Copycats oder innovativ und integrativ? Ein Vorschlag zur Beurteilung von »Alternativmedien«

von Gabriele Hooffacker

Abstract: Mit der Bezeichnung »Alternativmedien« werden aktuell unterschiedliche Medienprodukte zusammengefasst, die teils einfach nur neue Themen und Informationen in die zivilgesellschaftliche Öffentlichkeit tragen wollen, teils aber auch Inhalte mit gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit verbreiten. Einige nutzen partizipative Formate, andere sind eher klassische senderorientierte Online-Medien. Dabei ist die Entstehung alternativer Medien eng mit den Neuen sozialen Bewegungen seit den 1970-er Jahren verknüpft. Die Medien der Neuen Rechten haben, so eine These dieses Beitrags, das erfolgreiche Konzept der Alternativmedien lediglich kopiert. Mit diesem Debattenbeitrag stellt die Autorin einen ersten Kriterienkatalog für »Alternativmedien« auf, der beim Einordnen helfen soll. Dazu werden akteursbezogene, organisationsbezogene sowie inhaltsbezogene Kriterien herangezogen.

Die »alternativen Medien« sind gerade dabei, analog zu den »alternativen Fakten« von Donald Trump einen schlechten Ruf zu bekommen. Die »Alternative für Deutschland« etwa empfiehlt, vor allem »alternative Medien« zu nutzen, da »Staatsfernsehen und Lückenpresse« ein unzureichendes Bild vermitteln würden (AfDBayern). Wer heute von »Alternativmedien« spricht, unterstellt, dass die »Mainstream-Medien« ihrer Aufgabe, Öffentlichkeit herzustellen, nicht nachkommen. Damit kapern die rechtspopulistischen Gruppen zielstrebig einen Begriff, der ursprünglich mit ganz anderen Inhalten gefüllt war.

Die Bezeichnung »Alternativmedien« für zivilgesellschaftliche Stadtzeitungen und Bürgerradios, die aus den 1970-er Jahren des 20. Jahrhunderts stammt, war von Beginn an unscharf und umfasste eine Vielzahl medialer Ausprägungen. Nun beanspruchen rechtsextreme Portale wie Altermedia, das FPÖ-nahe Portal unzensuriert.at oder der rechtspopulistische Blog PI-News die Bezeichnung für sich. Die Folge: Von unterschiedlichsten Seiten – in kommunikations- oder politikwissenschaftlichen Veröffentlichungen, auf religions- oder journalismuspraktischen und medienkritischen Websites – werden diese und weitere Medien wie die Nachdenkseiten, Ken Jebsens Videokanal, Rubikon, NuoViso oder RT Deutsch in einen Topf geworfen, oftmals mit dem Etikett »verschwörungstheoretisch«.

Mit diesem Debattenbeitrag versucht die Autorin, einen ersten Kriterienkatalog für »Alternativmedien« aufzustellen, der beim Einordnen helfen soll: Handelt es sich um partizipative Angebote der Bürgerbeteiligung? Oder um ein PR-Medium mit eigener Agenda? Wer verfügt über die genutzten Plattformen, wie ist der medienpolitische Rahmen definiert? Ist der Medieneinsatz tatsächlich innovativ und integrativ? Mit welchen Zielen treten die jeweiligen »alternativen« Medienmacher*innen an? Dazu nimmt dieser Beitrag die Leserinnen und Leser mit auf eine schnelle Zeitreise von den 1970-er Jahren bis in die Gegenwart.

Definitionen und Forschungsstand

Im Überblick fällt auf, dass die Beurteilung der innovativen und integrativen Leistung alternativer Medien insbesondere durch das Web 2.0 bis etwa 2010 eher optimistisch ausfällt. Spätestens seit 2015 mit Pegida, der AfD und dem massenhaften Gebrauch des Begriffs »Lügenpresse« mehren sich pessimistische Einschätzungen in Journalistik, Kommunikations- und weiteren Sozialwissenschaften.

Heinz Bonfadelli hat herausgearbeitet, dass vielen Veröffentlichungen zur Frage nach der Wirkung von Medienöffentlichkeiten wie der »Herausbildung einer geteilten Themen-Agenda der Zivilgesellschaft, der Diffusion von geteiltem Wissen oder der Beeinflussung von Öffentlichkeit bzw. Öffentlicher Meinung« (Bonfadelli 2019) normative Annahmen zugrundeliegen – und zwar sowohl in die positive als auch in die negative Richtung. Es werden sowohl zentripetale als auch zentrifugale Auswirkungen angenommen, und beides kann positiv oder negativ gedeutet werden.

Bonfadelli weist auf die Hypothese der wachsenden Wissenskluft hin: Bei steigendem Informationszufluss über ein Thema in der Gesellschaft entsteht keine homogene Wissensverbreitung, sondern es vertiefen sich vielmehr die Klüfte im Wissen zwischen den verschiedenen sozialen und mehr oder weniger bildungsaffinen Segmenten (vgl. Bonfadelli 2019). Er stellt dieser negativen Sicht eine positive Einschätzung durch den Uses-and-Gratifications-Approach gegenüber: »Im Gegensatz dazu betrachtet der Uses-and-Gratifications-Ansatz die aktiv-intendierte vielfältige Medienzuwendung und Mediennutzung durchaus als positiv und betont das interaktiv partizipatorische Potenzial von Online-Kommunikation und Web 2.0« (Bonfadelli 2019).

Als Kriterium ließe sich daraus die Integrationsfähigkeit und Integrationswilligkeit eines Mediums der Zivilgesellschaft in die Öffentlichkeit hinein ableiten.

Von Seiten der Politikwissenschaften hält Ulrich Sarcinelli fest, »dass die Zugänge zu den Medien für nicht etablierte Akteure erleichtert, das Erreichen einer Massenöffentlichkeit für alle jedoch infolge der Angebotsausweitung und Verspartung erschwert wird« (Sarcinelli 2008). Das könnte die zunehmende Wut der Rechtspopulisten und ihrer Anhänger*innen erklären: Ihre eigenen »alternativen Medien« erzielen teilweise hohe Reichweiten. In den klassischen Medien kommen sie jedoch ihrer Ansicht nach nicht oder zu wenig vor. Zu hinterfragen wäre, inwieweit dies ernsthaft intendiert ist.

Wie im Rahmen kommunikationswissenschaftlicher Öffentlichkeitskonzepte die sogenannte Gegenöffentlichkeit einzuordnen ist, damit haben sich Sven Engesser und Jeffrey Wimmer mehrfach befasst (vgl. Engesser/Wimmer 2009). Sie sehen ein konstituierendes Element in den unterschiedlichen Ebenen partizipativer Formen und Formate. Hier lassen sich Abstufungen der Partizipation erkennen, die nach der Stärke der Ausprägung von Verantwortlichkeit unterschieden werden können (vgl. Hooffacker 2018).

Auch »Bürgerjournalismus« und das englische Pendant »Citizen Journalism« zählen zu den verwirrenden Begrifflichkeiten, wie Christoph Neuberger festgestellt hat (vgl. Neuberger 2012). Einen erweiterten Begriff des Citizen Journalism legt Steve Outing zugrunde. »Outing fasst darunter die gesamte Bandbreite der journalistisch relevanten Kommunikation von Laien, auch im Kontext professioneller journalistischer Medien.« (zit. n. Hooffacker 2018).

Unter Bürgerjournalismus im engeren Sinn wird nach Joyce Y. M. Nip die vom professionellen Journalismus unabhängige Nachrichtenproduktion durch Bürger*innen verstanden. Partizipative Formate im Rahmen klassischer Massenmedien sind demnach zu unterscheiden von Partizipation mittels eigener Medien. Dass die Konzeption, Herstellung und Produktion »alternativer« Medienprodukte komplett in den Händen der zivilgesellschaftlichen Akteure liegen soll, war eine frühe Forderung der »Alternativpresse« der 1970-er Jahre (vgl. Hooffacker/Lokk 1989). Auch hieraus lassen sich Kriterien zur Einordnung alternativer Medien gewinnen.

Schnelle Zeitreise

Der folgende Abschnitt ist gekürzt einem Handbuch von 1989 entnommen, das die Autorin zusammen mit Peter Lokk als Anleitung für Schüler-, Studenten- und Stadtzeitungen veröffentlicht hat (vgl. Hooffacker/Lokk 2009).

Nach 1945 entstanden zunächst als Folge der Reeducation in Westdeutschland Schülerzeitungen nach US-amerikanischem Vorbild. Zum politischen Medium wurden die Flugblätter, Zeitungen und Zeitschriften der Schüler*innen und Studierenden seit den frühen 1960-er Jahren. Begleitend zur Schüler- und Studentenrevolte erschienen im deutschsprachigen Raum eine Fülle von Kleinst- und Alternativzeitungen. Peter Engel und W. Christian Schmitt konnten 1974 für die Zeit seit 1965 ca. 250 Alternativzeitungen feststellen (vgl. Engel/Schmitt 1974). 1986 nennt das Verzeichnis der Alternativpresse, das vom »Informationsdienst für unterbliebene Nachrichten« (ID) herausgegeben wurde, ca. 600 mehr oder weniger regelmäßig erscheinende Zeitungen und Zeitschriften (vgl. Diederich/Schindowski 1986).

Explizit als Gegenöffentlichkeit verstanden sich die Stadtzeitungen oder auch »Stattzeitungen«, wie seit den 1970-er Jahren das Blatt in München, Klenkes in Köln oder De Schnüss in Bonn. Sie erreichten Auflagen von bis zu 20.000 Exemplaren. Ihr Anspruch: Gruppen, die in der Lokalpresse nicht zu Wort kamen, ein Forum zu bieten. »Themen, die sie aufgriffen, wurden damit auch für die etablierte Presse ›salonfähig‹: von der missglückten ›Vergangenheitsbewältigung‹ über den Umweltschutz bis hin zur Anti-Atom-Bewegung. Die einsetzende Spezialisierung ließ eigene Zeitschriften der Frauenbewegung, von Mietervereinen, Umwelt- und Ökogruppen etc. entstehen« (Hooffacker/Lokk 2009).

Seit den 1980-er Jahren erstreckt sich die »Gegenöffentlichkeit von unten« auf weitere Medien. Alternative Radiosender wie Radio Dreyeckland in Freiburg oder Radio Z in Nürnberg entstanden als »Community-Medien«, oft getragen von einem Verein. In verschiedenen Bundesländern wurden Bürgerkanäle mit guter finanzieller Ausstattung gesetzlich verankert (vgl. Förster 2017). Noch zu wenig erforscht und rezipiert werden Konzepte von Öffentlichkeit und Gegenöffentlichkeit aus der gleichen Zeit in der DDR (vgl. Meyen 2013, 2019).

Es waren Pionier*innen aus der Hackerszene gemeinsam mit Vertreter*innen der Alternativpresse, die als erste Datennetze und Online-Plattformen einsetzten. In den USA war es The Well, das aus einem Handbuch alternativer Projekte erwuchs (vgl. Rheingold 1994). In Westdeutschland entstanden Mailboxnetze wie das Computernetzwerk Linksysteme (CL-Netz) als Partner der internationalen »Association for Progressive Communications« (APC). Stadtzeitungen und weitere Bürgermedien vernetzten sich darüber (vgl. Hooffacker/Lokk 2009). Die »alternativen« Themen wie Medienformate fanden dann ihren Weg in die klassischen Medien, während die Alternativmedien allmählich in der Bedeutungslosigkeit verschwanden (vgl. Hooffacker 2008).

Den innovativen Medienprojekten der kritischen Gegenöffentlichkeit folgen jeweils wie in einem Zerrspiegel die Medienprojekte der rückwärtsgewandten, rechten bis rechtsextremen Medienmacher*innen. Sie übernehmen Medienformen und -formate und füllen sie mit autoritären Inhalten. Ein inhaltliches Kennzeichen ist die gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit (vgl. Heitmeyer 2002-2011) kombiniert mit aktuellen Elementen der Popkultur.

In der Hochphase der Schülerzeitungen wurden vor den Schulen rechtsextreme Blätter dieses Typs verteilt. Als Gegenstück zur progressiven Rockmusik wurde der »Rechtsrock« propagiert, gefolgt von »Schulhof-CDs«, die kostenlos verbreitet wurden. Das rechtsextreme Thulenetz, mit finanzieller Unterstützung des Verfassungsschutzes aufgebaut (vgl. Aust/Laabs 2014), wollte die offenen und seinerzeit erfolgreichen Mailboxnetze wie etwa das CL-Netz kopieren (vgl. Hooffacker/Lokk 1997). Rechtsextreme Websites folgten.

Aktuell sind es oft Drittplattformen, in deren Foren, Gruppen, Chats, Messenger-Diensten rechte Inhalte verbreitet werden – von Facebook über YouTube, Reddit, Discord oder Telegram.

Zur Verwunderung der Autorin wird dies oft als Indiz dafür gewertet, dass rechte Gruppierungen sich innovativ der Medien bedienten. Angesichts der Verbreitung des Internets (seit ca. 30 Jahren), des Web 2.0 (seit bald 20 Jahren) sowie des Smartphones (sehr mehr als 10 Jahren) erscheint es heute nicht mehr zeitgemäß, hier vom Einsatz »neuer Medien« zu sprechen. Die neurechten Medienmacher*innen sind eher so etwas wie die »Copycats« der Alternativmedien.

Kriterien für Alternativmedien

Umfangreiche Forschung gibt es rund um das Thema Internet und Partizipation. Theoretische Grundlagen erarbeitete Christoph Neuberger (vgl. Neuberger 2007, 2010, 2014). Für neuere Veröffentlichungen von kommunikationswissenschaftlicher Seite sei hier Wolfgang Schweiger (Schweiger 2017), von politikwissenschaftlicher Seite Kathrin Voss (Voss 2014) genannt. Nicht selten werden die »sozialen« Netzwerke generell als Plattform der Alternativmedien angesehen (vgl. Hauser/Opilowksi/Wyss 2019).

Marisol Sandoval warnte bereits 2011 davor, Partizipation zum Alleinstellungsmerkmal alternativer Medien zu machen, da sie auch im Internet nicht immer emanzipatorisch sei. Sie verweist wie Engesser und Wimmer (Engesser/Wimmer 2009: 45) auf die Existenz rechtsextremer Online-Portale Während Engesser und Wimmer jedoch vor allem strukturelle Kriterien sehen, legt Sandoval neben ökonomischen auch inhaltliche Kriterien an und definiert alternative Medien als kritische Medien (vgl. Sandoval 2011).

Tabelle 1:
Charakteristika alternativer Medien

Kommerzielle
Mainstream-Medien
Idealtypische
Alternativmedien
Strukturen Ökonomische

Produktform

Warenform Nichtkommerzielles Medienprodukt
Inhalt Tendenziell
ideologischer Inhalt
Herrschaftskritischer Inhalt
Akteur*innen Rezipient*innen Viele
Rezipient*innen
Kritische
Rezipient*innen
Produzent*innen Wenige
Produzent*innen
Kritische
Produzent*innen

Charakteristika alternativer Medien nach Sandoval (2011)

Wer sich so unterschiedliche Medienprodukte wie Ken Jebsens Videokanal KenFM vor Augen führt, die Nachdenkseiten, PI-News oder Rubikon, wird rasch merken, dass diese Kriterien durchaus ganz oder teilweise auf »neue« ebenso wie auf »alte« Alternativmedien zutreffen, auf »linke« wie auf »rechte«, auf aufklärende ebenso wie rückwärtsgewandte oder rechtspopulistische. Ausschlaggebend ist dabei, wie die Bezeichnung »kritisch« mit Inhalt gefüllt wird. Mehrfach wurden beispielsweise Demonstranten bei Pegida oder AfD als »Asylkritiker« oder Demonstranten gegen Maßnahmen der Corona-Pandemie als »Corona-Kritiker« bezeichnet. Damit erweist sich die Bezeichnung »kritische Rezipient*innen« als nur bedingt tauglich.

Vor der Frage einer Abgrenzung alternativer Medien stand auch die Jury des »Alternativen Medienpreises«. Dieser Preis wird seit 2000 verliehen, seine Gründer kamen aus der Alternativszene der Bundesrepublik (Stadtzeitungen, Community-Radios). Mit dem Alternativen Medienpreis ausgezeichnet wurden so unterschiedliche Medien wie die Nachdenkseiten (2009), innovative Beiträge aus Freien Radios wie die Aktionsform des Radioballetts (2003), das Y-Kollektiv für Skandal bei Eliteeinheit KSK (2018), Andrea Röpke (mehrfach ab 2009), Markus Beckedahl für netzpolitik.org (2010) oder der Film Blut muss fließen von Peter Ohlendorf über rechtsextreme Band-Events sowie immer wieder besondere medienkritische Beiträge (Patrick Gensing, Walter van Rossum, Tom Schimmek). Einen Eklat gab es 2017, als die Jury eine Reportage über Ramstein auszeichnete, die bei NuoViso erschienen war (Alternativer_Medienpreis 2000ff.). Häufig finden sich unter den ausgezeichneten Beiträgen auch Dokumentarfilme oder Webdokumentationen, die mit Hilfe einer Finanzierung durch öffentlich-rechtliche Sendeanstalten entstanden sind.

Die Kriterien des Preises mischen strukturelle und inhaltliche Kriterien. Kommerzielle Medien werden ausdrücklich eingeschlossen, zudem muss nur eins der Kriterien zutreffen, nicht alle.

Teilnahmebedingungen des Alternativen Medienpreises

Teilnehmen können alle, die journalistisch tätig sind bei

• nicht kommerziellen Medien,

• Medien, die sich aus neuen sozialen Bewegungen entwickelt haben,

• klassischen Medien,

• Medien, die mit ihrer Arbeit emanzipatorische Ziele verfolgen.

Die eingereichten Beiträge sollten zumindest eines der folgenden Kriterien erfüllen:

• ein Thema medienübergreifend darstellen, zum Beispiel Print / Online oder Radio / Online,

• Print-, Audio-, Video- oder Online-Journalismus in innovativer Form umsetzen

• ein Thema bearbeiten, das von großen Medien vernachlässigt wird,

• sich intensiv und kritisch mit gesellschaftlichen Missständen auseinandersetzen,

• sich mit der nationalsozialistischen Vergangenheit und ihren Auswirkungen auf die Gegenwart beschäftigen.

Aus den Teilnahmebedingungen (Alternativer_Medienpreis 2000ff.)

Die Beispiele zeigen: Eine trennscharfe Definition von Alternativmedien steht noch aus. Um autoritäre, konformistische oder regressive Menschenbilder auszuschließen, ist ein Rückgriff auf soziologische und inhaltliche Kategorien notwendig. So untersuchen etwa Henkelmann et al. die Soziologie »konformistischer Rebellen« anhand des Konstrukts eines autoritären Charakters (vgl. Henkelmann, Jäckel, Stahl, Wünsch/Zopes 2020).

Von Oliver Nachtwey stammt die Bezeichnung des »regressiven Rebellen« (vgl. Nachtwey/Heumann 2019). Dabei werden Anhänger*innen aktueller rechtspopulistischer Strömungen einem stark rückwärtsgewandten, autoritären Weltbild zugeordnet. Sie sind einerseits von einer postulierten »Schwäche« des Staats enttäuscht. Gleichzeitig sehen sie sich als Gruppe abgewertet und ihre Freiheitsrechte in Gefahr.

Nachtwey charakterisiert ihr Verhältnis zu Medien und Öffentlichkeit wie folgt: »Im Zentrum der gesellschaftspolitischen Praxis der regressiven Rebellen steht eine Medien- und Öffentlichkeitskritik. Die verzerrte Berichterstattung der Leitmedien (insbesondere zur AfD sowie in Migrations- und innenpolitischen Fragen) wird zur Frontlinie ideologischer Auseinandersetzung. Die Krise der Repräsentation ist auch eine Krise des etablierten Wissens: Verschwörung und Verblendung sind daher beliebte Gesellschaftsdiagnosen der regressiven Rebellen« (Nachtwey/Heumann 2019).

Zu diskutieren wäre, ob diese Strömungen tatsächlich »unkonventionelle Wege« suchen, um Öffentlichkeit zu erreichen, wie Nachtwey und Heumann schreiben, oder sich nicht doch recht konventioneller Wege (Website, Blog, Facebook, YouTube etc.) bedienen. Einen ersten Versuch einer Einordnung stellt der abschließende Absatz dieses Debattenbeitrags dar.

Versuch eines Bewertungskatalogs für Alternativmedien

Nach welchen Kriterien lassen sich Alternativmedien sortieren und bewerten? Hier der Vorschlag, diese akteurs-, organisations- und inhaltsbezogen zu kategorisieren. Beim inhaltlichen Bezug wären entscheidende Kriterien, wie hoch die Innovationskraft bezüglich der Themen und Formate ist, ob das Medium gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit (Wilhelm Heitmeyer) verbreitet oder nicht, ob es ein autoritäres, regressives Menschenbild vertritt oder nicht, und zuletzt, ob es eine Integration in die zivilgesellschaftliche Öffentlichkeit anstrebt oder nicht. Einen ersten Überblick liefert die folgende Tabelle:

Akteursbezogen Komplett von Laien gestaltete Medien
Kuratierte partizipative Formen und Formate von Laien in den professionellen Medien
Beiträge von professionellen Journalisten
Organisationsbezogen Selbstorganisierter Kanal in der Hand von Laien
Eigener professioneller Kanal
Kanal eines professionellen Mediums
Kanal einer Organisation (PR-Kanal)
Inhaltsbezogen Innovative Themensetzung
Innovatives Format
Keine gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit
Kein autoritäres, regressives Menschenbild
Integration in zivilgesellschaftliche Öffentlichkeit angestrebt (zentripetal)

Die Tabelle lässt sich als Matrix verwenden. Im Folgenden ein Versuch, unterschiedliche mit dem Etikett »Alternativmedien« versehene Medienformen und Formate zu beurteilen. Aus praktischen Gründen wurden vier ausgewählt, die hohe Reichweiten aufweisen, oft als »populistisch« oder auch »verschwörungstheoretisch« bezeichnet werden und dabei unterschiedliche Merkmale aufweisen: die Nachdenkseiten, Ken Jebsens YouTube-Kanal KenFM, PI-News und RT deutsch.

Nachdenkseiten KenFM PI-News RT deutsch
Akteurs-
bezogen
Komplett von Laien gestaltete Medien
Kuratierte partizipative Formen und Formate von Laien in den professionellen Medien + +
Beiträge von professionellen Journalisten + + + (?) +
Organisationsbezogen Selbstorganisierter Kanal in der Hand von Laien +
Eigener professioneller Kanal + +
Kanal eines professionellen Mediums +
Kanal einer Organisation (PR-Kanal) – (?) +
Inhalts­bezogen Innovative Themensetzung + + +
Innovatives Format +
Keine gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit + +
Kein autoritäres, regressives Menschenbild + + (?)
Integration in zivilgesellschaftliche Öffentlichkeit angestrebt (zentripetal) + – (?) +

Sowohl die akteurs- als auch die organisationsbezogenen, insbesondere aber die inhaltsbezogenen Kriterien können nur eine erste oberflächliche Einordnung sein. Sie müssten durch eine Inhaltsanalyse empirisch belegt werden. Da das über diesen Debattenbeitrag hinausführt, müssen einige Punkte erst einmal offen bleiben.

Ein ausschlaggebendes kommunikationswissenschaftliches Kriterium wäre die Gretchenfrage: Wie hältst Du’s mit der Öffentlichkeit? Möchten die jeweiligen Gruppierungen mit ihren Medien lieber in ihren eigenen Teilöffentlichkeiten verharren und zentrifugale Tendenzen noch verstärken, oder streben sie eine Integration in eine gemeinsame zivilgesellschaftliche Öffentlichkeit an? Inhaltliche Ausschlusskriterien wären gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit wie etwa Islamfeindlichkeit und ein autoritäres regressives Menschenbild wie dasjenige einiger ›Corona-Rebellen‹.

Der Kriterienkatalog, weiter ausdifferenziert, könnte helfen, die »Alternativmedien« oder auch einzelne Beiträge daraus nicht pauschal als »populistisch« oder »verschwörungstheoretisch« zu bezeichnen, sondern sie präziser zu beschreiben.

Ebenfalls offen bleiben muss vorerst eine Kategorisierung der klassischen Alternativmedien nach diesem Schema. Wo würden Bürgerradios eingeordnet, wo komplett partizipative Foren, wo Stadtzeitungen? Die Ergebnisse wären vermutlich so bunt und divers wie die unterschiedlichen Szenen selbst.

Insgesamt lässt sich aus der Tabelle natürlich nicht ablesen, ob es sich um ein Alternativmedium im Sinne der klassischen Definition oder eins mit »alternativen Fakten« handelt. Bei einer ersten Einordnung und Bewertung könnte, so die Hoffnung, diese Übersicht aber vielleicht erst einmal unterstützen. Ob sich mit diesem Kategorisierungsversuch weiter arbeiten lässt, müsste erst noch untersucht werden.

Über die Autorin

Gabriele Hooffacker (*1959), Dr. phil., lehrt als Professorin an der Fakultät Informatik und Medien der HTWK Leipzig. Sie ist Mitherausgeberin der Journalistik. Kontakt: g.hooffacker@link-m.de

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Zitationsvorschlag

Gabriele Hooffacker : Copycats oder innovativ und integrativ?. Ein Vorschlag zur Beurteilung von »Alternativmedien«. In: Journalistik, 3, 2020, 3. Jg., S. 250-261. DOI: 10.1453/2569-152X-32020-10982-de

ISSN

2569-152X

DOI

https://doi.org/10.1453/2569-152X-32020-10982-de

Erste Online-Veröffentlichung

Dezember 2020