von Gerret von Nordheim
Abstract: Für Gandhi war Journalismus ein unersetzbares Mittel der Macht in seinem Kampf gegen Unterdrückung. Als Verleger und Redakteur entwickelte er ethische Grundsätze, die in dieser Arbeit systematisiert dargestellt werden. Sie regen noch heute, 150 Jahre nach Gandhis Geburtstag, zur Reflexion an. Gandhis Grundsätze sind nicht die eines Journalisten, der auf einer hypothetischen Ebene die Praxis idealisiert. Und auch nicht die Prinzipien eines Theoretikers, denen unglaubwürdige Utopie anhaftet. Es sind vielmehr die Zeugnisse einer lebenslangen praktischen Auseinandersetzung mit den ethischen Problemen journalistischer Arbeit. Die unbedingte Lesernähe seiner Publikationen – in Form und Inhalt – und die strenge Vermeidung unnötiger Affizierung wirken vor dem Hintergrund einer zunehmend fragmentierten Empörungsöffentlichkeit prophetisch. Anderes mag befremden: Gandhi berichtete selten über das politische Geschehen, das Anzeigengeschäft lehnte er ab, genauso wie die Ausübung des Journalismus als Profession.
»Alle meine Erfahrungen haben mich überzeugt,
daß es keinen anderen Gott gibt als die Wahrheit.«
(Gandhi 1983: 257)
Mohandas Karamchand Gandhi war ein Gottsuchender, ein Wahrheitssuchender, der Gott und die Wahrheit nicht unterschied. In Ahimsa, der Erkenntnis, dass alles Leben seine Vervollkommnung nur in der Liebe findet, sah er den Weg zu jenem Gott der Wahrheit. Diesem Ziel der Selbstverwirklichung galt all sein Streben. Was ihn zu Mahatma Gandhi, der großen Seele, dem gottähnlich Verehrten, der herausragenden Symbolfigur des gewaltlosen Kampfes werden ließ, war jedoch erst die seltene Verbindung dieses unbedingten Strebens mit einem Gefühl für die Wirkung des Medialen. Gandhi war ein Liebling von Reporterinnen und Reportern, ein Opfer der Karikaturisten, ein genialer Inszenator, Propagandist und vor allem: ein leidenschaftlicher Journalist und Herausgeber.
I have taken up journalism not for its sake but merely as an aid to what I have conceived to be my mission in life. My mission is to teach by example and precept under severe restraint the use of matchless weapon of ›Satyagraha‹. (Gandhi, zit. n. Bhattacharyya 1965: 80)
Für Gandhi stand nicht Macht über andere, sondern Selbstbemächtigung an erster Stelle (vgl. Galtung 1987: 170). Dies war eine der Grundbedingungen für Satyagraha, wie er den von ihm praktizierten gewaltfreien Kampf nannte. Gandhi strebte danach, frei zu werden von Leidenschaft in Gedanken, Wort und Tat. Er wollte sich »zur Null machen« (Gandhi 1983: 285). Aus der Selbstbeherrschung, in der er sich beispielsweise während seines Fastens übte, schöpfte er die Kraft, andere zu beeinflussen und Macht auszuüben. Mit weniger drastischen Worten: Selbstbeherrschung war die Voraussetzung dafür, positiven Einfluss nehmen zu können. Und Einfluss nahm Gandhi – der öffentliches Reden vermied – vor allem durch das geschriebene Wort.
Diese Untrennbarkeit von Selbstbeherrschung und Einflusskraft – von Mittel und Zweck – findet ihren Ausdruck in einer Ethik des Journalismus, die Gandhi während seiner Zeit als Herausgeber und Redakteur entwickelte. Seine ethischen Grundsätze sollen hier dargestellt werden. Sie sind, 150 Jahre nach Gandhis Geburtstag, von besonderer Aktualität, denn sie zeigen in Zeiten, da die Haltung von Journalisten und Journalistinnen immer öfter zum Gegenstand öffentlicher Diskussionen wird, einen dritten Weg auf – neben Aktivismus und Objektivismus: Gandhi instrumentalisierte Journalismus für seine Ziele und dennoch – oder gerade deshalb – bemühte er sich, wahrhaftig zu berichten.
Dort wo Gandhi als Journalist tätig war, zunächst in Südafrika, später in seinem Heimatland Indien, waren Zeitungen um 1900 Mittel und Objekte gesellschaftlicher Konfrontation. Insbesondere die britischen Kolonialregierungen in Indien versuchten, den aufkeimenden Nationalismus der Bevölkerung, der seinen Ausdruck vor allem in der Gründung zahlreicher landessprachlicher Zeitungen fand, im Keim zu ersticken (Tamendehrou 2014: 30). Immer wieder wurden strenge Pressegesetze erlassen, um journalistische Aktivitäten zu unterbinden. Gleichzeitig wurden die englischsprachigen Publikationen als Lautsprecher der Regierung unterstützt (Tamendehrou 2014: 32). In dieser hoch affizierten und polarisierten Umgebung betonte Gandhi den Wert der Wahrheit. Durch diese Dialektik ist sein Denken in Zeiten eines grassierenden Relativismus von hoher Aktualität.
Die ›Indian Opinion‹ spiegelte, wie heutzutage ›Young India‹ und ›Navajivan‹[1], einen Teil meines Lebens wider. Woche für Woche schüttete ich mein Herz in ihren Spalten aus und verkündigte die Grundsätze und Anwendung von Satyagraha. Zehn Jahre lang […] erschien kaum eine Nummer ohne einen Artikel von mir. (Gandhi 1983: 115)
Gandhis gesammelte Werke umfassen rund zehn Millionen geschriebene Wörter (Galtung 1987: 63). Einen großen Teil davon machen die Artikel aus, die er in seiner 40 Jahre andauernden journalistischen Laufbahn verfasste. Dieser Aufsatz geht zunächst in einem biografischen Abriss der Frage nach, was Gandhi zu dieser unermüdlichen journalistischen Tätigkeit motivierte. Im Hauptteil dieses Artikels wird dann nachgezeichnet, welche Funktion Gandhis journalistische Tätigkeit im Kontext seines politischen Kampfes erfüllte, um schließlich seine journalistisch-ethischen Prinzipien strukturiert und kategorisiert zu veranschaulichen.
1. Gandhis journalistische Entwicklung: biografischer Überblick
Mohandas Karamchand Gandhi genoss in seiner Jugend eine höchstens durchschnittliche Bildung. Er selbst schreibt in seiner Autobiografie, er sei ein »recht mittelmäßiger Schüler gewesen« (Gandhi 1983: 9), und auch durch seine Eltern wurde Gandhi wohl nicht viel Wissen zuteil. Dies mag überraschen, vor allem in Anbetracht seiner Herkunft – Gandhis Vater war Ministerpräsident; wie vor ihm auch dessen Vater und Großvater. Doch das Familienoberhaupt, so berichtet Mahatma Gandhi, habe selbst keine Erziehung genossen als die des praktischen Lebens und auch nichts gewusst von Geschichte und Geographie (Gandhi 1983: 8). So attestierte ein befreundeter Anwalt noch dem 21-jährigen Gandhi eine dürftige Allgemeinbildung, er wisse »nichts von der Welt«, habe nicht einmal die Geschichte seines Landes gelesen (Gandhi 1983: 54).
So ist es nicht verwunderlich, dass Gandhi während seiner Jugend den stark politisierten Zeitungen in Indien (Driessen 2002: 58) wenig Beachtung schenkte und erst zu Beginn seiner Studienzeit in England (1888-1891) die erste Zeitung in seinem Leben las (Driessen 2002: 123). Der junge Jura-Student wollte sich der britischen Gesellschaft anpassen, kaufte sich die Kleidung eines Gentleman und las die Londoner Times – sie prägte seine Vorstellungen von gutem Journalismus (Bhattacharyya 1965: 71).
In London machte Gandhi auch seine ersten Gehversuche als Journalist. Seine zu dieser Zeit entstandenen Texte waren inspiriert von den Problemen, mit denen er sich als strenger Vegetarier in der neuen westlichen Welt konfrontiert sah. Das Versprechen, das er vor der Abreise aus Indien seiner Mutter gegeben hatte, auch im fernen Ausland kein Fleisch zu essen, wurde für Gandhi in zweierlei Hinsicht zur schweren Bürde: Nicht nur, dass die Suche nach einer Möglichkeit, sich in England vollwertig vegetarisch zu ernähren, zunächst erfolglos blieb; befreundete Briten versuchten darüber hinaus, Gandhis »Bockigkeit« (Gandhi 1983: 41) zu brechen und ihn zum Fleischkonsum zu überreden. Erst als er endlich Gleichgesinnte traf, endete seine Qual. Er wurde Mitglied in einer vegetarischen Vereinigung und verfasste nun Artikel für deren Zeitschrift.
Es ist bezeichnend, sowohl für Gandhis charakterlichen Reifeprozess als auch für seine Auffassung von Journalismus, dass seine ersten Artikel auch vom ersten Widerstand berichten, den er in der neuen westlichen Umgebung überwinden musste; der seine Gelübde und Prinzipien auf die Probe stellte. In dem schüchternen und zunächst sehr unsicheren Gandhi wuchsen umso stärker Selbstbewusstsein und missionarischer Eifer, je öfter er aus inneren Zwiespälten mit gestärkten Überzeugungen hervorging.
Nach seinem Jura-Studium blieb Gandhi nur kurze Zeit in Indien, bevor er sich 1893 aufmachte, um in Südafrika Berufserfahrung zu sammeln. Tatsächlich kam es hier zur entscheidenden Weichenstellung in Gandhis Leben. Verschiedene Erfahrungen mit dem in der damaligen Kolonie vorherrschenden Rassismus wurden für Gandhi zu Schlüssel-Erlebnissen: In einem Gerichtssaal wies der Richter Gandhi an, seinen Turban abzusetzen. Gandhi weigerte sich, verließ das Gebäude unter Protest und berichtete den Vorfall an eine Zeitung – er betonte sein Recht, sich traditionell kleiden zu dürfen (Gandhi 1983: 67). Nur wenige Tage nach seiner Ankunft, so schreibt Gandhi in seiner Autobiografie, sei der Zwischenfall auf diesem Wege »zu einer unerwarteten Reklame« (69) für ihn geworden.
Es war für Gandhi ein charakteristischer und geradezu selbstverständlicher Reflex, in jedwedem Konflikt sofort eine kommunikative Ebene zu suchen, was nicht nur den Austausch mit der Gegenseite einschloss, sondern oft ebenso eine Veröffentlichung und Erklärung des eigenen Standpunktes bedeutete. Dies ist ein Grund dafür, warum Gandhi in kürzester Zeit zu einer öffentlichen Person wurde.
Dieses Bedürfnis wurde noch größer, nachdem Gandhi nur kurze Zeit später aus einem Zug gezerrt wurde und in einer Bahnhofsstation übernachten musste. Er hatte darauf bestanden, entsprechend seiner Fahrkarte erster Klasse zu fahren und sich geweigert, im Gepäckwagen-Abteil zu reisen – wie es für Inder in Südafrika zu jener Zeit üblich war. Die Erfahrung der Diskriminierung war neu und überraschend für Gandhi. Er haderte im ersten Moment, war kurz davor, nach Indien zurückzukehren, entschied dann jedoch, dass es feige wäre, unverrichteter Dinge heimzureisen (Gandhi 1983: 70). Von diesem Moment an setzte sich Gandhi dafür ein, die Lebensbedingungen der indischen Minderheit in Südafrika zu verbessern. Er legte »buchstäblich über Nacht sein scheues Wesen ab und widmete sich vorbehaltlos seiner politischen und religiösen Bestimmung als Führer« (Erikson 1978: 50). In dieser Zeit also entwickelte sich seine philosophisch-politische Orientierung – eine Kampfansage an Unterdrückung und Ausbeutung, sei es in Form von Rassismus, Kolonialismus, Kastenherrschaft, Kapitalismus, der Diskriminierung von Religionsgruppen oder Sexismus. Er begann damit, Versammlungen einzuberufen, sich über Missstände zu informieren, Gespräche mit Politikern zu führen und Proteste gegen ungerechte Gesetze zu organisieren (Gandhi 1983: 83-86). Parallel zu diesen Bemühungen suchte er weiterhin nach Kanälen, eine breitere Öffentlichkeit auf die Probleme seiner Landsleute hinzuweisen, aber auch nach Möglichkeiten, die südafrikanischen Inder selbst zu erreichen, zu informieren und aufzuklären.
So fand 1896 die Veröffentlichung des Green Pamphlet, einer Broschüre über die Zustände in Afrika, einige Beachtung in seinem Heimatland – Gandhis Essay wurde von fast allen indischen Zeitungen besprochen, in zwei Auflagen wurden insgesamt 5000 Exemplare gedruckt (Gandhi 1983: 95). Der öffentliche Widerhall öffnete Gandhi Türen, es begann eine intensive Zusammenarbeit mit verschiedenen europäischen und indischen Zeitungen. Nach kurzem war er den Zeitungsmachern als der offizielle Vertreter der indischen Minderheit in Südafrika bekannt. Er hatte nun immer häufiger die Gelegenheit, seine Sicht der Dinge einer immer größeren Öffentlichkeit zu schildern (Driessen 2002: 124ff.).
Zu diesem Entwicklungsprozess gehörte auch die Einsicht, dass das gelegentliche Schreiben für Zeitungen unzureichend und die damit einhergehende Abhängigkeit vom Wohlwollen der Redakteure unangemessen war für die Ziele, die Gandhi sich gesteckt hatte. Er brauchte ein eigenständiges Sprachrohr. 1903 gründete er deshalb die Indian Opinion, eine wöchentlich erscheinende Zeitung mit einer durchschnittlichen Auflage von 2000 Exemplaren. Gandhi war nicht nur Herausgeber, sondern schrieb auch einen Großteil der Artikel selbst und finanzierte die Indian Opinion anfangs mit Hilfe der Einnahmen aus seiner florierenden Rechtsanwaltspraxis (Dhupelia-Mesthrie 2003).
Die schlicht gestalteten 16 Seiten der Opinion – wöchentlich gedruckt in einer uralten Presse – wurden für Gandhi zu einer seiner wichtigsten Waffen im Kampf gegen die Diskriminierung (Driessen 2002: 128). Zunächst waren die Kolumnen und Artikel noch in einem sehr moderaten Ton verfasst, der Herausgeber verkündete: »we have unfailing faith in British justice« (Dhupelia-Mesthrie 2003). Bald jedoch erkannte Gandhi die Wirkungslosigkeit politischer Bittschriften und begann den aktiven Widerstand – damit änderte sich auch der Ton seiner Artikel (Dhupelia-Mesthrie 2003). Er informierte seine Leser über seine Kampagnen und forderte sie zum Widerstand auf, erklärte ihnen ihre Rechte und gab Ratschläge bei Konflikten mit Behörden. Außerdem war die Zeitung für Gandhi ein Mittel der Verständigung – er kommunizierte über die Indian Opinion mit den Indern in Südafrika, veröffentlichte und beantwortete Leserbriefe. Rückblickend schreibt er in seiner Autobiografie:
Satyagraha wäre wahrscheinlich unmöglich gewesen ohne dieses Wochenblatt. Für mich wurde es zu einer wahren Fundgrube an Erkenntnissen über die menschliche Natur in all ihren Schattierungen […] Es war, als wenn die ganze Gemeinde laut dächte in diesem Briefwechsel mit mir. Er brachte mir die Verantwortung eines Journalisten deutlich zum Bewusstsein, und der Einfluß, den ich durch ihn auf die Gemeinschaft gewann, machte den künftigen Kampf erst wirklich ausführbar und gab ihm zugleich die rechte Würde und unwiderstehliche Kraft. (Gandhi 1983: 115-116)
So ist die Tatsache, dass der Neologismus Satyagraha[2] selbst durch eine Ausschreibung in der Indian Opinion gefunden wurde, nur ein weiteres Indiz dafür, wie zentral dieses Blatt für Gandhis Bemühungen in Südafrika war (Gandhi 1983: 133). Der indische Presseforscher S.N. Bhattacharyya schreibt: »South Africa not only shaped many of the ideas and traits of Gandhiji, but made an out-and-out journalist of him as well« (Bhattacharyya 1965: 2).
1914 kehrte Gandhi nach Indien zurück. Dort erwartete ihn die zentrale Herausforderung seines Lebens: der Kampf um die indische Unabhängigkeit. Auch dieses Ziel konnte er nicht erreichen ohne adäquate journalistische Plattformen – dies hatten ihn seine Erfahrungen in Südafrika gelehrt. So übernahm er die englischsprachige Wochenzeitung Young India und das Blatt Navajivan, das in der Landessprache Gujarati erschien (Driessen 2002: 131).
Im Jahre 1933 gründete er zudem die Harijan, eine Wochenzeitung, deren einziges Ziel es war, die Lebenssituation einer bis dahin marginalisierten Bevölkerungsgruppe zu verbessern: ›Harijans‹, Menschen Gottes, nannte Gandhi Angehörige der ›Unberührbaren‹-Kaste, und ihnen widmete er diese Zeitung. Den ›Unberührbaren‹ zu helfen und schließlich das Kastensystem gänzlich abzuschaffen – die Bewältigung dieser Aufgaben war aus Gandhis Sicht wesentlich für den inneren Frieden Indiens (Bhattacharyya 1965: 55).
Bis zu seinem Tode blieb Gandhi politisch aktiv und ein Mensch der Medien. Durch geschickt inszenierte Großereignisse wie den Salzmarsch 1930 (vgl. Driessen 2002) gelang es ihm, die Weltöffentlichkeit auf seine Botschaften aufmerksam zu machen.
Es wird deutlich, dass die Wirkungsmechanismen der Medien essenzieller Teil der Strategie von Satyagraha waren. Diese Integration war jedoch für Gandhi nur möglich durch die strenge Einhaltung von Prinzipien im Umgang mit den Medien und vor allem in der Ausübung journalistischer Tätigkeiten.
»Öffentlichkeit ist unsere beste und vielleicht die einzige Waffe,
mit der wir uns verteidigen können.«
(Gandhi, zit. n. Bhattacharyya 1965: 3)
2.1 Lehrer der Nation: Hinführung
Das Hauptziel, das Gandhi mit seinen Zeitungen verfolgte, war, die breiten Massen der Gesellschaft direkt anzusprechen, um sie für seinen Kampf zu gewinnen. Der Journalismus diente Gandhi also vorrangig zur Vorbereitung und Ermöglichung von Satyagraha. Galtung (1987: 47-50) vergleicht Gandhi in diesem Punkt mit dem chinesischen Revolutionär Mao Zedong: Für beide Widerständler musste die gesellschaftliche Veränderung mit dem einfachen Menschen beginnen, ihr Kampf sollte seine Lebensbedingungen verbessern. Die Hauptträger der gesellschaftlichen Veränderung sollten nicht etwa die intellektuellen Eliten der Gesellschaft sein, sondern vor allem die Bauern, weil diese die Mehrheit der Gesellschaft bildeten – sie mussten zuallererst vom Kampf überzeugt und in seinen Techniken unterwiesen werden. Um dieses Ziel jedoch zu erreichen, mussten zwei Vorbedingungen erfüllt werden:
Zum einen musste die indische Gesellschaft geeint werden, ein innerer Friede musste hergestellt werden. Dafür unabdinglich war aus Gandhis Sicht eine allgemeine Reform der indischen Gesellschaft, vor allem eine Verbesserung der Lage der »Unberührbaren«. Wie wir sehen werden, versuchte Gandhi diese Reform mit journalistischen Mitteln, vor allen Dingen durch Beratung und Aufklärung zu initiieren.
Die zweite Vorbedingung für die Mobilisierung seiner Landsleute zum gewaltlosen Kampf war eine seinen Vorstellungen entsprechende sittlich-moralische Erziehung der Leserschaft. Gandhi stellte an seine Mitkämpfer in den Satyagraha-Kampagnen, die Satyagrahi, höchste Ansprüche, er schrieb:
Der Verfasser des Sanskrit-Spruchs ›Versöhnlichkeit ist ein Schmuck des Mutigen‹ schöpfte aus seiner reichen Erfahrung mit Satyagrahi, die nie irgend jemand (sic!) den geringsten Anlass geben, etwas an ihnen auszusetzen. Satyagraha bedeutet Abtun jeder Schwäche und also auch des Mißtrauens; denn was soll Mißtrauen dem, der ja den Gegner nicht vernichten, sondern zu sich herüberziehen will. (Gandhi 1983: 176)
Satyagraha war nach Gandhi eine Waffe der Wahrhaftigen, und so konnte sie von ihm nur angewandt werden, wenn sich das Volk entsprechend verhielt; wenn es die moralische Kraft hatte, den Grundsatz der Gewaltlosigkeit in Geist, Wort und Tat zu bewahren (Gandhi 1983: 237). Die Unterrichtung der Leser war dementsprechend das zentrale Motiv für Gandhis journalistisches Handeln.
Tatsächlich war eine erzieherische Intention im Journalismus nichts Ungewöhnliches zur damaligen Zeit – der rasante Fortschritt in Bildung und Forschung hob das intellektuelle Niveau der Bevölkerung an, und so begannen vor allem viele englische Zeitungen, besonders in der Viktorianischen Epoche (1837-1901), politische und moralische Werte zu vermitteln (Bhattacharyya 1965: 92-93).
In diesem historischen Kontext begann Gandhis journalistische Laufbahn, durch die er schnell zum »national communicator and educator through the press« (Brown 1989: 135) wurde. Nach Ansicht der Historikerin Judith Brown hat Gandhi mit seinen Zeitungen eine erzieherische Rolle eingenommen, in der er seine Leser kontinuierlich über soziale Probleme aufklärte, ihnen Beispiele für Nächstenliebe und Patriotismus schilderte, sie über Rechte informierte und ihnen zeigte, wie sie sich für die Sache der Inder engagieren konnten (Brown 1989: 50).
Spätestens ab den 1930er Jahren wurde diese autoritäre Beziehung zu seinen Lesern dadurch begünstigt, dass Gandhi das Ansehen einer Heiligkeit, eines Mahatma, einer ›großen Seele‹ genoss, die sich der indischen Nation und ihrer ärmsten Menschen verschrieben hatte (Brown 1989: 311). Gandhis Mission profitierte von einer Jahrtausende alten emotionalen Notwendigkeit in der hinduistischen Religion, einen zweiten, spirituellen Vater zu finden. Besonders im Antevasin, im Stadium der Lehrjahre im Leben eines Hindus, wird die Autorität der Eltern auf einen anerkannten Guru übertragen (Erikson 1978: 37). Gandhi nutzte diese traditionell-religiöse Institution – Galtung schreibt, Gandhi habe eine »aufgeklärte Gurukratie« (Galtung 1987: 40) praktiziert.
Anders als in der westlichen Welt sind die Götter östlich des Abendlandes Bildgestalten, weshalb es mehr Raum gibt für gottähnliche Menschen, Gurus oder Mahatmas. Es ist für das westliche Verständnis wichtig zu verstehen, dass es durch diese Zwischenwelt möglich war, dass Gandhi mehr als Bewunderung und Hochachtung zuteilwurde, ohne dass seine Sichtweisen dabei verabsolutiert oder ideologisiert wurden (Galtung 1987: 41). So scheint es charakteristisch für die indische Kultur generell und für Gandhi im Besonderen, dass er trotz seiner prädestinierten Stellung seinen Anhängern niemals Ansichten diktierte. Er bevormundete nicht, im Gegenteil forderte er die Leser stets dazu auf, sich eine eigene Meinung zu bilden, er schrieb:
The newspapers should be read for the study of facts. They should not be allowed to kill the habit of independent thinking. (Gandhi, zit. n. Gupta 2001)
So ist der Einfluss, den Gandhi mit seiner journalistischen Arbeit ausübte, nicht als Manipulation im pejorativen Sinne zu werten. Die journalistische Aufgabe, die Erziehung der Leserschaft, konnte aus Gandhis Sicht nur dann erfolgreich sein, wenn er dem Leser mit hilfreichen und nützlichen Informationen diente. Er schrieb in diesem Sinne: »The sole aim of journalism should be service.« (Gandhi, zit. n. Gupta 2001) Aus diesem Leitgedanken des Dienens mussten aus Gandhis Sicht einige praktische Konsequenzen folgen, die in den folgenden Abschnitten beleuchtet werden. Es wird deutlich werden, dass alle journalistischen Grundsätze Gandhis auf diesen einen Anspruch zurückzuführen sind: den Nutzwert der Zeitungen für den Leser zu optimieren und gleichzeitig die redaktionelle Arbeit vor Einflüssen zu bewahren, die dieser Prioritätensetzung zuwiderlaufen. Journalismus war für Gandhi also in zweierlei Hinsicht ein Mittel der Macht: Zum einen übte er durch das Mittel des Journalismus Macht aus, um positive Veränderungen zu bewirken. Zum anderen war für ihn zuallererst eine Bemächtigung seiner selbst notwendig, um den Journalismus für seine Zwecke nutzbar zu machen.
Es bedeutete für Gandhi eine immer wiederkehrende Herausforderung, sein journalistisches Handeln, sein Dharma[3] und seine Ethik in Einklang zu bringen. Es war für ihn eine religiöse Notwendigkeit, diese Kongruenz herzustellen – Mittel und Zweck mussten in all seinen Handlungen untrennbar wesensgleich sein (Erikson 1978: 477).
2.2 Hilfe zur Selbsterziehung: Gandhis Prinzipien des Nutzwertjournalismus
Durch den hohen Nutzwert seiner Artikel wollte Gandhi seine Leserinnen und Leser zum Lernen motivieren. So lassen sich seine Vorstellungen von Journalismus treffend mit dem Begriff des Nutzwertjournalismus beschreiben.
Nutzwertjournalismus unterscheidet sich qua definitionem von anderen journalistischen Formen durch »seine dominierende Kommunikationsabsicht, die den Rezipienten in einer Handlungsabsicht unterstützt« (Eickelkamp 2004: 16). Dieses Ziel war in Gandhis Fall zunächst sehr allgemein gefasst, die Lebenssituation seiner Landsleute, insbesondere der Landbevölkerung Indiens, zu verbessern. Er musste sich dafür fragen: Was tut der Leser, wie und mit welchem Ziel tut er es? Das Nutzwert-journalistische Produkt soll eine positive Veränderung im Leben des Lesers bewirken, er soll einen individuellen Nutzen davon haben; die Themenauswahl ist handlungs-, umsetzungs- und ergebnisorientiert (Eickelkamp 2004: 16).
Auch Gandhis einflussreichste Publikation folgte konsequent dem Nutzwertgedanken – es fanden sich in der Wochenzeitung Harijan beispielsweise keine Meldungen über politische Ereignisse – Gandhi bestimmte: »It will rigorously eschew all politics« (Gandhi, zit. n. Bhattacharyya 1965: 56). Weder über den India Act[4] von 1935, noch von Gandhis Rückzug aus der Politik wurde berichtet; stattdessen fanden sich in der Harijan z.B. hilfreiche Tipps zur Umgestaltung von Dörfern, Vorschläge zum Wiederaufbau der Baumwoll-Industrie, sogar Warnungen vor giftigen Schlangen und Anleitungen, wie man aus Lumpen Papier und aus Exkrementen Dünger herstellt (Bhattacharyya 1965: 56). Eine besondere Priorität hatte in der Wochenzeitung zudem die Ernährungsberatung – »laughingly he called himself a food missionary« (Brown 1989: 301).
Gandhi sagte, die Harijan werde weder veröffentlicht für die kurzzeitige Belustigung noch zum Vergnügen des Lesers (Bhattacharyya 1965: 75). Praktische Ratschläge waren für ihn von einer solch übergeordneten Wichtigkeit, dass für Unterhaltung – etwa Artikel über Filme, Kunstausstellungen oder Sportereignisse – kein Platz mehr in seinen Zeitungen war. Selbst Sachinformationen, die keinen konkreten Nutzen hatten, empfand Gandhi als überflüssig (Driessen 2002: 136). In diesem Sinne stellte er fest:
What is really needed to make democracy to function is not the knowledge of facts, but right education. And the true function of journalism is to educate the public mind, not to stock the public mind with wanted and unwanted impressions. (zit. n. Bhattacharyya 1965: 160)
Der Nutzwertjournalist orientiert sich streng an der Frage, was dem Rezipienten nützt (Eickelkamp 2004: 17). In diesem Sinne war es für Gandhi unabdinglich, einen Weg zu finden, am Leben der Landarbeiter teilzuhaben, von ihren Sorgen und Problemen zu erfahren. Er musste wissen, was in den Dörfern geschieht, um einen Maßstab für Themenfindung und -selektion zu entwickeln. Er musste Möglichkeiten finden, sich in einem Land von der Größe des indischen Subkontinents zu informieren – ohne befestigte Straßen und funktionierendes Telefonnetz. Zwar gab es Nachrichtenagenturen, doch diese deckten meist nur die großen Städte ab und wurden von der Regierung manipuliert (Driessen 2002: 138). Außerdem wollte er aus erster Hand erfahren, was seine Leser beschäftigte. Er ging also selbst zu den Feldern in der Kleidung der Landarbeiter, setzte sich zu ihnen und redete mit ihnen in ihrer Sprache (Bhattacharyya 1965: 158). Dieser Austausch, diese Art der Recherche war mehr als bloße Informationsbeschaffung – er lernte seine Leser kennen, nahm teil an ihren Ängsten und Problemen.
Um mehr Menschen im ganzen Land erreichen zu können, baute sich Gandhi außerdem über die Jahre ein riesiges Netz freiwilliger Korrespondenten auf. Satyagrahi oder Sympathisanten seiner Bewegung berichteten ihm, was in ihren Regionen vorging und leisteten so ihren Beitrag im Kampf um die Unabhängigkeit. Die ausgiebige Lektüre von Leserzuschriften ist für den Nutzwertjournalisten unabdinglich, denn sie ist die »Initiation in die Gedankenwelt seiner Leser« (Fasel 2004: 75) – Gandhi las jeden Brief seiner Unterstützer. S.N. Bhattacharyya schreibt, er sei der bestinformierte Herausgeber Indiens gewesen: »That is how he could feel the pulse of the nation through a fleet of self-styled correspondent« (Bhattacharyya 1965: 84).
2.3 Der Elefant im Raum: Gandhis Prinzipien journalistischer Wahrhaftigkeit
Nach Gandhis Auffassung müsse es das Bestreben des Journalisten sein, die Wahrheit in seinen Artikeln widerzuspiegeln. Würden Journalisten hingegen die Wahrheit mutwillig verzerren, durch mangelnde Sorgfalt oder Gewissenhaftigkeit, so könnten sich die positiv-konstruktiven Funktionen des Journalismus ins verheerend Destruktive umkehren. Gandhi schrieb:
The newspaper is a great power, but just as an unchained torrent of water submerges whole countryside and devastates crops, even so an uncontrolled pen serves but to destroy. If the control is from without, it proves more poisonous than want of control. It can be profitable only when exercised from within. (Gandhi, zit. n. Gupta 2001)
Sich dieser Ambivalenz bewusst zu sein und sie zu bewältigen, darin sah Gandhi die größte Verantwortung des Journalisten. Diese Überzeugung erwuchs nicht nur aus der Praxis Gandhis als Herausgeber und Redakteur, sondern auch aus den Erfahrungen mit der Berichterstattung über die eigene Person. In dem Kapitel Ausschreitungen in Durban (Gandhi 1983: 95-106) seiner Autobiographie Mein Leben berichtet Gandhi davon, wie er in Südafrika einem wütenden Mob europäischer Plantagenbesitzer nur knapp entkommen konnte. Grund für die Aggressionen waren Reuters-Berichte, in denen einige seiner Reden vollkommen verzerrt wiedergegeben wurden (Gandhi 1983: 96). Die Kritik, die Gandhi während einer Indienreise an den Arbeitsbedingungen seiner Landsleute in Südafrika geübt hatte, erreichte die betroffenen Plantagenbesitzer journalistisch aufbereitet in gekürzter und überspitzter Form. Gandhi schrieb dazu:
Derlei ist nichts Ungewöhnliches, und die Übertreibung ist nicht immer absichtlich. Stark beschäftigte Leute, die gewohnt sind, alles durch ihre eigene Brille anzuschauen, lesen da irgendetwas oberflächlich und drechseln sich dann einen Auszug zurecht, der mitunter teilweise ein Produkt der Einbildungskraft ist. (Gandhi 1983: 95)
Zwar gibt sich Gandhi in diesen Zeilen verständnisvoll gegenüber den Urhebern der fatalen Berichte. Die gleiche Nachsicht hätte er jedoch nie gegenüber den Mitarbeitern seiner Zeitungen oder gar sich selbst in der Funktion des Journalisten zugelassen. Unbedingte Wahrheitstreue war für Gandhi nicht nur ein Grundpfeiler des Journalismus (vgl. Gupta 2001), Gandhis Wahrheitsbegriff war von zentraler Bedeutung für seine Philosophie. Er brauchte die Wörter »Wahrheit«, »Gott« und »Liebe« meist synonym, denn für ihn bezeichneten sie ein und dasselbe – die Quelle von Ahimsa (Galtung 1987: 17). Sie sollte praktisch werden im Satyagraha-Kampf und musste deswegen auch im Journalismus, der den Kampf ermöglichen sollte, zum obersten Prinzip werden. Nur unter dieser Bedingung war die journalistische Tätigkeit Gandhis vereinbar mit seinem ethischen Grundsatz der Untrennbarkeit von Mittel und Zweck.
Absolute Wahrheit ist unerreichbar, journalistische Wahrheit soll deswegen im Folgenden immer nur die Intention einer Annäherung bedeuten. Es soll nun dargestellt werden, auf welche Weise Gandhi auf praktisch-journalistischer Ebene diese Wahrheit erreichen wollte, wie er in der journalistischen Tätigkeit seinem obersten Prinzip der Wahrhaftigkeit gerecht zu werden suchte.
Der Psychohistoriker Erik H. Erikson (1978) spricht von dem Versuch Gandhis, in das indische Leben, in welchem Wahrheit im Gegensatz zum abendländischen Verständnis verschiedene Bedeutungen hat, »ein beinahe christliches, in jedem Fall aber sokratisches ›Ja, ja‹ und ›Nein, nein‹ einzuführen« (Erikson 1978: 43). Gandhi habe aus diesem Anspruch heraus stets einen Schwerpunkt auf die Tatsächlichkeit des Inhalts gelegt. Besonders in seiner journalistischen Arbeit setzte er dieses Prinzip konsequent praktisch um: Das Sorgfaltsprinzip und die Verpflichtung zur Richtigstellung, in den Deutungsweisen wie sie heute auch im Pressekodex des Deutschen Presserates nachzulesen sind (Deutscher Presserat 2019), waren für Gandhi eine innere Notwendigkeit und selbstverständliche Grundbedingungen für konstruktiven Journalismus:
Gandhi lehnte rigoros die Veröffentlichung von Informationen ab, die noch nicht sorgfältig auf ihren Wahrheitsgehalt geprüft worden waren. Es war seiner Ansicht nach die Pflicht der Presse, eine Veröffentlichung bis zu ihrer eindeutigen Bestätigung zurückzuhalten (Bhattacharyya 1965: 84). Schon damals war sich Gandhi der Spannungsfelder zwischen Aktualität und sorgfältiger Recherche, Informationsflut und Zeitdruck bewusst. Er wusste, dass es in täglich erscheinenden Zeitungen schwerer ist, wahrhaftig zu berichten als in wöchentlich erscheinenden Blättern – auch seine Zeitungen erschienen wohl auch deshalb ausschließlich im wöchentlichen Rhythmus. Er war jedoch der Meinung, dass auch der Zeit- und Konkurrenzdruck im tagesaktuellen Journalismus keine Entschuldigung für mangelnde Sorgfalt sein können (Bhattacharyya 1965: 73).
Natürlich waren weder seine Mitarbeiter noch Gandhi selbst unfehlbar. Es gehörte daher zu seinen Prinzipien, sich umgehend öffentlich zu berichtigen, wenn seine Schriften Unwahrheiten enthielten. Gandhi sah seine Schriften selten als reinen, flüchtigen Tagesjournalismus. Vielmehr betonte er, dass sie oftmals von einem andauernden Wert seien, der die Korrektur ernster Fehler umso notwendiger mache (Bhattacharyya 1965: 75).
Als Rahmenbedingungen für Wahrheit im Journalismus sind die genannten Prinzipien jedoch ungenügend. Sorgfaltspflicht und Korrekturbereitschaft sind nur notwendige, keine hinreichenden Bedingungen für journalistische Wahrheit – aus Gandhis Sicht konnte Journalismus nur mit Wahrhaftigkeit gelingen, also mit Wahrheitsliebe und unbedingtem Willen zur Wahrheit.
Das Prinzip der Wahrhaftigkeit im journalistischen Kontext lediglich als eine Verpflichtung zur wahrheitsgemäßen Berichterstattung zu verstehen, wäre unzureichend und irreführend, denn dieses Verständnis vermittelt die Vorstellung, man könne jemanden zur Wahrhaftigkeit verpflichten; Wahrhaftigkeit sei primär eine Sache der Disziplin. Wahrhaftigkeit kann jedoch nicht angeordnet werden, sie muss intrinsisch motiviert sein – sie ist also primär eine Sache der persönlichen Grundeinstellung und des Berufsethos. Gandhi war dementsprechend der Ansicht, von außen aufgezwungene Beherrschung wirke »verderblicher als Mangel an Beherrschung. Ersprießlich kann sie nur sein«, so Gandhi, »wenn sie von innen her geübt wird« (Gandhi 1983: 116).
Wie nachlässige Recherche kann auch mangelnde Wahrhaftigkeit zu Fehldarstellungen führen, die Gandhi nicht akzeptieren konnte. Ein Bewohner eines seiner Ashrams[5] erinnert sich an einen Zwischenfall, der dies verdeutlicht:
Charlie[6] and I had left Bapu lying on the verandah, and Charlie was telling me about an article he had just written for the Manchester Guardian about the Satyagraha movement then in progress in Travancore. In glowing terms he had described how all eyes were now concentrated on this wonderful movement and no one was interested any longer in the proposed Government reforms. ›I will just go and show it to Bapu[7],‹ said Charlie, ›before I send it off‹ Presently he returned, thoroughly crest-fallen. What did Bapu think of it? I asked. ›Oh,‹ said Charlie, Bapu said: ›Charlie, it is what you would like to be true: but it isn’t true.‹ With all Bapu’s idealism went a strong strain of realism, which Charlie Andrews sometimes lacked. (Bhattacharyya 1965: 74)
Schon der englische Journalist Martin Kingsley schrieb, dass es von einer »abgrundtiefe[n] Unkenntnis jeglicher journalistischer Kunst« (Kingsley 1948: 102) zeuge, wenn man glaube, es sei möglich, den Wahrheitsgehalt eines Artikels nur anhand der Genauigkeit seiner Darstellung bewerten zu können. Jeder routinierte Journalist könne bekanntermaßen einen Artikel schreiben, der nicht eine einzige unwahre Tatsache enthalte, und doch »in seiner Gesamtheit von A bis Z eine einzige Lüge« (Kingsley 1948: 102) sei.
Gandhi war sich dieses Problems sehr wohl bewusst. Um es zu veranschaulichen, verwies er in einem Interview auf das Gedicht The blind men and the elephant (Bhattacharyya 1965: 160). In der Parabel kommen sechs blinde Männer bei dem Versuch, einen Elefanten zu »sehen«, zu vollkommen verschiedenen Erkenntnissen: Der erste vergleicht das Tier mit einer Wand, der zweite mit einem Speer usw. Das Gleichnis versinnbildlicht, dass Beobachtungen, die für sich genommen wahr sind, in dem Moment, da sie die absolute Wahrheit beanspruchen, unwahr werden können. Den Blinden fehlt die ordnende und abwägende Instanz des Sehenden, der sich einen Überblick verschaffen könnte. Im übertragenen Sinne soll gerade diese Funktion aus Gandhis Sicht der gewissenhafte Journalist erfüllen.
In diesem Kontext formulierte er in einem Brief an seinen Sohn den Grundsatz einer journalistischen Gewissenhaftigkeit und damit die Grundbedingung für journalistische Wahrheit:
What is truth in journalism? How does it differ from accuracy? Are they the same thing? Truth is not only a question of knowledge. It means more. It means the balancing of judgment in a most disinterested manner. (Gandhi, zit. n. Bhattacharyya 1965: 73)
Gandhi beschreibt die Wahrheitsfindung hier als einen schöpferischen Vorgang, als eine Objektivierung von Teilwahrheiten, also multipler Perspektiven, zu einer legitimen, journalistischen Wahrheit durch die Instanz des Journalisten. Dieser Prozess entspricht Gandhis allgemeiner Vorstellung von Wahrheitsfindung, denn diese führt seiner Ethik nach über eine intensive Verschmelzung mit dem innersten Selbst (Erikson 1978: 43).
Der Journalist Rudolf Walter Leonhardt (1976) schreibt, die Zusammenstellung der Fakten zu einem Ganzen sei derjenige Teil der Wahrheitsfindung, bei dem der Journalist nicht länger nur Handwerker sei, sondern als Künstler die Fakten komponieren müsse. Das Ordnen zu einem zusammenhängenden Bild als zweiter Arbeitsschritt nach der Recherche sei ein spontaner Vorgang und nicht mit Hilfe von formulierbaren, festen Regeln zu bewältigen: »Der Kristallisationspunkt, um den sich die Einzelheiten gruppieren, kann ein Einfall sein, auch ein Zufall, eine Überzeugung, auch ein Vorurteil« (Leonhardt 1976: 9).
In diesem kritischen Moment seiner Arbeit muss der Journalist also einen Teil seiner Subjektivität in das journalistische Produkt einfließen lassen, wodurch es zwangsläufig perspektiviert wird. In diesem Punkt verdeutlicht sich die Notwendigkeit einer journalistischen Gewissenhaftigkeit – um der Wahrheit gerecht zu werden, muss der Journalist aus Gandhis Sicht seine Vorurteile ausblenden und sich bei der Komposition des zusammenhängenden Bildes nur auf die verifizierten Fakten beschränken. Der Journalist muss hier der Versuchung widerstehen, zugunsten eines abgerundeten, interessanten Gesamtbildes die Fakten zu beeinflussen, abzuändern, Tatsachen hinzuzufügen, wegzulassen, übermäßig zu betonen oder unverhältnismäßig herunterzuspielen. Erst dadurch, dass die Wahrhaftigkeit, der Wille zur Wahrheit, in diesem Moment gegenüber anderen Interessen überwiegt, kann es zu einer gewissenhaften Abwägung kommen.
Dem Journalisten einer einflussreichen Britischen Zeitung sagte Gandhi: »We are today suffering from a double evil – the suppression of the facts and concoction« (Gandhi, zit. n. Bhattacharyya 1965: 171).
Er kritisierte seinerzeit, dass Journalismus die Kunst der »intelligent anticipation of events« (Gandhi, zit. n. Bhattacharyya 1965: 160) geworden sei. Voreilige Interpretation unsicherer Fakten und wilde Spekulation bedeuteten für Gandhi »journalistic kite-flying« (Bhattacharyya 1965: 171) journalistisches Drachensteigenlassen. Der Journalist sollte sich aus Gandhis Sicht den Spielräumen zwischen dem eigenen Erkenntnisvorteil und der Notwendigkeit, diesen journalistisch zu verwerten, bewusst sein. Da die meisten journalistischen »Fakten« oftmals nichts als veränderliche Einschätzungen seien, käme der Journalist dieser Berufsverantwortung sogar bei bestimmten Ereignissen am besten nach, indem er schweige (Bhattacharyya 1965: 171) – statt beispielsweise unnötig Ängste zu schüren. Vor diesem Hintergrund äußerte er folgende Kritik:
The newspaperman has become a walking plague. Newspapers are fast becoming the people’s Bible, Koran and Gita rolled in one. A newspaper predicts that riots are coming and all the sticks and knives in Delhi have been sold out. A journalist’s duty is to teach people to be brave, not to instill fear into them. (Gandhi, zit. n. Bandyopadhyay 1964: n.p.)
2.4 Verständlich und sachlich: Gandhis sprachliche Prinzipien
Aus dem bisher beschriebenen Anspruch heraus kultivierte Gandhi während seiner journalistischen Tätigkeit einen sprachlichen Stil, der seinen ethischen Prinzipien angemessen war. In diesem Abschnitt sollen die wesentlichen Charakteristika dieses handwerklichen Mittels ausgehend von den Nützlichkeits- und Wahrhaftigkeitsgrundsätzen beschrieben werden.
Entsprechend der sprachlichen Anforderungen eines nutzwertjournalistischen Textes – Deutlichkeit, Sachlichkeit und Prägnanz (Herzog 2004: 248-249) – bestand Gandhis oberstes Ziel darin, sich für die »breite Masse der indischen Bevölkerung verständlich auszudrücken« (Driessen 2002: 133). Gandhis sprachliche Intention war niemals ästhetischer, sondern stets pragmatischer Art. Sein amerikanischer Verleger John Haynes Holmes schreibt, Gandhi habe sich mit disziplinierter Einfachheit ausgedrückt, nur von dem Wunsch beseelt, sich verständlich zu machen (Bhattacharyya 1965: 97). Wie folgender Rat an einen Mitarbeiter belegt, forderte Gandhi nicht nur von sich selbst eine klare und direkte Sprache: »When you want to say a thing, don’t beat about the bush, don’t indulge in euphemisms and pin-pricks, but tell it in a straight-forward way« (Gandhi, zit. n. Bhattacharyya 1965: 77).
Darüber hinaus war es Gandhi auch durch den bereits beschriebenen intensiven Austausch mit seinen Lesern möglich, in einer Sprache zu kommunizieren, die ihnen nicht fremd war. Auf diese Weise verbesserte er nicht nur die Verständlichkeit seiner Texte, er schuf gleichzeitig eine Vertrauensbasis und verstärkte so den Einfluss seiner Botschaften. Krishnaswami Swaminathan, Herausgeber der gesammelten Werke Gandhis und Professor für englische Literatur, merkte an,
Gandhis Stil sei
[…] a natural expression of his democratic temper. There is no conscious ornamentation, no obtrusive trick of style calling attention to itself. The style is a blend of the modern manner of an individual sharing his ideas and experiences with his readers, and the impersonal manner of the Indian tradition in which the thought is more important than the person expounding it. The sense of equality with the common man is the mark of Gandhi’s style and the burden of his teaching. (Swaminathan, zit. n. Guha 2003)
Die Gewissenhaftigkeit des Journalisten sollte sich aus Gandhis Sicht in einer neutralen Sprache zeigen, in der die Person des Schreibers hinter dem Gedanken des Textes zurücktreten sollte. Der Schreibprozess bedeutete für Gandhi dementsprechend immer wieder eine kontemplative Übung in Selbstbeherrschung, gleichsam eine Selbsterkundung und Reflexion der eigenen Subjektivität. Folgendes Zitat ist ein Zeugnis dieses Vorgangs:
The reader can have no idea of the restraint I have to exercise from week to week in the choice of topics on my vocabulary. It is a training for me. It enables me to peep into myself and to make discoveries of my weaknesses. Often my vanity dictates a smart expression or my anger a harsh adjective. It is a terrible ordeal but a line exercise to remove these weeds. The reader sees the page of Young India fairly well dressed up and sometimes, with Romain Rolland[8], he is inclined to say ›what a fine old man he must be,‹ Well, let the world understand that the fineness is carefully and prayerfully cultivated. (Gandhi, zit. n. Bhattacharyya 1965: 80)
Gandhi sagte, vor allem seine natürliche Scheu habe ihn gelehrt, sparsam mit Worten umzugehen; ein gedankenloses Wort entweiche deswegen nur selten seiner Zunge oder seinem Stift (Bhattacharyya 1965: 83). Zu seinem sprachlichen Vorbild wurde ihm während seiner Londoner Zeit der moderate, präzise und objektive Ton der Times. Den Gegensatz zum britischen Qualitätsblatt bildete für Gandhi die ›billigere‹ Presse mit ihrer bilderreichen und unpräziseren Sprache (Bhattacharyya 1965: 71). Ein reißerisch affizierender Ton im Stile der Boulevardblätter wäre mit seinen Ansprüchen unvereinbar gewesen – er sagte, er könne nicht schreiben, »merely to excite passion« (Gandhi, zit. n. Bhattacharyya 1965: 80).
Keinesfalls duldete Gandhi Unhöflichkeit in seinen Zeitungen, auch in seinen Worten wahrte er den Grundsatz des Nichtverletzens. Zwar war er selbst bekannt für seinen feinen Humor, für seine ironischen Anspielungen – harmlose Spötterei hielt er im Meinungsstreit durchaus für legitim. Doch niemals hätte er in einer Auseinandersetzung die Grenze der Vulgarität überschritten (Bhattacharyya 1965: 72).
2.5 Dem Leser verpflichtet: Gandhis Prinzipien journalistischer Unabhängigkeit
Aus dem Gedanken heraus, dass Journalismus nichts sein kann als Dienst, ergibt sich zwangsläufig die Notwendigkeit einer uneingeschränkten Loyalität des Journalisten gegenüber dem Leser. Nur wenn der Journalist vom Wunsch beseelt ist, mit seiner Arbeit ausschließlich dem Leser dienen zu wollen, entwickelt er auch den Willen, jene dafür notwendigen Grundsätze zu befolgen, die in den vorstehenden Abschnitten beschrieben wurden. Anderweitige, primär eigennützige Beweggründe für journalistische Arbeit mussten aus Gandhis Sicht fatale Folgen haben. Er schrieb:
It is often observed that newspapers published any matter that they have, just to fill in space. The reason is that most newspapers have their eyes on profits…. There are newspapers in the west which are so full of trash that it will be a sin even to touch them. At times, they produce bitterness and strife even between different families and communities. (Gandhi, zit. n. Gupta 2001)
Nur die Loyalität gegenüber dem Leser kann Triebfeder für wahrhaftigen und nutzwertvollen Journalismus sein. Um die Journalisten seiner Zeitungen vor Einflüssen zu bewahren, die diese Prioritätensetzung gefährdet hätten, versuchte Gandhi stets, die redaktionelle Arbeit vor politischen und insbesondere vor wirtschaftlichen Interessen abzuschirmen. Um nicht zum Objekt merkantiler Interessen zu werden, entschied Gandhi sich deswegen früh dafür, keine Anzeigen in seinen Zeitungen zu veröffentlichen. Wenn ein Produkt der Gemeinschaft nütze, so argumentierte er, sollte der Hersteller kein Geld dafür ausgeben müssen, dass Zeitungen für seine Ware werben. So schrieb Gandhi in seinen Blättern kostenlos und aus eigener Überzeugung über Produkte, die er als nützlich einstufte und von denen er glaubte, dass sie die Lage der armen Bevölkerung verbesserten. Er pries nützliche Ölpressen, warb für einen effizienteren Webstuhl oder lobte in seinen Artikeln einen Mörser, der roten Reis schälte ohne dabei Vitamine zu zerstören (Bhattacharyya 1965: 118-119). War das Produkt jedoch schlecht, schadete es womöglich seinem Käufer, so war es aus Gandhis Sicht eine journalistische Sünde, den Leser zum Kauf zu verleiten. Auch im Werbegeschäft erkannte Gandhi also ein kritisches Moment, in dem sich die Macht des Journalismus destruktiv verkehre. Er schrieb:
It is now an established practice with newspapers to depend for revenues mainly on advertisements rather than on subscriptions. The result has been deplorable. The very newspaper which writes against the drink-evil publishes advertisements in praise of drinks. In the same issue, we read of the harmful effects of tobacco as also from where to buy it. […] No matter at what cost or effort we must put an end to this undesirable practice or at least reform. It is the duty of every newspaper to exercise some restraint in the matter of advertisements. (Gandhi, zit. n. Gupta 2001)
Den finanziellen Nachteil, der durch den Verzicht auf Werbung entstand, wollte Gandhi durch einen Zuwachs an Abonnenten ausgleichen. Da er mit der Indian Opinion keine finanziellen Interessen verfolgte, da sie einzig ein Instrument des Dienens sein sollte, war es für Gandhi nur folgerichtig, dass ihr Überleben direkt davon abhing, wie viele Menschen die Zeitung genügend wertschätzten, um sie finanziell zu unterstützen. (Bhattacharyya 1965: 117)
Ein besonderer Einschnitt für die Indian Opinion, der gleichzeitig Gandhis Bemühungen um ökonomische Unabhängigkeit unterstreicht, war die Gründung seines ersten Ashrams, der Phoenix-Farm. Da das Schicksal der Zeitung stets eng mit Gandhis Person verwoben war, brachte diese Zäsur in seinem Leben auch große Veränderungen für die Indian Opinion mit sich. Gandhi hatte entschieden, sein Leben nach den Grundsätzen John Ruskins[9] auszurichten, sich fortan durch Feldarbeit selbst zu versorgen. Entsprechend dieses persönlichen Strebens nach Unabhängigkeit wurde die Druckerei der Indian Opinion auf das Farmgelände verlegt – das Blatt konnte nun autark von den Ashram-Bewohnern produziert werden und war nicht länger abhängig von externen Druckereibetrieben (Gandhi 1983: 124).
Gandhi lehnte es generell ab, mit journalistischer Tätigkeit kommerzielle Ziele zu verfolgen. Wie im folgenden Zitat ersichtlich wird, war diese Grundhaltung, die wiederum den Gedanken des Dienens anderen Beweggründen voranstellte, für Gandhi eine weitere notwendige Bedingung für positiv wirkenden Journalismus:
In my humble opinion, it is wrong to use a newspaper as a means of earning a living. There are certain spheres of work which are of such consequence and have such bearing on public welfare that to undertake them for earning one’s livelihood will defeat the primary aim behind them. When, further a newspaper is treated as a means of making profits, the result is likely to be serious malpractices. (Gandhi, zit. n. Gupta 2001)
Gandhi wehrte sich jedoch nicht nur gegen ökonomische Abhängigkeiten; er kämpfte auch gegen staatliche Einflussnahme. Seiner Meinung sollte die Presse ihren Verpflichtungen und Aufgaben frei und furchtlos nachgehen können und sich nicht von Regierungen einschüchtern lassen. Er forderte die Journalisten dazu auf, eher dabei zuzusehen, wie ihre Redaktionen geschlossen werden, als mit der Obrigkeit zu kooperieren (Driessen 2002: 147).
»Keep your standards right. Everything else will follow.«
(Gandhi, zit. n. Bhattacharyya 1965: 73)
3. Schlussbetrachtung
Gandhi selbst nannte sich einen demütigen Sucher nach der Wahrheit, voller Ungeduld, sein wahres Ich zu verwirklichen – sein Dienen könne so als reiner Eigennutz gelten, denn sein Dienst an der Bevölkerung sei nichts als ein Teil der Zucht, der er sich unterziehe, um seine Seele zu befreien (Gandhi 1983: 260).
Durch ein natürliches kommunikatives Bedürfnis suchte Gandhi schon früh in inneren und äußeren Konflikten eine öffentliche Ebene. Als logische Folge erkannte er alsbald den Journalismus als ein geeignetes Mittel für seinen Kampf. Er nutzte vor allem seine eigenen, wöchentlich erscheinenden Zeitungen auf pädagogische Weise, um die Lebenssituation der breiten Massen zu verbessern und sie so für seinen Kampf zu gewinnen.
Gandhis Grundsätze sind nicht die eines Journalisten, der auf einer hypothetischen Ebene die Praxis idealisiert. Und auch nicht die Prinzipien eines Theoretikers, denen unglaubwürdige Utopie anhaftet. Es sind vielmehr Zeugnisse einer praktischen Auseinandersetzung. Gandhis journalistische Tätigkeit gründete einzig darauf, dass er in ihr ein adäquates Mittel für seinen Kampf erkannte. Seine Suche nach Öffentlichkeit war eine notwendige Folge seiner Suche nach Wahrheit und Gerechtigkeit. Und so ist dies die zentrale Botschaft seines journalistischen Schaffens: Ein Journalist wird nur dann mit seiner Arbeit positiv auf die Welt wirken können, wenn er sie primär als Mittel zu einem idealen Zweck begreift. Wer Journalismus als Selbstzweck versteht, wer sich nicht von einem höheren Ziel leiten lässt, der wird auch nicht die Kraft haben, sich selbst zu bemächtigen, um durch Journalismus positiv zu wirken.
Gandhis Prinzipien regen noch heute, 150 Jahre nach seinem Geburtstag[10], zur Reflexion an. Leserorientierung, Sorgfalt, Gewissenhaftigkeit, Verständlichkeit, Unabhängigkeit – Gandhi predigte Tugenden, die noch heute als Qualitätsmerkmale guter journalistischer Arbeit gelten. Die unbedingte Lesernähe seiner Publikationen – in Form und Inhalt – und die strenge Vermeidung unnötiger Affizierung wirken vor dem Hintergrund einer zunehmend fragmentierten Empörungsöffentlichkeit prophetisch. Anderes mag befremden: Journalismus legitimiert sich aus heutiger Perspektive vor allem aufgrund seiner Funktion im gesellschaftlichen System, indem er den Demos informiert und meinungsbildend in die Lage versetzt, politische Entscheidungen zu treffen (Kiefer 2010: 211). Gandhis Nutzwert-Journalismus mag im Vergleich hierzu geradezu apolitisch wirken – sollte aber im geschichtlich-kulturellen Kontext bewertet werden. Gandhis journalistisches Wirken in einer ruralen Gesellschaft lässt sich eher mit den Ansprüchen moderner Medienentwicklungsarbeit vergleichen, bei denen es zunächst um Existenzielleres geht als die Verbreitung aktueller Nachrichten aus dem politischen Betrieb.
Gleiches gilt für Gandhis Auffassung, dass die Ausübung des Berufs Journalismus und damit die existenzielle Abhängigkeit von publizistischer Tätigkeit unvereinbar seien mit der notwendigen Unabhängigkeit von äußeren Einflüssen. Natürlich ist das moderne Mediensystem ohne berufsmäßige Journalistinnen und Journalisten undenkbar. Und überhaupt war die Professionalisierung der journalistischen Tätigkeit erst möglich durch die Institutionalisierung des Berufs – samt zugehöriger Ausbildung, Organisation, Rechte etc. Vorbedingung dieser Institutionalisierung war indes ein Differenzierungs- und Entwicklungsgrad von Gesellschaft, der im Indien des frühen 20. Jahrhunderts nicht gegeben war. Auch hier müssen Gandhis Ansichten im spezifischen kulturell-historischen Kontext ihrer Entstehung bewertet werden. Umso erstaunlicher ist es, dass seine ethischen Prinzipien – formuliert unter den Bedingungen einer anderen Welt – bis in die Gegenwart des derzeitigen komplexen Mediensystems Geltung beanspruchen können. Gandhis Ethik ist Plädoyer für Publikumsnähe, mehr noch: Publikumsloyalität im Kontrast zu (Anzeigen-)Kundenloyalität; für nüchterne, wahrhaftige Berichterstattung, die versucht, die Leserinnen und Leser zu erheben und sie bei ihrer Entwicklung unterstützt, statt niedere Instinkte zu bedienen; ein Plädoyer für journalistische Demut, fürs Schweigen, wenn es nichts zu sagen gibt; für eine Sprache, die den Geist des Nichtverletzens in sich trägt und nicht zuletzt für Vielfalt und die Überzeugung, das auch die Schwächsten Gehör finden müssen, damit eine Gesellschaft funktionieren kann – was könnte zeitgemäßer sein?
Über den Autor
Dr. Gerret von Nordheim (*1985) forscht und lehrt als Postdoc an der Universität Hamburg und der TU Dortmund. Seine Forschungsschwerpunkte sind digitaler Journalismus, intermediale Effekte in digitalen Öffentlichkeiten und computergestützte Methoden der Inhaltsanalyse. Er hat Journalistik und Sozialwissenschaften in Dortmund studiert. Kontakt: gerret.vonnordheim@uni-hamburg.de
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Fasel, Christoph (2004): Wer ist eigentlich mein Leser, Hörer, Zuschauer? In: Fasel, Christoph (Hrsg.): Nutzwertjournalismus. Konstanz, UVK. S. 73-78
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Fussnoten
1 Die Indian Opinion war Gandhis Zeitung in Südafrika, Young India und Navajivan zwei der drei Zeitungen, die er in Indien herausgab. Später gründete er noch die Harijan.
2 Zusammensetzung aus den Gujarati-Wörtern Sat und Agraha, Wahrheit und Stärke
3 Dharma bezeichnet in der hinduistischen Religion die Lebensaufgabe, die durch vorangegangenes Leben gleichermaßen wie durch Erworbenes und durch Wahl bestimmt ist. Es integriert die individuelle Erfahrung und ist dennoch seinem Wesen nach etwas Gemeinschaftsbezogenes. Es ist nämlich die Konsolidierung der Welt durch die Selbstverwirklichung eines jeden Individuums innerhalb einer gemeinschaftlichen, fest gefügten Ordnung.
4 1935 wurden im Government of India Act in den Provinzen Wahlen zu Parlamenten initiiert, die der Indische Nationalkongress im Jahr 1937 in sieben von elf Provinzen gewann.
5 Ashram bezeichnet in den indischen Sprachen ein Ort der Kontemplation. Die wörtliche Bedeutung des Begriffes ist »Ort der Anstrengung«. Gandhis Ashrams waren vor allem Lebensgemeinschaften, deren Mitglieder sich zu einer bestimmten Lebensweise entschieden hatten.
6 Gemeint ist Charles Freer Andrews, ein langjähriger enger Mitarbeiter von Gandhi.
7 Von seiner Familie und seinen Freunden wurde Gandhi liebevoll Bapu genannt.
8 Der französische Nobelpreisträger veröffentlichte 1925 das Buch Mahatma Gandhi.
9 Gandhi wurde maßgeblich beeinflusst durch Ruskins Werk Unto this Last, in dem der englische Schriftsteller die Vorzüge des »einfachen« Lebens betont.
10 Gandhi wurde am 2. Oktober 1869 geboren.
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Zitationsvorschlag
Gerret von Nordheim: Mittel der Macht?. Gandhis journalistische Ethik. In: Journalistik. Zeitschrift für Journalismusforschung, 3, 2019, 2. Jg., S. 189-210. DOI: 10.1453/2569-152X-32019-10142-de
ISSN
2569-152X
DOI
https://doi.org/10.1453/2569-152X-32019-10142-de
Erste Online-Veröffentlichung
Dezember 2019
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