Warum sprechen wir heute alle über KI, Künstliche Intelligenz? Einem Gastbeitrag der U.S.-amerikanischen Forscherin Meredith Whittaker auf netzpolitik.org[1] verdanke ich eine einleuchtende Erklärung: Das ist ein Narrativ. Demnach hat der Kognitions- und Computerwissenschaftler John McCarthy in den 1950er-Jahren den Begriff erfunden, um besser Fördermittel für seine Forschungen einwerben – und unliebsame Konkurrenz, in diesem Fall den Informatiker Norbert Wiener, ausgrenzen zu können. Deshalb habe sich der phantasievollere Begriff »Künstliche Intelligenz« gegenüber »Kybernetik« durchgesetzt.
Das Narrativ »Künstliche Intelligenz«, das sich mit vielen Inhalten füllen lässt, sei eigentlich Public Relations, ein Beispiel für erfolgreiche Wissenschafts-PR. Meredith Whittaker weist in dem lesenswerten Beitrag auch auf die unsichtbare menschliche Arbeit hin, die in den riesigen Datenmengen steckt, mit denen generative KI-Plattformen trainiert werden. Unter anderem warnt sie vor den Gefahren der »extraktiven Logik« dieser Plattformen. Die Gesellschaft müsse sich klarmachen, dass die Datenbasis und die Algorithmen, die sie bearbeiten, auf bereits existierenden Texten beruhen, mit allen Stärken und Schwächen.
Kim Björn Becker arbeitet in seinem Aufsatz »Neues Spiel, neue Regeln« in dieser Ausgabe diese Schwächen beim Einsatz von KI im Journalismus heraus. Ihn hat die Frage interessiert, wie internationale Medien und Presseagenturen aktuell mit KI umgehen. Becker kann zeigen, »dass Medien sich zwar bereits mit wesentlichen Fragen der neuen Technik beschäftigen, es in Newsrooms aber noch blinde Flecken beim Umgang mit KI gibt.« Insbesondere der sogenannte »algorithmic bias« wird von den Medien häufig ignoriert – nur zwei der untersuchten Medien zeigen ein Bewusstsein für diese Problematik.
Auch KI-Unternehmen seien vor allem Unternehmen mit ökonomischen Interessen, hat Meredith Whittaker hervorgehoben. Im Bereich der Zeitungsunternehmen hat Karl Bücher die Unterordnung der journalistischen Qualität unter die Abhängigkeit vom Anzeigengeschäft bereits 1926 als den »wahren Sitz des Übels« kritisiert, wie Horst Pöttker in seinem Aufsatz über »Karl Büchers Reformkonzept« darlegt.
Laut Bücher würde dadurch im redaktionellen Teil alles »von Haus aus von der Behandlung ausgeschlossen werden«, was den Anzeigenteil, das ökonomische Lebenselixier der Zeitung, »schädigen könnte«. Um die ökonomische Abhängigkeit vom Anzeigenteil zu brechen, schlägt Pöttker die Ausweitung des öffentlich-rechtlichen Organisationsprinzips vom Rundfunk auch auf andere Medienbereiche vor. Bereits Karl Bücher schwebte eine ökonomische und organisatorische Trennung von Werbung und Journalismus durch ein öffentliches Inseratenmonopol vor.
Ist das umsetzbar? »Der Weg, welcher hier vorgeschlagen wird, würde von dem gegenwärtigen Zustande nicht so weit abliegen, als es vielleicht auf den ersten Blick den Anschein hat«, schrieb Bücher. Doch das Narrativ von den um ihr ökonomisches Überleben kämpfenden (und dabei tapfer den Qualitätsjournalismus hochhaltenden) Medienunternehmen, die sich gegen die angeblich wettbewerbswidrige Konkurrenz der öffentlich-rechtlichen Medien durchsetzen müssen, wird – von wem wohl? – stark verbreitet.
Um Narrative besonderer Art geht es bei der Homepage der Fox News, der Website foxnews.com. Viele Inhaltsanalysen haben versucht zu ergründen, was deren besonderen populistischen Gehalt ausmacht. Fred Vultee befasst sich in seiner Diskursanalyse »›Fear and balanced‹ – ausgewogene Berichterstattung für Angstbürger« auch mit den Narrativen, die nicht auf Fox News stattfanden.
Fox News liegen bereits in Bezug auf Negativität bei der Auswahl und Autorität bei der Beschaffung außerhalb des Mainstreams. So fehlen zum Beispiel komplett Narrative, in denen sich jemand auf Twitter für eine Politik zur Reduzierung des CO2-Ausstoßes stark macht; die Vizepräsidentin ist niemals eine politische, sondern nur eine lächerliche Figur; die Zustimmung zum Präsidenten sinkt ständig, selbst wenn sie steigt.
Stattdessen dominieren Narrative, die die Weltsicht großer Teile des Publikums bestätigen: Critical Race Theory soll Kindern schon im Grundschulunterricht aufgezwungen werden, die Unfähigkeit des Präsidenten rückt China von Tag zu Tag näher an die Weltherrschaft heran, Städte werden unter der selbstverschuldeten Last von Kriminalität und Obdachlosigkeit zusammenbrechen – die Welt steht kurz vor dem Untergang. »Welche Seite auch immer gewinnt, es gibt keine Pause vom ultimativen Kampf zwischen Gut und Böse.« Die Wiederholung solcher Erzählungen und ihre Kombination mit anderen Beiträgen erinnern an die in Ausgabe 1/2023 von Yulia Belinskaya vorgestellte Versicherheitlichungstheorie in Bezug auf das Internet in Russland.
Die Diskursanalyse von Fred Vultee basiert auf einer Datenbank der foxnews.com-Homepages aus den Jahren 2022-23. Erst im Kontext zeigen sich die Bedeutungszusammenhänge zwischen den Narrativen.
Meredith Whittakers Beitrag ist erschienen, als mein Werkstattbericht zu ChatGPT in der Journalismus-Lehre schon fertig gestellt war. So konnte ich auf die dahinter stehenden Narrative nicht mehr explizit eingehen. Ich spotte nur ein wenig über die Erwartbarkeit des Diskurses. Vor allem aber habe ich mich gefragt: Wie sieht Journalismus-Lehre vor dem Hintergrund generativer KI-Plattformen aus? Welche Kompetenzen sollten vermittelt werden, welche Kenntnisse und Fähigkeiten konkret? Gemeinsam mit Studierenden habe ich den Einsatz generativer Sprach-KI bei der Textproduktion im Studium erkundet und mit ihnen den Erkenntnisfortschritt reflektiert. Bei der Auswahl der Themen habe ich mich an Lernzielen orientiert, die es selbstverständlich noch zu ergänzen gilt, unter anderem: Fakten prüfen, journalistische Trennungsregeln kennen und anwenden, Transparenz, Berichte und Reportagen durch Prompting im Dialog. Ein Narrativ konnten wir widerlegen: Studierende gehen durchaus nicht kritiklos mit den Tools um, sondern reflektiert und kritisch.
Journalistinnen und Journalisten sollten Narrative erkennen. Das klappt aus unterschiedlichen Gründen oft nicht. Besonders anfällig für Narrative sind sie, wenn es um eine gute Sache geht. Mit dem Narrativ des sozialpolitischen Niedergangs hat sich Georg Cremer auseinandergesetzt. Er war lange Generalsekretär des Caritas-Verbands. In seinem Debattenbeitrag »Das kritische Korrektiv fehlt« zeigt er an mehreren Beispielen, wie die Public-Relations-Abteilungen der Sozialverbände große Coups landen – was jedoch nicht immer zur Versachlichung der Debatte beiträgt. Sein Fazit: »Auf Seiten der Medien fehlt häufig das kritische Korrektiv, insbesondere dann, wenn Pressemeldungen von Sozialverbänden den Vorerwartungen entsprechen und die abgeleiteten Forderungen der Verbände einer guten Sache zu dienen scheinen.« Dabei spielt fehlendes statistisches Handwerkszeug eine Rolle, aber eben auch Vorerwartungen (priming) und Bewertungsmuster (framing). Cremer benutzt diese Begriffe nicht, beschreibt den Sachverhalt und seine Folgen jedoch präzise. Er wünscht sich für die Berufsbildung von Journalistinnen und Journalisten »Offenheit und Neugier zu befördern, sodass sie Interesse daran entwickeln zu erkunden, ob die Entwicklung der sozialen Lage anders, differenzierter oder widersprüchlicher sein kann, als es ihren bisherigen Vorstellungen entspricht«. Besser kann man die Anforderungen an Journalismus nicht formulieren: Narrative als solche zu erkennen und mit den Fakten, so gut es geht, abzugleichen.
Wir laden herzlich ein, Beiträge für die nächsten Ausgaben der Journalistik, Heft 3/4 in 2023 und Heft 1 in 2024, einzureichen. Schwerpunktthema ist Rundfunk in all seinen Facetten und Erscheinungsformen, öffentlich-rechtlich, privat-kommerziell und nicht zu vergessen der sog. »3. Sektor«, der nicht-kommerzielle Lokal-und Bürger:innenfunk. Schreiben Sie an redaktion@journalistik.online.
Gabriele Hooffacker
Fussnote
1 Whittaker, Meredith (07. 06. 2023): Künstliche Intelligenz: Vermessung bis ins Innerste. Abgerufen am 12. 06. 2023 von netzpolitik.org: https://netzpolitik.org/2023/kuenstliche-intelligenz-vermessung-bis-ins-innerste/#netzpolitik-pw. Der Text beruht auf der Rede, die Meredith Whittaker auf der re:publica 2023 gehalten hat.
Über diesen Artikel
Copyright
Dieser Artikel wird unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz (http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/deed.de) veröffentlicht, welche die Nutzung, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verbreitung und Wiedergabe in jeglichem Medium und Format erlaubt, sofern Sie den/die ursprünglichen Autor(en) und die Quelle ordnungsgemäß nennen, einen Link zur Creative Commons Lizenz beifügen und angeben, ob Änderungen vorgenommen wurden.
Zitationsvorschlag
Gabriele Hooffacker: Editorial. In: Journalistik. Zeitschrift für Journalismusforschung, 2, 2023, 6. Jg., S. 138-140. DOI: 10.1453/2569-152X-22023-13374-de
ISSN
2569-152X
DOI
https://doi.org/10.1453/2569-152X-22023-13374-de
Erste Online-Veröffentlichung
Juli 2023