Von Fritz Hausjell und Wolfgang R. Langenbucher
Die Idee, die besten Bücher von Journalist:innen auszuwählen und vorzustellen, ist ein Projekt des Instituts für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft der Universität Wien, mitbegründet von Hannes Haas (1957-2014), zusammengestellt von Wolfgang R. Langenbucher und Fritz Hausjell. Es startete mit der ersten Ausgabe im Jahre 2002 in der von Michael Haller begründeten Vierteljahreszeitschrift Message. Nach deren Einstellung wurden die Auswahlen ab 2015 im Magazin Der österreichische Journalist dokumentiert. 2020 und 2021 kam es in Folge der Covid-Pandemie zu einer Unterbrechung. Mit der Journalistik ist 2022 ein neuer Publikationsort gefunden worden.
Platz 1 bis 3
1. Evelyn Roll (2023): Pericallosa. Eine deutsche Erinnerung. München: Droemer Verlag, 428 Seiten, 26,- Euro.
Als Buchjournalistin debütierte Evelyn Roll 1990 mit einer Biographie über Oskar Lafontaine; prominent wurde sie als Redakteurin der Süddeutschen Zeitung, wo sie Mitglied der Hauptstadtredaktion war und mit einem – immer wieder fortgeschriebenen – Werk zur Porträtistin der Langzeitkanzlerin Angela Merkel wurde. Ihre thematisch breit gestreuten Reportagen waren mehrfach preisgekrönte Glanzlichter der legendären »Seite 3« der Süddeutschen. Wer ihre Arbeit verfolgte, konnte nicht ahnen, dass sie sich nebenher zur wissenschaftsjournalistischen Gehirnexpertin entwickelte. »Warum weiß ich das alles? Warum ist Gehirnforschung für mich zu einer Art Obsession geworden in den Jahren, bevor mein eigenes Gehirn explodierte? Reiner Zufall wahrscheinlich. Aber ein interessanter Zufall.« (S. 19) Die Erkrankung zwang ihr eine grauenhafte Leidens- und Rehabilitationsgeschichte auf, die über ein Jahr andauerte; wir Leserinnen und Leser aber kommen so in den Besitz eines singulären journalistischen Werkes.
Es gibt autobiographische Bücher von Journalistinnen und Journalisten über alle möglichen Krankheiten. Aber hat es so etwas schon einmal gegeben? Jemand verfügt über profundes Wissen der modernen Gehirnforschung und ist fähig von innen heraus – nicht beobachtend von außen – zu erkennen, was passiert, versteht die Details der Operation? Faszinierend kommt hinzu, dass sich in diesem Krankheits- und Heilungsprozess auch noch die »Katakomben« (S. 433) ihrer Erinnerung öffnen und eine Familiengeschichte zutage tritt, die von der Nazizeit über die frühe Bundesrepublik bis zur Gegenwart reicht. So hat dieses Buch drei Schichten: Die über Pericallosa (so lautet der Name einer Gehirnarterie), das Wunder ihrer Operation und Heilung; die der Aufklärung über die moderne Spitzenforschung zum menschlichen Gehirn (»Fast alles, was wir heute über das Gehirn wissen, wäre vor dreißig Jahren für unvorstellbar gehalten worden.« S. 157) und – ein ganz anderes Genre – der Roman einer tragisch in die Zeitgeschichte verstrickten Familie.
Was wir solch einer nur spektakulär zu nennenden journalistischen Arbeit, ihrer Kunst, verdanken, formuliert Evelyn Roll so: »Schreiben geht immer noch einen Schritt weiter als Erinnern.« (S. 319) Die Fähigkeit dazu geht über das »gewöhnliche« journalistische Handwerk hinaus (das Roll freilich, auch akademisch, gelernt hat) und gehört mit zu den seltenen Hochbegabungen von Kunst, Musik und Literatur.
2. Herbert Lackner (2023): Als Schnitzler mit dem Kanzler stritt. Eine politische Kulturgeschichte Österreichs. Wien: Ueberreuter, 206 Seiten, 25,- Euro.
Herbert Lackner arbeitete zunächst bei der sozialdemokratischen Arbeiter-Zeitung (1981-88) und wechselte dann zu Österreichs führendem Nachrichtenmagazin profil. Dort wirkte er zunächst als Ressortleiter, um dann 23 Jahre lang bis 2015 als Chefredakteur das Blatt stark zu prägen. Schon damals widmete sich der promovierte Publizist neben der österreichischen Innenpolitik immer wieder zeitgeschichtlichen Themen. Seit seiner Pensionierung publiziert Lackner seine neuen journalistischen Leistungen vornehmlich – wenn auch nicht ausschließlich (zum Beispiel in der Wochenzeitung Die Zeit und im vertrauten profil) – zwischen Buchdeckeln. 2017 erschien der Band Die Flucht der Dichter und Denker. Wie Europas Künstler und Wissenschaftler den Nazis entkamen, 2019 dann Als die Nacht sich senkte. Europas Dichter und Denker zwischen den Kriegen – am Vorabend von Faschismus und NS-Barberei und weitere zwei Jahre später Rückkehr in die fremde Heimat. Die vertriebenen Dichter und Denker und die ernüchternde Nachkriegs-Wirklichkeit.
Der vierte Band in dieser Reihe fokussiert die »Kulturkämpfe« der vergangenen rund 100 Jahre in Österreich. Die oft heftigen Auseinandersetzungen spielten sowohl in den Sphären des elitären Kulturbetriebs als auch in der Populär- und Lebenskultur. Auf der einen Seite standen Konservativismus, Katholizismus, Austrofaschismus, Nationalsozialismus und Antisemitismus, auf der anderen demokratisch Gesinnte mit Lust an freierer Lebensgestaltung und progressiven Gestaltungsmöglichkeiten. In 18 Kapiteln bietet Lackner einem breiten Publikum in leicht verständlicher Form erhellende Einblicke. Er stützt sich auf Fachliteratur aus unterschiedlichen kulturwissenschaftlichen Disziplinen, obgleich die Liste der verwendeten Literatur am Ende des Bandes zeigt, dass er das selbst studierte Fach links liegen lässt. Aber Lackner nutzt außerdem intensiv die Volltextsuche der umfassend digitalisierten Zeitungs- und Zeitschriftenbestände der Österreichischen Nationalbibliothek (»Anno«) und kann so mit etlichen personellen Verbindungslinien zwischen den einzelnen Skandal- und Streitfällen aufwarten.
Die Geschichte, auf die der Buchtitel Bezug nimmt, ist eine Ermutigungsgeschichte für bedrohte Kunst und Kultur (und wohl auch Pressefreiheit). Sie spielt im Jahr 1928: Der damalige christlich-soziale Bundeskanzler hieß Ignaz Seipel und schickte sich an, seinen »Kampf gegen Schmutz und Schund« zu verschärfen. Er lud Schriftsteller wie Arthur Schnitzler, den er einige Jahre davor heftig antisemitisch verunglimpft hatte, in den Metternich-Saal, wohl um die möglichen Reaktionen seiner Gegner auszutesten. Schnitzler hatte einige solidarische Mitstreiter an seiner Seite und stritt kultiviert, aber entschieden mit dem Kanzler. Die Regierung unternahm daraufhin keinen weiteren Versuch, das »Schmutz- und Schundgesetz« zu verschärfen (S. 42-49).
3. Isabel Schayani (2023): Nach Deutschland. Fünf Menschen. Fünf Wege. Ein Ziel. München: Verlag C.H.Beck, 319 Seiten, 26,- Euro.
Im Epilog ihres Buches identifiziert die mit mehreren Preisen ausgezeichnete Journalistin des WDR und Moderatorin des ARD-Weltspiegel Isabel Schayani sieben Mosaiksteine, die hilfreich für die Lösung des großen Menschheitsthemas »Flucht und Vertreibung« sein könnten. Einen dieser Mosaiksteine steuert sie zum Teil selbst bei. Denn, so versicherte ihr Angelika Nußberger, eine ehemalige Richterin am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte: »[U]nsere Arbeit als Journalistinnen, Reporter, Fotograf:innen könne helfen, indem wir berichten und Situationen sichtbar machen. Damit der Ausnahmezustand nicht zur Gewohnheit wird und die Verletzung von Recht deutlich.« Genau das macht Schayani mit und in ihrem Buch: Sie schildert detailreich und gut strukturiert auf den ersten 220 Seiten die ganz unterschiedlichen Fluchtverläufe von fünf Menschen, deren Lebenswege sie zum Teil über mehrere Jahre begleitet hat. Die Portraits vermitteln viel Nähe, sind Ergebnisse von großer Neugier und bezeugen Begegnung auf Augenhöhe und Empathie seitens der Journalistin.
Doch das Buch bietet noch mehr als diese vorzüglich gelungenen tiefen Einblicke in uns zumeist weitgehend unbekannte Erfahrungswelten. Schayani will nicht nur Zugänge schaffen, sie will mit ihrem Journalismus auch Lösungen sondieren. Also stellt sie vier relevanten Akteur:innen (aus Politik, Justiz und Wissenschaft) jeweils die gleichen fünf Fragen:
- »Wie groß ist das Thema Flucht und Migration in der Zukunft? Welche Werte sollten uns im Umgang damit leiten?
- Wem sollen wir Schutz geben und wem nicht?
- Auf welchen Wegen sollen die Menschen uns erreichen?
- Wie hoch sollen die Mauern sein?
- Haben Sie Modelle oder Vorbilder, von denen wir uns etwas abschauen können? Was sind funktionierende und menschliche Lösungen?« (S. 236f.)
Am Beginn des vorletzten Teils schreibt Schayani: »Mein Sohn Kilian meinte dann, wenn es dir wirklich um Augenhöhe und konstruktive Gedanken geht, warum lässt du hier zum Schluss die fünf, die eine Flucht hinter sich haben, nicht auch zu Wort kommen?« (S. 281). Sie realisierte klugerweise auch diese Idee. Es wurden weitere lesenswerte Seiten.
Im finalen Epilog filtert sie aus ihrem mehrstufigen Werk schließlich die bereits erwähnten sieben Mosaiksteine eines problemlösenden Zugangs zu diesem herausfordernden Thema. 15 Seiten Fußnoten bieten zahlreiche Quellenbelege, ein Literaturverzeichnis nützliche Literatur und Seiten im Internet für weitere Vertiefungen.
Isabel Schayani ist mit diesem Buch ein Meisterwerk des konstruktiven Journalismus gelungen, das wir angehenden Journalist:innen ebenso zur Lektüre empfehlen wie Verantwortlichen in Politik und Verwaltung.
Platz 4 bis 10
4. Harald Fidler (2023): So funktioniert Österreichs Medienwelt. Mechanismen, Machtspiele und die Zukunft der Medien. Wien: Falter Verlag, 231 Seiten, 24,90 Euro.
Teile von Österreichs Medienwelt wurden in den letzten Jahren durch Ermittlungen der Staatsanwaltschaften mit schweren Korruptionsvorwürfen konfrontiert, die zum Rücktritt sowohl des Bundeskanzlers Sebastian Kurz als auch seines Medienbeauftragten geführt haben. Unter anderem geht es um üppige Regierungsinseratenaufträge, die nach Gutsherrenart an jene Medien vergeben wurden, die regierungsaffine Linien entwickelten. Zwei Chefredakteure und ein ORF-Landesdirektor mussten abtreten, weil sie kompromittierende Nähe zu führenden Politikern aufwiesen. Der Verfassungsgerichtshof ordnete weniger Parteieneinfluss bei der Beschickung der Steuerungsgremien des öffentlich-rechtlichen Rundfunks an. Zwei Tageszeitungen starben im letzten Jahr, womit der Vielfalt auf gerade noch 12 Titel reduziert ist. Zugleich erschüttern heftige Kündigungswellen in kürzer werdenden Abständen die meisten Medienhäuser.
Der einflussreichste und bestinformierte Medienjournalist des Landes, Harald Fidler, arbeitet bei der Tageszeitung Der Standard. Er hat Kolleg:innen zu Beiträgen eingeladen, um möglichst viele Themen für einen Status Quo der journalistischen Medien in Österreich abzudecken. Zugleich versucht der Band einem breiten Publikum zu erklären, warum Journalismus immer noch gebraucht wird, obwohl doch jetzt über so viele neue Kanäle allerlei Informationen zu haben sind. Ein wichtiges Buch, das hoffentlich nicht zu spät kommt.
5. Erich Kästner (2023): Resignation ist kein Gesichtspunkt. Politische Reden und Feuilletons. Herausgegeben von Sven Hanuschek. Zürich: Atrium Verlag, 239 Seiten, 23,- Euro.
Runde Geburtstage und sich jährende Todestage zeitigen regelmäßig publizistische Hervorbringungen. Dafür muss man nicht immer dankbar sein, weil vieles nur wiederholt wird. Aber im Fall des 125. Geburtstages und des in diesem Jahr zugleich 50. Todesjahres Erich Kästners bekommen wir aus dem Züricher Atrium Verlag diesen lesenswerten Band. Kästner war in seinen jungen Jahren Journalist und Theaterkritiker, dürfte »schon vor 1933 mehrere tausend Artikel« geschrieben haben. Mit zunehmendem Alter wurde er wieder stärker Feuilletonist. Der neue Band bietet 43 Texte, die ihn als politischen Autor (und Redner) zeigen. Details dazu bietet die »Editorische Notiz« auf S. 203f., nützliche Informationen zu Kästners frühen journalistischen Leistungen in der Weimarer Republik bietet der Herausgeber auf den Seiten 193-199.
Sven Hanuschek konstatiert treffend: »Bei aller unbezweifelbaren Historizität der Texte verhandelt er doch immer wieder Themen, die uns auch heute bewegen – Fragen von Satire und Zensur, Populismus und ansteigendem Nationalismus, Krieg, Aufrüstung und Vergessen«.
6. Christoph Franceschini, Artur Oberhofer (2023): Das Geschäft mit der Angst. Die Fakten und Hintergründe zum Masken-Skandal. Ein Südtiroler Wirtschaftskrimi. Bozen: edition arob, 606 Seiten, 28,50 Euro.
Ein beklemmendes Sittenbild tritt zutage, wenn man diesen Südtiroler Wirtschaftskrimi liest, der bis nach Österreich und Deutschland reicht. Auf 606 Seiten (!) werden Geschäfte zur Beschaffung von dringend notwendigen Materialen zur Bekämpfung der Covid-Pandemie ab Frühjahr 2020 dargelegt. Viele der Materialien waren schadhaft und gefährdeten daher vermutlich Gesundheitspersonal und von Ansteckung bedrohte Bürger:innen.
Der Band ist gut strukturiert aufgebaut und anregend illustriert. Ausschließlich sachlich berichtend überlassen die beiden Autoren – zwei renommierte Südtiroler Journalisten – den Leser:innen die Schlussfolgerungen. »Wir erzählen lediglich das, was war.« (S. 10) Ihre Datenbasis: Über 10.000 Aktenseiten, mehrere hundert Stunden Telefonmitschnitte und unzählige WhatsApp-Chatverläufe – Ermittlungsmaterial der Carabinieri-Sondereinheit NAS aus zahlreichen Hausdurchsuchungen, Telefonüberwachungen und beschlagnahmten Mobiltlefonen.
7. Paul Krisai, Miriam Beller (2023): Russland von Innen. Leben in Zeiten des Krieges. Wien: Paul Zsolnay Verlag, 200 Seiten, 24,- Euro.
Ein schmaler Band, aber voll gepackt mit all den Informationen, die sich jede und jeder seit Beginn des russischen Angriffskrieges angesichts der medialen Berichterstattung immer wieder stellt: »Wie arbeitet man eigentlich unter der Zensur?« (S. 28) Die bewundernswert mutigen Antworten geben hier die beiden bis 2023 in Moskau tätigen ORF-Korrespondent:innen. Im Nachwort schreiben sie ungeschützt: »In der Zeit, in der wir Russland von innen erlebt haben, hat sich dieses Land in eine kriegführende Diktatur verwandelt.« (S. 194).
Bange Fragen: Wie lange werden sie – und die zahlreichen Vertreter anderer Medien – noch offen wie bisher berichten können? Sind sie beziehungsweise nun ihre Nachfolger:innen auf diesem Posten in Russland genug gesichert, um nicht Putins Unrechtsjustiz fürchten zu müssen?
8. Peter R. Neumann (2023): Logik der Angst. Die rechtsextreme Gefahr und ihre Wurzeln. Berlin: Rowohlt Berlin Verlag, 208 Seiten, 22,- Euro.
Bei der Auswahl der Verlagsprodukte gilt ein rigoros eingehaltenes Kriterium: Es muss sich um ein Produkt einer Journalistin oder eines Journalisten handeln. Diese Sachlage ist meist eindeutig klärbar; nur selten gibt es Überschneidungen zum Typ politisches oder Sachbuch. Der Autor dieses Buches ist Professor für Sicherheitsstudien, also Wissenschaftler. Nun notiert aber sein Verlag, Neumann schreibe u. a. für den Spiegel und die New York Times. Offensichtlich bleibt das nicht ohne Einfluss und befähigt ihn – wie hier – zum Buchjournalisten. Ähnliche Beispiele werden häufiger, nicht zuletzt dank der Hilfe von literarischen Agenten, Lektoren und einfallsreichen Verlegern. Den Gewinn haben wir Leser:innen: journalistisch vermitteltes Wissen aus erster Hand zu einem brisanten Zeitthema.
9. Adam Soboczynski (2023): Traumland. Der Westen, der Osten und ich. Stuttgart: Klett-Cotta, 170 Seiten, 20,- Euro.
Auch der Buchmarkt beweist, wie sehr die Bundesrepublik (und auch Österreich) davon profitiert, ein offenes Einwanderungsland zu sein. Kaum noch überschaubar vor allem die Romanliteratur. Einer der dazu höchst erfolgreich beitrug, ist der aus Polen eingewanderte Journalist Adam Soboczynski, heute Leiter des Ressort Literatur im Feuilleton der Zeit. Inzwischen zeugt ein breites Werk, so auch dieser schmale, aber inhaltlich reichhaltige Band, was uns dieser migrantische Journalismus lehrt: eine tiefere, bessere Kenntnis der Gegenwartsgesellschaft.
10. Bettina Musall (2023): Das kann gut werden. Wie der Einstieg in den Ruhestand zum Aufbruch in ein neues Leben wird. München: C. Bertelsmann, 303 Seiten, 24,- Euro.
Ich gestehe, das Buch betrifft mich direkt: Ich gehe in einem halben Jahr in Pension, wie wir in Österreich sagen; mein Koautor Wolfgang R. Langenbucher ist schon seit langem emeritiert. Als Beamter bezieht man fortan den »Ruhegenuss«. Das klingt fast noch besser als Pension. Aber es gilt, mit weniger auszukommen. Bettina Musall war von 1985 bis 2021 Redakteurin beim Spiegel und hat nun als freie Autorin und Journalistin in München lebend den eigenen Wechsel in den neuen Lebensabschnitt beruflich gemeistert, indem sie dieses nützliche Buch recherchierte und schrieb.
Sie hat sehr gründlich die Forschungsbefunde der Altersforscher:innen, Psychotherapeut:innen und Soziolog:innen studiert und ebenso bei betroffenen Prominenten nachgelesen und gefragt, welche Herausforderungen und Chancen mit dem mitunter abrupten Eintritt in einen neuen Lebensabschnitt mit deutlich anderem Tagesablauf sich auftun. Durch die Vielfalt der Aspekte und Entscheidungsmöglichkeiten, die Musall in ihrem Buch thematisiert, sowie die Vermeidung von expliziten Empfehlungen wird diese Beratungslektüre eine sympathisch auf Augenhöhe ankommende, in der man gerne weiterliest – zumal es auch noch sehr gut getextet ist.
Extra: Eine Übersetzung
John Vaillant (2023): Die Bestie. Wie das Feuer von unserem Planeten Besitz ergreift. Aus dem Englischen von Iris Hansen und Teja Schwaner. München: Ludwig Verlag (Penguin Random House Verlagsgruppe), 526 Seiten, 24,- Euro.
Wer erinnert sich nicht an die Bilder der europa- und weltweiten verheerenden Brände aus dem Sommer des Jahres 2023? Wer nicht an den erschütternden Brand der Kathedrale von Notre Dame in Paris 2019? Warum überwältigen uns solche Katastrophen, wie entstehen sie und warum lassen sie sich nicht verhindern? Die Antworten auf solche und zahlreiche ähnliche Fragen gibt mit geradezu enzyklopädischem, wissenschaftlichem Anspruch dieses umfangreiche Buch. Sein Verfasser: der in USA geborene, heute in Kanada lebende Journalist John Vaillant (*1962), Bestsellerautor (Am Ende der Wildnis) und Mitarbeiter führender englischsprachiger Magazine. Sein aktuelles Werk, das thematisch weit in die Geschichte zurückreicht, demonstriert, was Journalismus an Vorarbeit leisten und an Gestaltung können muss, um einem derartigen Thema angemessen zu begegnen. Um das zu begreifen, muss man sich den Anhang anschauen: Die Anmerkungen zu den 500 Seiten Text machen 37 Seiten aus, die Bibliographie drei Seiten und die Liste der Gesprächspartner, denen er dankt, vier Seiten.
Gewidmet ist dieses journalistische Monumentalwerk »Wissenschaftler:innen und Visionär:innen«, also jener zentralen Institution unserer Zivilisation, in deren Dienst es sich vermittelnd stellt. Was Vaillant akribisch an Fakten und Wissen zusammenträgt und mit der Detailgenauigkeit des Reporters verarbeitet, verdient Bewunderung. Es ist der weit ausgreifende Duktus eines Erzählers mit dem der kaum übersehbare Stoff für die Leser:innen überschaubar wird und seinen Zusammenhang gewinnt. Was uns in der Nachrichtenberichterstattung nur wie eine unbegreifliche Katastrophe erscheint, wird so zur faszinierenden Theorie des Feuers. Wissenschaftlich sind hier noch viele Fragen offen, die erforscht werden müssen. Denn die Bestie Feuer hinterlässt schon heute apokalytische Verwüstungen, die größer sind als die einer Wasserstoffatombombe (S. 128). Und mit dem anhaltenden Wachsen der Weltbevölkerung schaffen wir die technischen und klimatischen Voraussetzungen, um dieser Bestie stetig neue und günstigere Nahrung zu geben. Vaillants Beschreibungen verwüsteter Städte lassen schaudern – und begreifen, dass das Feuer von unserem Planeten Besitz ergreift: jedes Streichholz ein Weltbrand.
Die Übersetzung des Buchjournalismus wurde gefördert durch die Ludwig-Delp-Stiftung.
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Zitationsvorschlag
Fritz Hausjell und Wolfgang R. Langenbucher: Die Top 10 des Buchjournalismus. Hinweise auf lesenswerte Bücher von Journalist:innen. In: Journalistik. Zeitschrift für Journalismusforschung, 1, 2024, 7. Jg., S. 112-119. DOI: 10.1453/2569-152X-12024-13940-de
ISSN
2569-152X
DOI
https://doi.org/10.1453/2569-152X-12024-13940-de
Erste Online-Veröffentlichung
Mai 2024