Reflektiert und diskutiert man heutzutage, in der womöglich noch anfänglichen Phase der digitalen Entwicklung, wie Kinder und Jugendliche mit ihr, in ihr und sie selbst realisierend aufwachsen, dürften viele Dimensionen und Aspekte präsent werden – mutmaßlich auch solche, die dem vielfach beschworenen, radikalem Wandel gerecht werden. Und sicherlich sind dabei auch normative Entscheidungen zu fällen und Erziehungsfragen zu lösen, allerdings auf der Höhe der Zeit – was bei vorliegendem Reader nur selten der Fall ist.
Denn problematisch bzw. bereits erodiert ist schon der meist verwendete, traditionelle Medienbegriff, der insgeheim noch an die Technisierung öffentlicher Kommunikation, an Massenkommunikation und Massenmedien, also an Rezeption und Aneignung professionell produzierter Inhalte sowie formell verfügbarer Push-Geräte erinnert. Ebenso überholt erscheinen auch die pauschalen Termini »Kindheit« und »Jugend«, die bekanntlich als Artefakte von Jurisprudenz und Pädagogik im 19. und 20. Jahrhundert erfunden wurden und heute so nur noch institutionell verwendbar sind. Unter empirisch-analytischer Perspektive müssen sie in den aktuellen pluralistischen Gesellschaften vielfältig sozial, kulturell, ethnisch und geschlechtsspezifisch differenziert werden; gerade auch die technisch-medialen Gegebenheiten und Prägekräfte treiben sie noch weiter auseinander.
Daher dürften den praktisch pädagogisch Tätigen – den Eltern wie den professionell Handelnden – viele Anforderungen und Belastungen seitens der digitalen Geräte und ihrer Nutzung einfallen oder sich ihnen aufdrängen, die sie zu bewältigen haben, vielfach auch überfordern, sie ratlos lassen. Abstrakte ethische Debatten und Modelle über Verantwortung, normative Grundlagen und Begründungen medialen Handelns, zur »ethisch informierten Medienbildung« und Medienkompetenz oder gar über die basale medienanthropologische Beschaffenheit des Menschen (vgl. M. Rath) dürften da kaum weiterhelfen.
Solche gegenstands- und intentionsbezogene Analyse und (Selbst-)Reflexion – wenigstens einführend – vermisst man bei den 24 Beiträgen (samt Einleitung) schmerzlich. Sie gehen auf eine gleichnamige Tagung an der Münchener Hochschule für Philosophie im Februar 2018 zurück, wollen zugleich den dort ehemals lehrenden Theologen und Medienethiker, Rüdiger Funiok, als »zentralen Wegbereiter der Kommunikations- und Medienethik im deutschsprachigen Raum« (14) anlässlich seines 75. Geburtstag ehren und den 20. Jahrestag des von ihm mit begründeten »Netzwerkes Medienethik« würdigen.
Dabei gewinnt man den Eindruck, Medienethik sei inzwischen eine recht abgeschottete, nach innen gerichtete Spezialdisziplin, die ihre eigenen Paradigmen, Ansätze und Debatten abstrakt kultiviert und selbstreferentiell debattiert, nur hin und wieder den Blick nach draußen, in die soziale und digital-virtuelle Realität, wagt. So loben etliche Beiträge des ersten Abschnitts, dass mit ihrer Etablierung als pragmatische, angewandte Bereichsethik die Publikums- und Rezipientenethik – im Gegensatz zur früheren Produzenten- und Journalismusethik – in den Vordergrund gerückt sei.
Doch ob diese Kategorien in der Ära von Shitstorms, Hetztiraden, Stalking-Kampagnen, Filterblasen, pornografischem Missbrauch, personalisierter Werbung, von der längst eingetretenen Auflösung zwischen privater und öffentlicher Kommunikation, von internationalen IT-Monopolkonzernen, von Userplattformer, Blogs, Youtube, Instagram-Influencer etc. überhaupt nach angemessen sind – was ist Publikum und was ist Rezipient? – und ob sich mit ihnen der vorgeblich aktive User, den man souverän, autonom, selbstbestimmt, mündig, kritisch und kompetent mit Smartphone, Tablet, IPad, Social Media, Apps und diversen Plattformen agieren sehen will, adäquat wahrgenommen und definiert wird, wird allenfalls mal am Rande, gewissermaßen deklamatorisch, gefragt, aber in der weiteren Argumentation weitgehend ignoriert. Ethische Anforderungen an und Aufgaben für Produzenten und Provider werden nur sporadisch beachtet, systematisch allein in einem kurzen Abschnitt des einleitenden Beitrags Funioks, unter der knappen Maxime »Kundendaten transparent verwalten und Steuern zahlen – die Verantwortung der Medienunternehmen«. Das ist zu wenig!
Irritierend sind auch Formulierungen, die Pädagogik zur Intervention in alltägliches Handeln verkürzen und in objektivierender Weise fordern, Medienkompetenz gewissermaßen wie abstraktes, kompaktes Wissen samt ethischer Fundierung ex cathedra zu vermitteln. Der vielfach berufene Bezug auf einen der Begründer von Medienkompetenz, nämlich auf den Bielefelder Dieter Baacke, ist dafür ebenso wenig angebracht. Denn seinen Kompetenzbegriff leitete er ursprünglich vom sprachlichen von Noam Chomsky wie vom kommunikativen von Jürgen Habermas ab, die beide davon ausgehen, dass das Individuum per se zur Kommunikation fähig ist und sie mit seiner Entwicklung und Sozialisation, mit der Aneignung der symbolischen, auch technisch-medialen Welt, weiter entwickelt.
Kompetenz muss mithin sowohl als immer schon gegebene wie auch als sich selbst entwickelnde Fähigkeit konzipiert werden – eine Prämisse, die Erwachsene bei Kindern – und zwar von klein auf – auch im selbstlernenden Umgang mit digitaler Kommunikation, beim learning bzw. comunicating by doing, ständig beobachten können. Andere Beiträge befassen sich umgekehrt sehr allgemein mit ethisch-normativen und pädagogischen Fragen, suchen neue Paradigmen in der Begründung von Kinderrechten, von Haltung oder einer narrativen Ethik und thematisieren mediale Dimensionen mehr oder weniger nur als probate Anschauungsfelder.
In drei Abschnitte sind die Beiträge gegliedert: in einen der »theoretischen Grundlagen«, dessen fünf Beiträge besagte Prämissen und Postulate diskutieren, in den umfänglichsten für die »Anwendungsbereiche«, deren dreizehn Beiträge drei gänzlich unterschiedliche, offenbar willkürlich gewählte Sektoren, nämlich »Spiele und Unterhaltung«, »Überwachung und Fürsorge« sowie »Wahrhaftigkeit, Wirklichkeit und Virtualität«, behandeln, und schließlich in einen dritten, deren weitere fünf Beiträge mit »Folgen für Gesellschaft, Politik und Bildung« überschrieben sind.
Wiederum theoretisch beginnt der zweite Abschnitt, mit Ausführungen zu Theorien zur Unterhaltung sowie zu einer allgemeinen Ethik der Medienunterhaltung. Sie wird als prinzipiell »prekär« (111) erachtet, da sie sich dem Postulat der Verantwortung nicht entziehen kann. Und »spezifisch prekär« (113) bleibt sie für Kinder und Jugendliche, woraus sich »besondere Schutzbedürfnisse und Bildungsansprüche« (ebd.) ergeben. Diesen Beitrag unterstützt der übernächste, der einen Streifzug durch die Philosophiegeschichte und deren jeweilige Sichtweisen auf das Spielen bzw. die Kreativität liefert. Davor werden digitale Spiele, die so genannten »serious games«, als Lernmedien thematisiert, die für ethische Fragen kaum zu beanstanden sind. Sie spezifizieren die zwei folgenden Beiträge, die sich mit den Potenzialen digitaler Spiele für die Medienbildung und Werteerziehung anhand ausgewählter Spiele befassen. Aktuelle Kontroversen um die Onlinespielesucht, wie sie auch die WHO anklagt, greift der letzte Beitrag auf und argumentiert, dass sich die Kriterien zu stark am pathologischen Glückspiel orientieren und das soziale Umfeld des Spielenden zu wenig berücksichtigen.
Dass sich digitalen Technologien perfekt und bedrohlich für Kontrolle und Überwachung vermeintlich gefährlicher oder auch nur unzuverlässiger Menschen einsetzen lässt, zeigt kein anderer Staat so massiv und menschenverachtend wie China. Hierzulande werden solche Einsatzzwecke sehr zurückhaltend angewendet und vorrangig kritisiert. Warum sie hier als zweites medienethisches Anwendungsfeld thematisiert werden, hätte zumindest einer ausführlichen Begründung bedurft. Stattdessen räsoniert der erste Beitrag über das Verhältnis von Fürsorge und Überwachung und ihre mögliche Grenzen. Am Ende fordert er, dass die Überwachungsmethoden »kontext-, situations- und beziehungskompatibel« sein müssen (195).
Dieser Intention assistiert der nächste Beitrag mit dem Paradigma des »Gängelbandes« und kreist erneut um den Doppelcharakter von Kontrolle und Überwachung. Abermals weit weg vom Reader-Thema, in theoretischer Abstraktion, erörtert der folgende Beitrag die Entwicklung und Gefährdung von Privatheit in »algorithmisch organsierten Überwachungsgesellschaften« (211). Konkreter befasst sich der nächste mit Gefahren und Risiken für Kinder und Jugendliche aus dem Bereich der IT-Sicherheit und fordert ihre Bildung als essentiellen Teil der Lösung, wie sie der Chaos Computer Club e.V. mit seiner Initiative »Chaos macht Schule« anbietet.
Im letzten Abschnitt geht es um »Wahrhaftigkeit, Wirklichkeit und Virtualität«. Die versteht der erste Beitrag als »Herausforderung der Identitätsbildung Heranwachsender im digitalen Raum« (237), da dieser lediglich kollektive Bewertungsmechanismen allgemeiner Kategorien wie Likes, Shares, Aufrufen etc. zulässt und dadurch die Ausbildung personaler Identität behindert. Welche Herausforderungen Influencer- und Content-Marketing via Social Media für Kinder und Jugendliche bedeutet, beleuchtet der nächste Beitrag, allerdings auch nicht empirisch-konkret, sondern wiederum als medienethisches Problem. Demgegenüber bleibt der letzte Beitrag gänzlich deskriptiv, indem er skizziert, wie sich mit Technologien für erweiterte Realitäten (virtual, augmented, mixed reality) Lernszenarien und die »Entwicklung einer neuen Aufgabenkultur« (269) realisieren lassen.
Endlich, in die aktuelle Bildungsthematik nüchtern einzuführen, wagt der erste Beitrag des letzten Abschnitts, der die »Folgen für Gesellschaft, Politik und Bildung« thematisieren soll: Denn er stellt grundsätzlich die von Mark Prensky 2001 getroffene und hierzulande begierig verbreitete Unterscheidung zwischen Digital Natives und Digital Immigrants in Frage und fordert die präzisere, realistische Wahrnehmung einschlägiger Fähigkeiten und Nutzungsgewohnheiten, die zum einen für eine Generation keineswegs homogen sind, zum anderen durchaus generationenübergreifend sein können. Vielfältige Konzepte, etwa fallweise Mentoren, sollen gerade für den 2019 anlaufenden Digitalpakt zwischen Bund und Ländern ausprobiert und angewendet werden.
Diese pädagogisch-didaktischen Zielsetzungen unterstützen die beiden nächsten Beiträge: einmal, dass für die politische Bildung gefordert und expliziert wird, dass Jugendliche mit den sich neu bildenden Medien und ihren Informationen sachgerecht, aber auch kritisch umgehen, da sie sich nicht mehr auf die Qualität und Wahrhaftigkeit des klassischen Journalismus verlassen können; zum anderen dass in die Lehrerausbildung der Einsatz digitaler Medien sowie die Reflexion ihrer gesellschaftlichen und normativen Dimensionen inkludiert werden, so dass eine authentische Nutzungsteilhabe möglich wird. Ein Bericht über eine qualitative Befragung von älteren Jugendlichen und jungen Erwachsenen im nächsten Beitrag unterstützt diese bildungspolitischen Anstrengungen. Schließlich zeigt der letzte Aufsatz, dass humoristische Zugänge, etwa Bild- und Wortwitze, auch Anstöße für medienethische Reflexionen sein können. Medienethische Probleme werden mithin in diesem Abschnitt nur gestreift.
»Wer (Person, Institution) trägt wofür (Handeln, Unterlassen) wem gegenüber (Betroffenen, Share- und Stakeholder) weswegen (Normen und Werte) wovor (eigenes Gewissen, Öffentlichkeit) Verantwortung« (32) – postulierte Funiok einleitend als Leitfaden für die Begründung und Orientierung von ethisch korrektem Handeln, auch für die Medienethik. Dafür gibt es inzwischen etliche Handbücher und Ratgeber. Wenn der vorliegende Band es erneut für Kinder und Jugendliche in der beginnenden digitalen Ära reformulieren und ausbuchstabieren wollte, hat er dies nur ansatzweise geschafft, vieles Relevante übersehen oder sträflich ignoriert, anderes, was nicht unbedingt zielführend ist, überbetont und über Gebühr ausgeführt. Was Medienethik im Zeitalter der Digitalisierung, der Transformation von Medien und Gesellschaft sowie gravierender Fehlentwicklungen für Kinder und Jugendliche konkret bedeutet oder auch nur bedeuten soll, wird durch diesen Reader nicht hinreichend expliziert und begründet. Die aktuellen Debatten signalisieren zumindest weiteren und anderen Bedarf.
Diese Rezension erschien zuerst in rezensionen:kommunikation:medien, 24. Juni 2019, abrufbar unter https://www.rkm-journal.de/archives/21835.
Über den Rezensenten
Hans-Dieter Kübler, geb. 1947, Dr. rer soc., war Professor für Medien-, Kultur- und Sozialwissenschaften an der Hochschule für angewandte Wissenschaften (HAW) Hamburg, Fakultät Design, Medien, Information und ist Erster Vorsitzender des Instituts für Medien- und Kommunikationsforschung (IMKO) e.V. Arbeitsschwerpunkte: Medien- und Kulturtheorie, empirische und historische Medienforschung sowie Medienpädagogik. Zahlreiche Publikationen, zuletzt folgende Bücher: Mediale Kommunikation (2000), Medien für Kinder (2002), Kommunikation und Medien (2003), Mythos Wissensgesellschaft (2005, 2.Aufl. 2009); (Mit-Hrsg.) Wissenschaftliche Zeitschriften heute (2009); (Hrsg.) Bildjournalismus – Grundlagen und Grenzfragen (2010); Interkulturelle Medienkommunikation (2011), zusammen mit Joachim Betz Internet Governance. Wer regiert wie das Internet? (2013). Seit Okt. 2012 Mit-herausgeber der Halbjahreszeitschrift Medien & Altern (München).
Über dieses Buch
Ingrid Stapf, Marlis Prinzing, Nina Köberer (Hrsg.): Aufwachsen mit Medien. Zur Ethik mediatisierter Kindheit und Jugend. Baden-Baden [Nomos] 2019, 363 Seiten, 69 Euro