Die Top 10 des Buchjournalismus Hinweise auf lesenswerte Bücher von Journalist*innen

Von Fritz Hausjell und Wolfgang R. Langenbucher

Die Idee, die besten Bücher von Journalist*innen auszuwählen und vorzustellen, ist ein Projekt des Instituts für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft der Universität Wien, mitbegründet von Hannes Haas (1957-2014), zusammengestellt von Wolfgang R. Langenbucher und Fritz Hausjell. Es startete mit der ersten Ausgabe im Jahre 2002 in der von Michael Haller begründeten Vierteljahreszeitschrift Message. Nach deren Einstellung wurden die Auswahlen ab 2015 im Magazin Der österreichische Journalist dokumentiert. 2020 und 2021 kam es in Folge der Covid-Pandemie zu einer Unterbrechung. Mit der Journalistik ist 2022 ein neuer Publikationsort gefunden worden.

1. Antonia Rados (2022): Afghanistan von innen: Wie der Frieden verspielt wurde. Wien: Brandstätter Verlag, 328 Seiten, 25,- Euro.

»Die Fronten sind überall« überschrieb Antonia Rados ihre zwei Vorlesungen zur Poetik des Journalismus als Theodor-Herzl-Dozentin an der Universität Wien (Picus Verlag 2009, hrsg. von Hannes Haas). Von einer dieser Fronten – Afghanistan – berichtet sie nun in einem der Zeitgeschichtsschreibung vergleichbaren Duktus als legendäre Reporterin von den über Jahrzehnte wiederholten Reisen und Recherchen aus diesem geschundenen Land. Was so entstand, ist ein Opus Magnum, das nicht nur von der beispielhaften Leistung dieser prominenten österreichischen Fernsehjournalistin zeugt, sondern auch von einer Generation internationaler Kriegsreporterinnen, die einfühlsam unsere Vorstellungen von einer – meist unfriedlichen – Welt in den letzten Jahrzehnten geprägt haben. Rados beginnt ihre Geschichte mit dem Einmarsch der sowjetischen Streitkräfte in Afghanistan und beendet sie Jahrzehnte und viele Krisen und Machtwechsel später mit dem Abzug des westlichen Militärs und der Entwicklungshelfer:innen sowie den katastrophalen Folgen dieser Entscheidung. Die Zeiten waren selten ruhig – und häufig gefährlich für die Journalistinnen und Journalisten. Passagen dazu machen die Lektüre atemlos, wenngleich man lernt, dass Überleben auf beruflicher Erfahrung oder auf Zufall beruhen kann. Journalismus kann tödlich sein, Reporter ohne Grenzen berichtet regelmäßig darüber. Antonia Rados selbst überlebte alle Gefahren und erwarb so im Laufe der Jahrzehnte ein geradezu enzyklopädisches Wissen, das sie nun mit dramaturgischer journalistischer Erfahrung und bewundernswerter Präsenz bei allem Umfang zu einem faszinierenden Lesestück großen Formates ausarbeitete. Bitter ist es durch die Lektüre zu begreifen, wie viele politische Irrtümer und Fehler zu dem Desaster geführt haben, in dem sich das Land jetzt befindet. Der Gedanke drängt sich auf: Vielleicht wissen zumal Journalistinnen es besser, weil ihre Wahrnehmung umfassender und sensibel ist? Jedenfalls steht ihre Wahrheit der des Heeres von Presseoffizieren und Pressesprechern entgegen, die »mit einem Dauerregen von Meldungen und Videos« (S. 195) die westliche Öffentlichkeit mit »missbrauchten Fakten« überfluten: »Manipulation ist die Regel« (ebd.). Das Buch endet mit dem Kapitel »Rette sich, wer kann« und dokumentiert (auch mit vielen Fotos, wie im ganzen Werk) die unwürdige Evakuierung im Jahr 2021. Kabul ist wieder an die Taliban gefallen. Gleichwohl endet Antonia Rados optimistisch: »Im Osten geht die Sonne auf.« Ihr letzter Satz: »Gestern ist nicht vorbei in Afghanistan.«

2. Erhard Stackl (2022): Hans Becker 05. Widerstand gegen Hitler. Wien: Czernin Verlag, 416 Seiten, 28,- Euro.

Wer Bescheid weiß, kann das Zeichen an der Außenwand des Stephansdoms in Wien nicht übersehen: O 5. Die meisten Passant*innen gehen achtlos daran vorüber. Dabei verbirgt sich dahinter ein dramatisches Kapitel der unglücklichen Geschichte Österreichs. Unter diesem Symbol war Ende 1944 eine Widerstandsorganisation aufgetreten, deren zentrale Figur Hans Becker war (1895-1948). Ihr Anspruch war kühn und angesichts der nazistischen Mordherrschaft lebensgefährlich. Sie sah sich als Kern einer künftigen österreichischen Regierung und wollte die Welt auf sich aufmerksam machen. Auch heute, viele Jahrzehnte nach Kriegsende und in demokratischen Zeiten, werden diese Gruppe und ihre Protagonisten in Österreich nicht so adäquat gewürdigt wie z. B. die Geschwister Scholl in Deutschland. Für den ehemaligen Profil– und Standard-Journalisten Erhard Stackl war dies ein gewichtiges Motiv in einer breit angelegten Recherche dem Thema »Widerstand gegen Hitler« nachzugehen. Erzählerisch geschickt ordnet er seine eindrucksvolle Stofffülle entlang des wahrhaft abenteuerlichen Lebens von Hans Becker; er war Fliegeroffizier, Wissenschaftler, Werbechef der Regierung Dollfuß im Ständestaat (Vaterländische Front), Gefangener in Dachau und Mauthausen, Organisator des Widerstands gegen die Nazibesatzung und nach Kriegsende Botschafter seines Landes in Chile. Dort wurde er im Alter von 53 Jahren Opfer eines Mordes; schandbar lange musste seine Witwe um eine Versorgung für sich und ihre Kinder mit der österreichischen Regierung kämpfen.

Das umfangreiche Buch von Erhard Stackl mit 30 Seiten Anmerkungen und Bibliographie ist Journalismus und Zeitgeschichte in einem. Es lebt nicht zuletzt von erhellenden und aussagekräftigen Funden wie etwa den Schilderungen Beckers einer zufälligen Teilnahme an einer Rede Hitlers in München vor 1933. Becker nennt Hitler einen gefährlichen Halbnarren, der vor allem Verlierertypen anziehe. Zufällig gerät er auch noch in eine vornehme Abendgesellschaft und muss erleben, dass auch wohlhabende, vornehme Bürgerliche dem »Hysteriker« verfallen. Ähnliche Passagen lehren, auch heute wachsam zu sein. Mit seinen vielen Rollenwechseln ist Becker für einen Biographen kein einfacher »Held«, aber doch ein Sympathieträger, der es mit seinem Alte-Welt-Charme schafft, auch in Chile als Menschenfänger zu wirken – so wie es ihm in schwierigsten Zeiten gelang, viele Österreicher:innen für den Widerstand zu gewinnen.

3. Lars Haider (2022): Das Phänomen Markus Lanz. Auf jede Antwort eine Frage. Essen: Klartext Verlag, 320 Seiten, 25,- Euro.

Die kaum noch überschaubaren, erst recht nicht alle regelmäßig verfolgbaren Talkshows im öffentlichen und privaten Fernsehen haben zwar nachweisbar ihr treues Publikum, aber unter Kolleginnen, Intellektuellen, Medienkritikerinnen und Wissenschaftlern herrscht eher Skepsis, wenn nicht gar Ablehnung und Hass, weil mit diesem Fernsehformat die politische Debattenkultur eine problematische Entwicklung genommen hat. Die explizite Auseinandersetzung damit bleibt aber selten – möglicherweise weil die Masse des Stoffes kaum bewältigbar ist. Immerhin ist das Bändchen des jungen Politikwissenschaftlers Oliver Weber beachtet worden (Talkshows hassen. Ein letztes Krisengespräch, Stuttgart 2019). Nichtsdestotrotz reihte sich weiter Sendung an Sendung, die sich angesichts der dramatischen Zeitläufte in Inhalt und Wirkung auch deutlich veränderten. Deshalb ist es geradezu verdienstvoll, wenigstens eines dieser Formate, Markus Lanz, gründlich zu analysieren. Dieser zeitraubenden Aufgabe hat sich der Chefredakteur des Hamburger Abendblatts, Lars Haider, angenommen, dessen Porträt über Olaf Scholz 2022 viel beachtet wurde. Wer Lanz lange nicht mehr gesehen hat, mag sich über dieses Interesse wundern – aber nicht mehr nach der Lektüre dieser materialreichen und intensiv recherchierten Studie. Denn: »Dies ist die Geschichte einer Wandlung, wie es sie im deutschen Fernsehen nicht oft, vielleicht noch nie gegeben hat.« Kurz: Aus einer Sendung, die kaum ernst genommen wurde, entwickelte sich nach Meinung vieler die »beste politische Talkshow«. Diese These belegt Lars Haider mit seinem ständigen »Leben mit Lanz« von der Woche 1 bis zur Woche 25 des Jahres 2022.

Zum bemerkenswerten Dokument aber werden die kontinuierlichen, leidenschaftlich genossenen Seheindrücke erst durch die Kontextualisierungen, die der erfahrene politische Journalist diesem Material verpasst. So lernen wir vor allem, welchen so nicht geahnten Einfluss die ständige Talkerei auf politische Karrieren und auch Entscheidungen hat. Zusammen mit den (un-)sozialen Medien hat das die politische Kultur des Landes in eher problematischer Weise verändert – vor allem durch die damit bewirkte Schwächung der Parlamente. Zum Paradeproblem dafür wurde die Pandemie, in deren Verlauf nicht wenige Abgeordnete und Funktionsträger:innen mit größerer Begeisterung bei Lanz auftraten und dem Bundestag dadurch seine Würde raubten.

Dieses Buch ist so überraschend wie verdienstvoll. Es dokumentiert, wie voraussetzungsreich eine solche Sendung ist, die man sich herbeizappt, ohne zu ahnen, wie folgenreich sie Teil des modernen politischen Systems geworden ist.

4. Mark Schieritz (2022): Olaf Scholz. Wer ist unser Kanzler? Frankfurt/M.: Verlag S. Fischer, 176 Seiten, 20,- Euro.

Der Untertitel dieses Buches des Zeit-Journalisten Mark Schieritz Wer ist unser Kanzler? war seit dem Amtsantritt von Olaf Scholz eine öffentliche Dauerfrage. Die hier versuchten Antworten gelten weniger der Karriere und dem Leben des Politikers Scholz als seinem politischen Denken. Scholz‘ Politikverständnis wird hier rekonstruiert und deutlich wird, dass es eine geradezu vertrauenerweckende Systematik und Kontinuität aufweist. Wir lernen: Man wird nicht zufällig Kanzler der Bundesrepublik Deutschland, sondern weil man mit konsequenter Leidenschaft eine universelle Idee von diesem Land und seiner Zukunft hat. So ist seine Respektphilosophie weit mehr als ein Wahlkampfslogan – es ist eine Zukunftsvision gegen den (gescheiterten) Neoliberalismus. Wie Scholz versucht, aus dieser Idee praktische Politik zu machen, schildert der Mark Schieritz, wodurch sein Buch auch zu einer Einführung in die Regierungskunde unter den so schwierigen Bedingungen der heutigen Medienwelt wird. Entgegen mancher Vorurteile über den schweigenden Kanzler ist sein politisches Handwerkszeug das Instrument der Verhandlung. In der Tagesberichterstattung bleibt das eher verborgen. Doch ohne Verhandlungen werden sich die anstehenden Probleme nicht lösen lassen.

5. Danny Schlumpf, Mario Nottaris (2022): Das Rentendebakel. Wie Politik und Finanzindustrie unsere Vorsorge verspielen. Und warum kaum Zeit für Reformen der zweiten Säule bleibt. Zürich: Rotpunktverlag, 219 Seiten, 28,- Euro.

Es ist ein schmaler Band über die Rentenprobleme eines Kleinstaates, doch es geht beim Thema Rente und Alterssicherung um sehr viel mehr. Das zeigen die anhaltenden Proteste in Frankreich. Auch in Deutschland sind Renten ein Dauerthema. Dabei kreisen die politischen Debatten vor allem um zwei Aspekte: das Renten-Eintrittsalter und den demographischen Wandel. Beides stellt die bisherigen Grundlagen des Systems infrage. In der Schweiz greift seit vier Jahrzehnten eine grundlegende Reform: Alle, die in der Schweiz einer Arbeit nachgehen und dafür einen Lohn erhalten, müssen seit 1985 zur Altersvorsorge in eine Pensionskasse einzahlen. So kommen jährlich und in der Akkumulation gigantische Summen zustande. Die beiden Journalisten – Danny Schlumpf vom SonntagsBlick und Mario Nottaris von SRF ZV – unterziehen die in Jahrzehnten politisch zu wenig geordneten und kontrollierten Zustände einer, ja, gnadenlosen Kritik. Rentenfragen sind in allen Ländern so kompliziert, dass man sie als Laie kaum versteht. Wie hilfreich da Journalismus sein kann und muss, lehrt dieses Buch.

6. Bettina Dyttrich (2022): »Es hilft, dass ich Leute anschreien darf«. Schweizer Popmusiker:innen erzählen. Zürich: Rotpunktverlag, 271 Seiten, 44,- Euro.

Bettina Dyttrich, 1979 geboren, ist Redakteurin der in Zürich erscheinenden »linken« (Selbstbezeichnung) WOZ – Die Wochenzeitung. Frühere Bücher von ihr behandelten ökologische Themen, seit ihrer Jugend beschäftigt sie sich aber auch mit Popmusik, speziell in der Schweiz. So entstand ein erstaunliches Werk: umfangreich, informativ und spannend zu lesen, weil mit allen bewährten Mitteln journalistischer Recherche und Darstellung produziert. Auch wer in die Kultur der Popmusik nicht tiefer eingedrungen ist, aber sie als Signatur der Zeit in ihrer Allgegenwart zu begreifen versucht, erfährt hier all die Fakten und Hintergründe dieser Musikwelt. Dies lässt sich seit langem auch an der einschlägigen Musikkritik vieler Qualitätsmedien beobachten und wird mit diesem Buch von Bettina Dyttrich für die Schweiz sozusagen monographisch geadelt. Ein wichtiger Beitrag zum Lesevergnügen sind die Fotos von Florian Bachmann und Tatjana Rüegsegger.

7. Daniel Kalt (2023): Staat tragen. Über das Verhältnis von Mode und Politik. Wien: Verlag Kremayr & Scheriau, 216 Seiten, 24,- Euro.

Der Journalismus als Kulturtechnik verfügt über bewährte Mittel, sich mit popkulturellen Phänomenen auseinanderzusetzen. Das zeigt auch der Band von Daniel Kalt, Redakteur der Tageszeitung Die Presse, über das Verhältnis von Mode und Politik. Wer regelmäßig oder auch nur gelegentlich politische Sendungen im Fernsehen sieht, kennt, ohne darüber groß nachzudenken, all die bemerkenswerten Erscheinungsformen im Verhältnis von Mode und Politik. Im Stil ambitionierter Essayistik und mit einer Fülle von Material verschafft uns Daniel Kalt eine aufklärende, differenzierte Sicht auf das gezielte Design moderner Politik, die allzu häufig mehr von Bildern als von Inhalten bestimmt ist.

8. Stefan Ulrich (2022): Und wieder Azzurro. Die geheimnisvolle Leichtigkeit Italiens. München: dtv Verlagsgesellschaft, 366 Seiten, 13- Euro.

Eigentlich ist Stefan Ulrich ein promovierter Jurist, aber schon während seines Studiums versuchte er sich erfolgreich als Journalist, kam früh zur Süddeutschen Zeitung, durchlief dort viele Stationen, bis ihn das Blatt 2005 zum Korrespondenten in Rom machte. Dieser Posten bestimmte in Hinkunft sein schreiberisches Schicksal; jedes der nun in regelmäßiger Folge erscheinenden Bücher wurde zum Erfolg und diente vielen zur Orientierung bei Reisen in Italien. Das gilt auch für diesen Titel, in dem er nochmals wie neu in dieses Land startet, um in einer zweimonatigen Reise vom Brenner bis nach Sizilien (auf dem Tacho 4012 Kilometer!) die Frage seiner Tochter zu beantworten: »Was begeistert dich eigentlich dermaßen an Italien?« Mit den Antworten in 29 Kapiteln nimmt man als Leserin und Leser an einer literarischen (Goethe…), kulturellen, kulinarischen und soziologischen Entdeckungsreise teil, die kenntnisreich über die übliche Reiseliteratur hinausgeht. Stefan Ulrich ist ein begeisterter Journalist, der sein Publikum zu unterhalten und zu bereichern versteht.

9. Raimund Löw (2022): Welt in Bewegung. Warum das 21. Jahrhundert so gefährlich geworden ist. Wien: Falter Verlag, 224 Seiten, 22,90 Euro.

Manche Neuerscheinungen im Sortiment des Buchjournalismus entstehen aus schon in periodischen Medien erschienen Texten, Reportagen, Leitartikeln, Glossen und der sonstigen Fülle journalistischer Genres. Ironisch wird dann gelegentlich von Buchbinderjournalismus gesprochen. Raimund Löw, 1951 geboren, zeigt eindrucksvoll, wie man einerseits seine Produkte aus Jahrzehnten wieder edieren und dies andererseits so ausgestalten kann, dass sie einen neuen, aktuellen Wert gewinnen. Das Buch ist thematisch gegliedert und bündelt die weit gestreuten Berichtswelten des langjährigen ORF-Korrespondenten. Aus den tagesaktuellen Meldungen werden so weltpolitische Ereignisse mit historischer Tiefenschärfe. Hinzu kommt ihre Einordnung in die Kontexte der jeweiligen Zeit und Sachverhalte. Dies ist nicht das erste Buch von Raimund Löw, aber eines, mit dem er sich in die heute schon legendär gewordene Generation der großen Auslandskorrespondent:innen eingeschrieben hat, die unser Bild von der Welt prägten und prägen.

10. Armin Thurnher (2023): Anstandslos. Demokratie, Oligarchie, österreichische Abwege. Wien: Paul Zsolnay Verlag, 126 Seiten, 19,- Euro.

Armin Thurnher hat längst das Rentenalter erreicht, aber für Journalist:innen gilt diese Grenze nicht, erst recht nicht, wenn Zeit und Politik bis dahin unvorstellbare Pirouetten drehen. Ein zur Legende gewordener österreichischer politischer Kritiker kann da nicht schweigen, wenn sich ins Schlimmste steigert, was er seit Jahrzehnten in seiner Wiener Wochenzeitung Falter und seinen zahlreichen Büchern geißelt. Angesichts der heute Herrschenden fällt ihm da nur noch der Begriff »besch…« ein. Bleibt eine schwache Hoffnung: Der Republik der Anstandslosen geht das Personal aus; »solche Schwäche an der Spitze hält auf Dauer kein Staat aus« (S.126).

Extra: eine Übersetzung

Wojciech Rogacin (2022): Selenskyj. Die Biographie. Aus dem Polnischen von Benjamin Voelkel. Berlin u.a: Europaverlag, 256 Seitein, 20,- Euro.

Die anhaltend prekären Weltereignisse bringen mit sich, dass nicht nur die Werke englischsprachiger Journalistinnen und Journalisten regelmäßig ediert werden, sondern – Jahrzehnte nach dem Übersetzungsboom von Ryszard Kapuściński (1932-2007) – auch das aktuelle Buch eines renommierten, prominenten polnischen Journalisten, des 1968 geborenen Wojciech Rogacin. Mit der Biographie Selenskyj verfasste er ein Werk in einem Genre, das in vielen politischen Kulturen zu den journalistischen Klassikern geworden ist. So erfahren heute erstaunlicherweise auch Personen schon am Anfang ihrer politischen Karriere eine solche Würdigung. Auch der Präsident ist noch – relativ – jung, aber ihn hat das beispiellose Schicksal seines Landes zu einer Figur gemacht, über die man möglichst viel wissen will, wissen muss. Diesem Bedürfnis wird das Buch von Rogacin auf eine überwältigende, auch aus der räumlichen Nähe gespeisten Fülle von Informationen, Stimmen, Beobachtungen und Deutungen gerecht. Da die Ukraine in den vergangenen Jahren in der öffentlichen und journalistischen Wahrnehmung nicht sehr prominent behandelt wurde, quollen die Archive mit Material nicht gerade über. Umso eindrucksvoller ist, wie viele Quellen Rogacin aufgespürt hat und hier mit seinen Recherchen zusammenführt. So erfährt man viel vor allem über die künstlerischen und unternehmerischen Jahre und Selenskyjs große Erfolge im Kabarett, auf der Bühne und im Fernsehen (»reichster Showman der Ukraine«, S. 91), bevor er sich zu einer politischen Karriere entschloss. Sie begann so vielversprechend, dass sich seine kritischen Beobachter:innen im In- und Ausland nur eher selten wunderten, wie ihm der durch den von Putins Angriff erzwungene Rollenwandel in geradezu modellhafter Weise gelang. So wie er in den Jahren seiner künstlerischen Existenz mit größtem Erfolg die Bühnen seines Landes bespielte, so bediente er sich nun aller modernen Kommunikationsinstrumente und machte die Welt zu seiner und seines Landes Bühne. Dieser Wandel und Neustart waren kein Zufall, analysiert Rogacin überzeugend; nur unsere westliche Unkenntnis, ja Ignoranz, nahm diese spezielle ukrainische Kultur kaum wahr. Man sollte diese reich bebilderte Biographie kennen, wenn man die aktuelle Berichterstattung rezipiert. So lernt man mehr über jene Hintergründe, die diesen Krieg singulär machen: die Selbsttäuschungen eines Diktators und die politischen Wirkungen eines großen Bühnentalents. Was künftig geschehen wird, ist erschreckend offen. Aber schon heute, ist Rogacin sicher, gehört dieser ungewöhnliche Präsident zu den »Persönlichkeiten von Weltrang« (S. 249).


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Zitationsvorschlag

Fritz Hausjell, Wolfgang R. Langenbucher: Die Top 10 des Buchjournalismus. Hinweise auf lesenswerte Bücher von Journalist*innen. In: Journalistik. Zeitschrift für Journalismusforschung, 2, 2023, 6. Jg., S. 232-239. DOI: 10.1453/2569-152X-22023-13388-de

ISSN

2569-152X

DOI

https://doi.org/10.1453/2569-152X-22023-13388-de

Erste Online-Veröffentlichung

Juli 2023