert (2014): Die Merseburger Zaubersprüche. Online: https://www.univie.ac.at/an/publ/publ3044zf.pdf

Haas, Hannes (1999): Empirischer Journalismus. Verfahren zur Erkundung gesellschaftlicher Wirklichkeit. Wien/Köln/Weimar, Böhlau

Hackert, Fritz (2013): Vorwort. In: Chambers, Helen: Zeichen der Zeit: Aufsätze zur Reportage von Joseph Roth. Schriftenreihe der Internationalen Joseph Roth Gesellschaft in Wien, S. 5-6

Kröhnke, Karl (1998): Signum Ex Avibus? Joseph Roths «Harzreise« und seine Reise durch die Harzreisen anderer Harzreisender. In: Neuphilologus 82, S. 107-124. doi:10.1023/A:1004259208992

Kucher, Primus-Heinz (2011): »Warenhäuser, Rummelplätze, Walkürenjungfrauen«. Zu Joseph Roths Berliner Bilderbuch-Feuilletons (1924). In: Lughofer, Johann, Georg; Zalaznik Miladinovic Mira (Hrsg.): Joseph Roth. Europäisch-jüdischer Schriftsteller und österreichischer Universalist. Berlin, de Gruyter, S. 221-231

Mergenthaler, Volker (2014): Wie lange noch, o Catilina?« Joseph Roths Reportagen über den Prozess »gegen die in die Mordaffäre Rathenau verwickelten Personen«. In: Brömsel, Sven; Küppers, Patrick; Reichhold, Clemens (Hrsg): Walther Rathenau im Netzwerk der Moderne. Berlin, News York, De Gruyter, S. 87-110

Oei, Bernd (2012): Joseph Roth. Der verbrannte Himmel: Metaphysik des Zweifels. Berlin, Lit Verlag

Ortheil, Hanns-Josef (1992): Ich zeichne das Gesicht der Zeit. Eine neue Roth-Werkausgabe. In: Die Zeit (8) v. 14.2.1992, S. 67

Pott, Hans-Georg (2016): Rezension: Sven Brömsel, Patrick Küppers, Clemens Reichhold (Hg.): Walther Rathenau im Netzwerk der Moderne. Berlin, Boston: de Gruyter 2014. In: Musil-Forum. 331 über Roth, sonst: 330-337

Rossbacher, Karlheinz (1991): »Der Merseburger Zauberspruch«. Joseph Roths apokalyptische Phantasie. In: Chambers, Helen (Ed.): Co-Existent Contraditions. Joseph Roth in Retrospect. Papers of the 1989 Joseph Roth Symposium at Leeds University to commemorate the 50th anniversary of his death. Riverside, Ariadne Press, S. 78-106

Todorow, Almut (1990): Brechungen: Joseph Roth und das Feuilleton der »Frankfurter Zeitung«. In: Kessler, Michael; Hackert, Fritz (Hrsg.): Joseph Roth. Interpretation, Kritik, Rezeption. Stuttgart: Stauffenburg, S. 373-384

Von Sternburg, Wilhelm (2009): Joseph Roth. Eine Biographie. Köln, Kiepenheuer & Witsch

Wagner, Karl (2011): Joseph Roths Kritik des homo academicus. Ein Beitrag zur Intellektuellendebatte. In: Lughofer, Johann Georg; Zalaznik Miladinovic, Mira (Hrsg.): Joseph Roth. Europäisch-jüdischer Schriftsteller und österreichischer Universalist. Berlin, de Gruyter, S. 231-243

Weber, Max [1919] (1999): Politik als Beruf. Stuttgart, Reclam

Westermann, Klaus (1987): Joseph Roth, Journalist. Eine Karriere 1915-1939. Bonn, Bouvier Verlag Herbert Grundmann

Westermann, Klaus (1989): Nachwort. In: Joseph Roth. Werke 1. Das journalistische Werk 1915-1923. Köln, Kiepenheuer & Witsch, S. 1109-1116

Westermann, Klaus (1991): Nachwort. In: Joseph Roth. Werke 3. Das journalistische Werk 1929-1939. Köln, Kiepenheuer & Witsch, S. 1071-1078

Fußnoten

1 Joseph Roth hat es nicht mehr erlebt, aber Steinhof in Wien war kein »warmes Plätzchen« in der NS-Zeit, sondern wurde im Gegenteil zu einem Ort des Schreckens und des Grauens: Zum Zentrum der NS-Medizinverbrechen. Vgl.: http://gedenkstaettesteinhof.at/de/ausstellung/wien-steinhof

2 Das Verdeck des Wagens von Rathenau war zurückgeschlagen.

3 Roth bezieht sich hier auf Carl Wilhelm Severing, einen sozialdemokratischen Politiker. Zwischen 1928 und 1930 war Severing Reichsinnenminster.

4 Die Merseburger Zaubersprüche sind in althochdeutscher Sprache erhaltene Texte und es sind zwei Strophen, die sich einerseits auf die Befreiung eines Gefangenen beziehen (Lösezauber) und darauf, dass ein verrenkter Pferdefuß geheilt wurde (Heilzauber) (vgl. Eichner/Nedoma 2014).

5 Bildungssprachlich: hochtrabend. Interessant ist, dass Roth hier eine Tautologie verwendet, da das Wort Kothurn auch mit pathetisch assoziiert werden kann.


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Zitationsvorschlag

Petra Herczeg: »Die Weltgeschichte kümmert sich zu wenig um Sonnenstrahlen«. Die politische und soziale Dimension im journalistischen Werk von Joseph Roth. In: Journalistik, 2, 2019, 2. Jg., S. 118-133. DOI: 10.1453/2569-152X-22019-9852-de

ISSN

2569-152X

DOI

https://doi.org/10.1453/2569-152X-22019-9852-de

Erste Online-Veröffentlichung

Oktober 2019