Michael Haller (2020): Die Reportage. Theorie und Praxis des Erzähljournalismus

Rezensiert von Steven Thomsen

Bereits vor über 30 Jahren hat der Geist dieses Buches den langen Marsch durch die Institutionen angetreten. Frauen und Männer im Printjournalismus, denen in Studium oder Ausbildung Michael Hallers Die Reportage an die Hand gegeben wurde, lehren und forschen heute selbst, stehen Ressorts und Redaktionen vor, leiten Volontär*innen an oder bilden Redakteur*innen und Reporter*innen weiter. Und wie damals ihre Profs stellen sie nun ihrerseits Hallers Schulungsbuch in den Semesterapparat oder unterweisen den beruflichen Nachwuchs darin, anschauliche, informative, subjektiv gefärbte und zeitgeschichtlich relevante Reportagen anhand dessen zu erstellen, was ihnen das 1987 erstmals erschienene Werk einst selbst vermittelt hat.

Das Buch passt sich den Veränderungen und Herausforderungen der Zeit an. Es liegt nun in siebter Auflage vor. Michael Haller hat seinen Text dafür nach 1995 erstmalig wieder überarbeitet – diesmal gar komplett. Das bedeutet, dass er sich dabei auch an der Statik des Bandes zu schaffen gemacht hat, indem er im Vergleich zur vorangegangenen Auflage (2008) einen ganzen Teil heraus- und dafür einen neuen Abschnitt zum »Fall Relotius« aufgenommen hat.

Das betont anschaulich gehaltene Buch ist nach wie vor in einen historisch-theoretischen Teil, der die Entwicklung zur modernen Reportage nachzeichnet, und in einen praktischen Abschnitt gegliedert. Zahlreiche Passagen sind umgeschrieben, aktualisiert und straffer formuliert, Zwischenüberschriften erleichtern die Lektüre zusätzlich. Bislang mit jeder weiteren Auflage übernommene Flüchtigkeitsfehler sind ausgemerzt (neue allerdings hinzugekommen); dass das drastisch zusammengestrichene Sach- und das lückenhafte Personenregister jetzt als ein gemeinsamer Index vorliegen, ist für ein Lehr- und Übungsbuch nicht optimal gelöst. Dennoch bleibt Hallers Leitfaden ein Standardwerk zur Reportage.

Der Autor, bis zu seiner Emeritierung im Jahr 2010 Journalistikprofessor an der Uni Leipzig, will mit der Neuauflage den immensen digitalen Möglichkeiten, über die Reporter*innen seit nunmehr zwei Jahrzehnten bei ihrer Recherche verfügen, ebenso Rechnung tragen »wie dem Wandel der politischen Kultur. Darin ist der Journalismus Subjekt und Objekt des Medienwandels« (Haller 2020: 12). Hauptanlass für den Umbau seines Buches ist für Haller aber der »Fall Relotius«. Mit dem durch den ehemaligen SPIEGEL-Redakteur Claas Relotius etablierten System »des verfälschenden Storytelling« (Haller 2020: 100) sei die komplette Branche in eine Schockstarre verfallen: »Der Erzähljournalismus steckt in einer Krise« (Haller 2020: 11). Dabei sei dieser doch die Krone des Schaffens im Printbereich. Oder, um es mit den Worten des großen Hans Habe zu sagen: »Journalisten mögen Handwerker sein, Reporter sind Künstler« (Habe 1976: 370). Künstler wie Heine, Kisch oder Roth, die sich mit ihren Arbeiten über die tagesgebundene Sachdarstellung erhoben haben.

Haller weist in diesem Zusammenhang auch darauf hin, dass in den Vereinigten Staaten die literarisierte Form der Berichterstattung eine lange Tradition hat und sich ihre Anerkennung und Akzeptanz, anders als in Deutschland, nicht immer wieder aufs Neue erstreiten muss. So nannten die US-amerikanischen Literaturprofessoren Robert L. Root und Michael Steinberg ihre Anthologie zur »creative nonfiction« nicht von ungefähr The Fourth Genre (1999) – das vierte Genre. Sie gestehen »creative nonfiction« denselben Rang zu wie Dramatik, Epik und Lyrik und erheben sie somit en passant zu einer vierten Hauptgattung der Literatur.

Seit den Fälschungsenthüllungen um Claas Relotius verkomme die Reportage in deutschen Zeitungen und Magazinen zusehends zur fakten- statt empfindungsreichen Darstellungsform, so Haller. Dabei diene die Erzählung doch »dem Zweck, das Publikum an bemerkenswerten Beobachtungen und Erlebnissen geistig und emotional teilhaben zu lassen« (Haller 2020: 109). Die Mittel dafür sind: Figuren zum Leben zu erwecken, Räume und Begebenheiten zu visualisieren sowie die zeitlichen Abläufe dramaturgisch zu strukturieren.

Indem er das Schreiben wider das »oberflächliche Faktizieren« (Haller 2020: 11) wieder einfordert, bestreitet Haller allerdings indirekt, dass der Erzähljournalismus schon vor Relotius nicht in der besten Verfassung war. Zwar erklärt der Autor richtigerweise: »Falschdarstellung von Sachverhalten gibt es, seitdem es Journalismus gibt« (Haller 2020: 97). Auch dass es die bewusste Täuschung bei Zeitungsmachern lange vor Relotius gab, erwähnt er. Doch die Reportage auch in den großen Zeitungen und Zeitschriften krankt seit Jahrzehnten an etwas anderem: Sie langweilt zu oft. Das, was die Autorinnen und Autoren in ihren Texten an wirklich Wichtigem zu sagen haben, das, was sich nach der Lektüre auf einen Küchenzuruf herunterbrechen ließe, steht oft genug in einem Missverhältnis zur Länge des Artikels, zum erzählerischen »Anlauf«, den die Reportage oder auch das Feature nimmt, und zur Selbstgefälligkeit und Schwerfälligkeit so mancher Berichtender. Merkmale dafür sind unter anderem:

  • belangloses Beschreiben von Äußerlichkeiten;
  • holzschnittartige Figurenführung;
  • ermüdender Lapidarstil (wer sich auf die Lektüre einer Reportage einlässt, ist auch bereit, mittelange Sätze zu lesen, bedarf ihrer sogar);
  • formelhafte Dramaturgie;
  • fehlende Zuspitzung kritischer Gedanken;
  • die Angst, mit einer provokanten These anzuecken;
  • mangelnde Einbettung des episodenhaft Dargestellten in größere Zusammenhänge.

Im schlimmsten Falle hat das Publikum nach dem Lesen eines Artikels das Gefühl, seine Zeit mit Kolportagehaftem vertändelt zu haben. Das ist weit entfernt von dem, was Haller unter gelungenem Storytelling versteht und wohin er zurückkehren möchte. Er fordert die fein austarierte Balance aus aufmerksam Erlebtem, sorgfältig Recherchiertem und kunstvoll Wiedergegebenem. Doch dafür bedarf es außergewöhnlich begabter und sorgsam ausgebildeter Frauen und Männer. Michael Hallers Buch ist jedenfalls auch in seiner siebten Auflage dazu angetan, solchen Talenten den Weg in die richtige Richtung zu weisen. Gehen müssen diese ihn am Ende aber selbstverständlich allein.

Über den Rezensenten

Steven Thomsen, M. A., geb. 1969, ist freier Journalist und Autor. Seit den 1990er-Jahren veröffentlicht er Beiträge in Zeitungen und Zeitschriften wie Computerwoche, Die Welt, Management und Training, Westfälische Rundschau, Stuttgarter Zeitung, Darmstädter Echo, Rheinische Post oder PublikForum. Derzeit arbeitet der studierte Literaturwissenschaftler an einem Buch über Leben und Werk Norman Mailers, das voraussichtlich im Herbst 2022 erscheint.

Literatur

Habe, Hans (1976): Leben für den Journalismus (Bd. 1). München/Zürich: Droemer Knaur.

Root, Jr., Robert L./Steinberg, Michael (Hrsg.) (1999): The Fourth Genre: Contemporary Writers of/on Creative Nonfiction. Boston/London/Toronto/Sydney/Tokio/Singapur: Allyn and Bacon.

ÜBER DAS BUCH

Michael Haller (2020): Die Reportage: Theorie und Praxis des Erzähljournalismus. 7. komplett überarb. Auflage. Köln: Herbert von Halem, 312 Seiten, 26,- Euro.