Der Gaza-Krieg, die deutschen Medien und die »falsche Seite der Geschichte«?

Mandy Tröger im Gespräch mit Kai Hafez

Die Deutsche Gesellschaft für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft (DGPuK) veröffentlichte vor kurzem einen »Aufruf zum diskriminierungsfreien Diskurs«. Anlass waren die Reaktionen auf ein Statement von Lehrenden an Berliner Universitäten, die das Recht Studierender auf Protest gegen den Krieg in Gaza verteidigten. Die DGPuK verurteilt Anfeindungen von Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen, Diffamierungen oder Bedrohungen – sowohl von außen als auch innerhalb der wissenschaftlichen Gemeinschaft (vgl. DGPuK 2024).

Dieses Positionspapier zeigt, dass der Bedarf an Wissenschaftsexpertise und -diskurs zum Krieg in Gaza, zur Berichterstattung über diesen Krieg und den Nahost-Konflikt groß ist. Kai Hafez, seit 2003 Professor für Vergleichende Analyse von Mediensystemen und Kommunikationskulturen an der Universität Erfurt, gilt als ausgewiesener Experte zu Fragen medialer Darstellungen des Nahen Ostens in den deutschen Medien. Er äußert sich kritisch zur aktuellen Kriegsberichterstattung, beispielsweise im Deutschlandfunk (Fröhndrich 2024), der Leipziger Zeitung (Allisat 2024) und dem SZ-Medienpodcast quoted (Minkmar/Zaboura 2023).

Im Interview mit der Journalistik fragte Hafez, welche Funktion Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen haben, »wenn nicht die, einen eigenen Gedanken zu entwickeln, der dann auch kontrovers verhandelt werden kann«. Diesem Anliegen folgend, sprachen wir mit ihm über die deutsche Berichterstattung zum Gaza-Krieg, über die Rolle der Wissenschaft und mögliche Hemmungen, sich zum Konflikt und zur Berichterstattung zu äußern, sowie über alternative Ansätze für die Kriegsberichterstattung (vgl. auch Richter 2023; Rottmann 2024).

Keywords: Israel/Gaza, Kriegsberichterstattung, Naher Osten, Medien- und Kommunikationswissenschaft

Professor Hafez, Sie haben sich mehrfach kritisch über die deutsche Medienberichterstattung zum aktuellen Krieg in Gaza geäußert. Diese Kritik kann man nachlesen (Allisat 2024) und nachhören (Fröhndrich 2024; Minkmar/Zaboura 2023). Können Sie uns trotzdem kurz zwei oder drei Ihrer Hauptkritikpunkte darlegen?

Der erste Hauptpunkt ist, dass man weder den aktuellen Krieg noch den Konflikt mit dem Blick durch die Antisemitismus-Brille allein erklären kann. Auch wenn sich die Debatte in Deutschland und in den deutschen Medien sehr stark auf diese Perspektive beschränkt, ist diese Verengung fatal. Denn dadurch wird eine wirkliche Konfliktanalyse verhindert. Letztlich geht es im Nahost-Konflikt um Territorialrechte, Wasserrechte, es geht um Bevölkerungsaustausch und um historische Rückführungsansprüche. Rassistische Motive gibt es auch, aber die sind eher sekundär. Medial erfährt man hierzulande aber kaum etwas von der Konfliktgenese oder von den materiellen Interessen, die auch dem aktuellen Krieg zugrunde liegen.

Durch diese Verengung der Perspektive sind, zweitens, auch die verschiedenen palästinensischen Positionen in den deutschen Medien praktisch kaum vertreten und in der deutschen Öffentlichkeit komplett unterentwickelt. Gleichzeitig wird kaum beachtet, dass in der israelischen Regierung rechtsextreme Koalitionäre sitzen. Vor dem 7. Oktober wurde das thematisiert, aktuell findet aber eine Art Diskurs-Splitting statt. Das heißt, der Staat Israel wird als Konfliktpartei genannt, nicht aber die Regierung Israels, obwohl in dieser Regierung rechtsextreme Kräfte vertreten sind, die in rassistischer Weise anti-arabisch und anti-muslimisch sind. In vielerlei Hinsicht bilden sie eine Art Pendant zu radikalen Kräften innerhalb der Hamas.

All das fehlt im Mediendiskurs. Denn der siedelt sich, drittens, auf einer ganz anderen Ebene an, nämlich der Verhandlung von Emotionen. Hier dominieren Rassismusvorwürfe, Beschuldigungen und moralische Urteile, Polarisierungen und nicht selten Stereotypisierungen. Es überwiegt ein starker Meinungsjournalismus. Wenn man sich wie ich seit Jahrzehnten wissenschaftlich mit dem Nahostkonflikt beschäftigt, tut das, was auf medialer Ebene geboten wird, manchmal weh.

Welche Positionen zum Nahost-Konflikt ärgern Sie besonders?

Beispielsweise ist die Meinung breit vertreten, der Nahost-Konflikt sei so überkomplex, dass man ihn als Außenstehender nicht verstehen und deshalb gleich aufgeben könne, ihn zu verstehen. Ich bezweifle das zutiefst. Der Konflikt ist sogar relativ einfach zu erklären. Es gibt lange historische Entwicklungslinien, bestimmte Optionen, Ebenen und territoriale Ansprüche. Das heißt, aktuell haben wir es mit einem asymmetrischen Krieg zwischen einer terroristischen Organisation und einem okkupierenden Siedlerstaat zu tun, der nach wie vor unrechtmäßig und mit gewaltsamen Mitteln Kontrolle über palästinensische Gebiete ausübt.

Natürlich ist Deutschland unmittelbar mit dem Konflikt verbunden, denn den Staat Israel gäbe es ohne den deutschen Holocaust vermutlich nicht. Der Konflikt scheint mir daher historisch mit Deutschland verwoben. Trotzdem ist diese Geschichte keine bilaterale zwischen Israel und Deutschland, sondern eine trilaterale zwischen Israel, Palästina und Deutschland, wobei man hier nochmals zwischen der damaligen DDR und der BRD unterscheiden muss.

In den deutschen Medien kommt von diesen politischen Interdependenzen wenig an. Zum einen fällt Palästina als politischer Akteur häufig aus dem Bild. Zum anderen dominiert in der Berichterstattung zum Konflikt ein selbstreflexiver Diskurs. Das heißt, medial findet eher eine Selbstbeschäftigung mit starken kulturellen Rückbezügen auf die deutsche Geschichte statt als eine Beschäftigung mit dem historischen Konfliktgeschehen im Nahen Osten. Dementsprechend zeigen Studien vergangener Jahrzehnte, dass sich in der deutschen Nahost-Berichterstattung viel Innenpolitik spiegelt. Das wirkt sich auch auf die aktuelle Kriegsberichterstattung aus.

Nun forschen Sie seit 30 Jahren zum Nahen Osten. Sehen Sie bestimmte, sich wiederholende Muster in der Kriegsberichterstattung?

Die doch sehr starke Einseitigkeit in den deutschen Medien im Umgang mit Israel und Palästina, vor allem in den ersten Monaten nach dem 7. Oktober, gibt es nicht zum ersten Mal. Diese Einseitigkeit tritt in Wellen und meist in Bezug auf konkrete Konfliktgeschehen auf. Früher waren das die arabisch-israelischen Konflikte oder die Auseinandersetzungen zum Westjordanland hin. In den letzten Jahren sind es die Gaza-Kriege.

Diese medialen Wiederholungsschleifen lassen einen verzweifeln. Denn tatsächlich gibt es kaum Lernentwicklungen, sondern vor allem Reproduktion, Redundanz und einen Journalismus, der sich in dieser autistischen Blase mehr oder weniger eingerichtet zu haben scheint. Eine mediale Diskursverschiebung in Richtung einer ausgewogenen Konfliktberichterstattung wird es wohl erst nach einer politischen Lösung des Konflikts geben – die wiederum ohne medialen Druck unwahrscheinlich ist.

Leider beschäftigt sich in der deutschen Kommunikationswissenschaft kaum jemand intensiv mit diesen Fragen.

Professorin Carola Richter von der Freien Universität Berlin schrieb im Jahr 2014 über den Nahostkonflikt und die deutschen Medien (vgl. Richter 2014). Sie schildert ganz ähnliche Muster wie die, die Sie hier darlegen.

Carola Richter ist eine hochgeschätzte Kollegin und ehemalige Mitarbeitende und Doktorandin von mir. Sie ist tatsächlich eine der ganz wenigen Forschenden, die diesen Fokus haben. Andere ehemalige Studierende arbeiten heute im Ausland, wie Hanan Badr an der Universität Salzburg.

Werden Sie deshalb als Experte für die Medienberichterstattung angefragt, weil es im deutschen Fach kaum solche Expertise gibt? Immerhin zeichnen Sie doch Jahrzehnte politischer, praktischer und wissenschaftlicher Arbeit über und im Nahen Osten aus.

Ein Faktor ist sicher meine interdisziplinäre Herkunft. Ich bin promovierter Historiker, habilitierter Politologe, im Nebenfach habe ich Islamwissenschaft und Journalistik studiert. Diese Synthese aus verschiedenen Expertisen ist in Deutschland selten. Wichtiger als meine eigenen Kompetenzen ist aber sicher, dass Lehrstühle an der Nahtstelle von Kommunikations- und Gesellschaftsanalyse einfach nicht besetzt werden, vor allem solche zu globalen Gesellschaftsanalysen.

Beispielsweise gibt es in der Islamwissenschaft noch immer zu wenig sozialwissenschaftliche Bindung, und in der Kommunikationswissenschaft bestehen kaum Bezüge zu bestimmten Regionen im Sinne von Area Studies, zum Beispiel zu Asien, Afrika oder Lateinamerika. Das hinterlässt riesige Leerstellen in der deutschen Forschung und Lehre. Bis heute haben wir keinen Lehrstuhl, der moderne Medienanalysen mit Nahost- und Islamwissenschaft verbindet.

Warum ist genau diese Nahtstelle von Kommunikations- und Gesellschaftsanalyse so wichtig?

Das sehen wir aktuell. Wir brauchen Expertise und Analysen, erstens, um die Qualität der aktuellen Berichterstattung deutscher Medien zum Nahostkonflikt bewerten zu können. Zweitens ist solche Expertise wichtig, um zu sehen, was nicht berichtet wird.

Ein Beispiel: Vor einigen Jahren erarbeiteten israelische und palästinensische Vertreter und Vertreterinnen im Rahmen der Genfer Initiative Pläne für eine Zweistaatenlösung. Diese Pläne sind hochintelligent und realisierbar; doch in den deutschen Medien kamen sie kaum vor. Das heißt, der Diskurs der politischen Hinterbühne wird im Mediendiskurs grundsätzlich kaum sichtbar.

Das bedeutet auch, dass es eine Art »doppelte Unsichtbarkeit« gibt. Erstens eine Unsichtbarkeit in der Kommunikationswissenschaft, weil vielen Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen im Fach das Konfliktverständnis fehlt. Zweitens fehlt ihnen dadurch auch das Kritikverständnis, um die ebenfalls vorhandenen Unsichtbarkeiten – die »missing news« – im medialen Diskurs beim Namen zu nennen. So verliert die Wissenschaft ihre Beratungs- und Kontrollfunktion.

Sehen Sie hier also ein grundsätzliches wissenschaftstheoretisches Problem?

Ja, durchaus. Lange wurde in der deutschen Kommunikationswissenschaft abgestritten, dass das Fach überhaupt einen Bezug zu realen politischen und gesellschaftlichen Bedingungen hat. In Anlehnung an Luhmann nahm man stattdessen an, sich völlig auf das kommunikative Verhalten konzentrieren zu können. Ich war nie dieser Meinung. Wir brauchen neben dem in Deutschland lange und stark vertretenen radikalen Konstruktivismus das, was Günter Bentele den Re-Konstruktivismus nannte. Das heißt, ein vernünftiges Verhältnis zur Reflexion realer politischer und gesellschaftlicher Bedingungen.

Natürlich gibt es diskursive Spielräume. Aber ich halte es für falsch, beispielsweise Foucaultsche Analysen auf einen Raum – wie den Nahen Osten – anzuwenden, dessen politische und gesellschaftliche Prozesse man nicht gleichermaßen studiert hat. Neben einer kommunikations- ist immer auch eine gesellschaftstheoretische und -praktische Kompetenz erforderlich. Allerdings findet man diese Synthese im deutschen Fach kaum.

In anderen Ländern ist das anders, beispielsweise an der School of Oriental and African Studies (SOAS) in London oder an der Georgetown University in den USA, wo Fachkompetenzen gezielt verbunden werden. Das liegt zum Teil an der Kolonialgeschichte beziehungsweise am Weltmachtanspruch der jeweiligen Länder. Die damit einhergehenden globalen Traditionen hinterlassen Spuren im Wissenschaftssystem. Die Wissenschaftsentwicklung in Deutschland hinkt hier aus meiner Sicht Jahrzehnte hinterher und das angebliche Wissenschaftsvorbild der USA wird nicht richtig verstanden.

Erklären also vor allem fehlende Kompetenzen und die Fachentwicklung in Deutschland das Ausbleiben kritischer Analysen der aktuellen Nahost-Berichterstattung?

Ja, ich denke, das sind die Hauptgründe. Gleichzeitig erlebe ich in letzter Zeit vermehrt etwas, das man vielleicht als »Angstphänomen« bezeichnen könnte. Kollegen und Kolleginnen berichten mir, dass sie sich kaum trauen, Kritik an Israel zu äußern. Das schockiert mich schon, denn wie kann es sein, dass wir hier eine Denkangst entwickeln, die sie zum Verstummen bringt? Anscheinend gibt es eine Art Hegemonie von Meinungsäußerungen, die dem Ziel der Wissenschaft, also der rationalen Auseinandersetzung und Diskussion, entgegensteht.

Was genau schockiert Sie?

Welche Funktion haben wir denn in der Wissenschaft, wenn nicht die, einen eigenen Gedanken zu entwickeln, der dann auch kontrovers verhandelt werden kann? Ich wundere mich über die Angst, als Wissenschaftler und Wissenschaftlerin skandalisiert zu werden, wenn versucht wird, bestimmte Dinge rational und belegt zu analysieren.

Bei Journalisten und Journalistinnen verstehe ich diese Dynamiken schon eher. Im Journalismus gibt es bestimmte organisatorische Kontexte, beispielsweise Redaktionslinien, die eher pro-israelisch sind. Das ist nicht nur bei Axel Springer so. Das heißt, im Journalismus ist der Organisationszwang eher herleitbar, denn Journalisten und Journalistinnen arbeiten in dicht organisierten Netzwerken.

Aber die Wissenschaft ist, folgt man an dieser Stelle einmal Luhmann, ein schwach organisiertes Sozialsystem. Wir müssten es also gewohnt sein, dissonant zu agieren, solange wir vernünftig argumentieren. Denn in der Wissenschaft sollten Minderheitenpositionen der Normalfall sein. Das heißt, jeder Forscher und jede Forscherin muss, per Definition, eine Minderheitenposition einnehmen, um überhaupt einen wissenschaftlichen Beitrag leisten zu können. Denk- und Kommunikationsverbote in der Wissenschaft sind deshalb fatal. Außerdem schadet es auch der Politik und den Medien, wenn rationale Impulse aus der Wissenschaft ausbleiben, die für die Steuerung bedeutsam sind.

Welche Rolle spielt das Fach Kommunikationswissenschaft bei dieser Steuerungsfunktion?

Das Fach ist kaum in der Lage, dem öffentlichen Diskurs einen Stempel aufzudrücken. In Bezug auf die Nahost-Berichterstattung liegen die Gründe sicher vor allem in den beschriebenen Kompetenzmängeln. Allerdings kann dieses Defizit auch mit dem Verhältnis des Faches zur Politik und zu den Medien zu tun haben. Denn diese Beziehung ist ungeklärt, aber nicht unabhängig. Das heißt, womöglich holen wir uns unsere Forschungsagenda zu sehr aus den Massenmedien ab. Das macht neue Schwerpunkte und eigene Akzente in der Wissenschaft schwierig.

Erst kürzlich nutzten sowohl Sie selbst (vgl. Rottmann/Tröger 2023) als auch Carola Richter (vgl. Rottmann/Tröger 2024) das Konzept des Friedens­journalismus als eine Art Analyseinstrument, um Muster und Lücken in der Nahost-Kriegsberichterstattung zu identifizieren. Wieso bietet sich dieses Instrument an, und wie sollte »gute« Nahost-Berichterstattung aussehen?

Tatsächlich bietet sich das Konzept des Friedensjournalismus an, Muster und unhinterfragte Lücken der Kriegsberichterstattung sichtbar zu machen, beispielsweise die Dehumanisierung bestimmter Opfer. Außerdem zeigt der Friedensjournalismus durchaus diskussionswürdige Alternativen zum Stakkato der Berichterstattung über militärische Vernichtung.

In Bezug auf den Krieg in Gaza und den Nahost-Konflikt brauchen wir grundsätzlich mehr Informationsjournalismus. Das heißt, die Berichterstattung sollte systematischer, umfassender und weniger meinungs- und emotionsgeladen sein. Dabei müsste der Konflikt, wie auch die verschiedenen Phasen der Beziehungen Deutschlands zu Israel und Palästina, historisiert werden.

Beispielsweise gibt die Bundesregierung seit 30 Jahren Rekordsummen für die palästinensischen Autonomiegebiete aus. Deutschland ist in Europa der größte Geldgeber des Osloer Friedensprozesses gewesen. Gleichzeitig ist die Bundesregierung bei jedem Konflikt bereit, Israel, egal unter welcher Regierung, genau diese Werte wieder zertrümmern zu lassen. Solche Hintergrundinformationen sind gesamtgesellschaftlich wichtig. Ich war selbst in den 1990er-Jahren bei der Anbahnung des Baus von Häfen und Flughäfen in Gaza beteiligt, die Israel kurze Zeit später wieder zerbombte. Wie kann die Bundesregierung Geld investieren, nur um letztlich bei dessen Vernichtung zuzusehen und dann annehmen, dass wir auf diese Art gute Außenpolitik machen? Diese Ambivalenzen gehören auch in den medialen Diskurs, fehlen aber völlig.

Zum anderen muss sich der deutsche Journalismus im Nahost-Konflikt neu positionieren. Das heißt, journalistisch-ethische Grundaufgaben und die Informationspflicht sollten wieder in den Vordergrund treten. Das kann man noch um den Friedensjournalismus erweitern. Dieser enthält eine besondere moralische Verantwortung für den Frieden und eine kritische Haltung zu jeglicher Form staatlicher Desinformation – auch gegenüber den in Deutschland viel zu oft verwendeten israelischen staatlichen Quellen.

Um das leisten zu können, braucht man Ressourcen, um gut über den Konflikt und die internationalen Beziehungen informieren zu können. Es gibt in Deutschland viele Journalisten und Journalistinnen, die sich eine kritische Korrektur wünschen und die versuchen, den herrschenden Diskurs von innen zu ändern. Deren Möglichkeiten sind aber strukturell und kulturell beschränkt. Sie benötigen Zeit, Geld, Mitarbeitende und journalistische Freiheit, aber eben auch Wissenschaftsexpertise, um eingefahrene Muster aufbrechen zu können. Hier sollte die Kommunikationswissenschaft einen Beitrag leisten.

Da Sie vorhin von Selbstreferenz sprachen – welche Folgen hat der Gaza-Krieg für Deutschland?

Letzte Woche war ich mit meinen Studierenden im Auswärtigen Amt. Einer der ausländischen Kommilitonen meinte im Gespräch, beim Thema Gaza stünde Deutschland wieder einmal »auf der falschen Seite der Geschichte«. Zehntausende Zivilisten sterben, und wir sehen dabei mehr oder weniger klaglos zu. Dieser Satz brachte mich zum Nachdenken. Realpolitisch ist die Situation zwar komplexer, aber trotzdem unterstützt Deutschland jede Regierung Israels bei jeder Krise ohne öffentliche Debatte. Ich sehe natürlich den Schmerz, den das Attentat der Hamas in Israel und auch in Deutschland ausgelöst hat, und ich trauere mit. Gleichzeitig herrscht auch eine emotionale Verzweiflung auf der palästinensischen Seite – ebenfalls mitten unter uns.

Pro-Palästina-Proteste werden in Deutschland pauschal als antisemitisch abgetan, und es wird kaum zwischen den verschiedenen Anliegen differenziert. Dass mit den Teilnehmenden dieser Proteste nicht geredet wird, halte ich innenpolitisch für eine riesige Katastrophe – auch vor dem Hintergrund des kommunikationswissenschaftlichen Themas der Versammlungsfreiheit. Denn hier wird eine ganze Generation in die Politikverdrossenheit getrieben, was der AfD ganz recht sein dürfte. Die demokratischen Parteien müssten aber in Interaktion treten. Medial und politisch findet das kaum statt. Im Gegenteil, verdiente Prominente wie Nancy Fraser werden von deutschen Universitäten ausgeladen.

International wird das sehr kritisch beobachtet. Vor allem im globalen Süden leidet das Deutschlandbild enorm. Das heißt, aktuell erlebt Deutschland einen gewaltigen Reputationsverlust, vielleicht vergleichbar mit dem Imageverlust der USA im Zuge des Irakkriegs 2003. Ich merke das auf meinen Reisen nach Südafrika, Asien und in die arabische Welt.

Natürlich müssten Fragen wie die, ob Deutschland wieder auf der falschen Seite der Geschichte steht, zumindest diskutiert werden können. In Politik, Medien und auch in der Wissenschaft finden diese Diskussionen kaum statt. Diese weißen Flecken der Debatte und Analyse gilt es dringend zu füllen.

Über die Autor:innen

Kai Hafez, Prof. Dr. (*1964), ist Politik- und Kommunikationswissenschaftler. Seit 2003 ist er Professor für Vergleichende Analyse von Mediensystemen und Kommunikationskulturen an der Universität Erfurt. Er forscht unter anderem zur Theorie der Auslandsberichterstattung, zu kulturvergleichender Medienethik, der Kommunikation zwischen islamischer und westlicher Welt, Medien im Nahen Osten sowie Medien und Einwanderung. Er ist u. a. Autor von Heiliger Krieg und Demokratie. Radikalität und politischer Wandel im islamisch-westlichen Vergleich (Bielefeld: transcript 2009).

Mandy Tröger, PhD (*1980), ist Walter Benjamin-Stipendiatin der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) am Institut für Medienwissenschaft der Eberhard-Karls-Universität Tübingen und Visiting Scholar an der Canterbury Christchurch University in Großbritannien. Seit 2024 ist sie Mitherausgeberin der Journalistik / Journalism Research.

Literatur

Allisat, Yaro (2024): Medienwissenschaftler zur deutschen Nahost-Berichterstattung: »Wir müssen über die Polarisierungen hinausblicken«. Interview mit Kai Hafez. In: Leipziger Zeitung, 24.04.2024. https://www.l-iz.de/leben/gesellschaft/2024/04/medienwissenschaftler-zur-deutschen-nahost-berichterstattung-uber-polarisierungen-hinausblicken-586416

DGPuK (2024, 6. Juni): Aufruf zum diskriminierungsfreien Diskurs. DGPuK-Positionspapier (06/2024). Deutsche Gesellschaft für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft. https://www.dgpuk.de/sites/default/files/fachgruppen/DGPuK_06-2024_Aufruf%20zum_diskriminierungsfreien_Diskurs_0.pdf

Fröhndrich, Sina (Moderatorin) (2024, 22. Mai): Zwischen Kritik, Polemik und Hetze: Wie über Nahost reden? [Audio-Podcast]. In: Deutschlandfunk – Zur Diskussion. Deutschlandfunk. https://share.deutschlandradio.de/dlf-audiothek-audio-teilen.html?audio_id=dira_DLF_ca0a3c55

Hafez, Kai (2002): Der Nahostkonflikt (1965-1982). In: ders.: Die politische Dimension der Auslandsberichterstattung, Bd. 2. Das Nahost- und Islambild in der deutschen überregionalen Presse. Baden-Baden: Nomos, S. 144-180.

Hafez, Kai (2011): »Gerechter Krieg« und Pazifismus in der islamischen Welt. Das Beispiel Palästina. In: Sterzing, Christian; Heinrich-Böll-Stiftung (Hrsg.): Palästina und die Palästinenser. Berlin: Heinrich-Böll-Stiftung, S. 125-135

Minkmar, Nils; Zaboura, Nadia (Moderator:innen) (2023, 30. November): Krieg in Nahost. Medien und die Vielfaltsgesellschaft. In: quoted. der medienpodcast. CIVIS Medienstiftung und Süddeutsche Zeitung. https://www.civismedia.eu/en/medientalk/quoted-der-medienpodcast/podcast-episodes/

Richter, Carola (2014): Der Nahostkonflikt und die Medien. In: Global Media Journal, German Edition, 4(1), S. 1-10.

Richter, Carola (2023): Die Rolle von Medien im Krieg im Spannungsfeld von Propaganda, Bilderflut und Berichterstattungsethik. In: Journal für politische Bildung, 1, S. 22-27.

Rottmann, Sigrun (2024): Friedensjournalismus reloaded. Plädoyer für eine bessere Berichterstattung über Debatten, Streit und gesellschaftliche Konflikte. In: Journalistik. Zeitschrift für Journalismusforschung, 7(1), S. 87-93. DOI: 10.1453/2569-152X-12024-13934-de https://journalistik.online/ausgabe-1-2024/friedensjournalismus-reloaded/

Rottmann, Sigrun; Tröger, Mandy (Moderatorinnen) (2024, 29. Mai): Friedensjournalismus und konfliktsensitiver Journalismus. Im Gespräch mit Professorin Carola Richter. In: KriKoWi:talks – Medien im Krieg, Krieg in den Medien. Netzwerk Kritische Kommunikationswissenschaft. https://www.youtube.com/watch?v=dAlxSGT1JyA

Rottmann, Sigrun; Tröger, Mandy (Moderatorinnen) (2023, 12. Dezember): Die mediale Darstellung des Krieges in Israel und Palästina. Im Gespräch mit Kai Hafez. In: KriKoWi:talks – Medien im Krieg, Krieg in den Medien. Netzwerk Kritische Kommunikationswissenschaft. https://www.youtube.com/watch?v=nXqhOddRfgk&t=736s


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Zitationsvorschlag

Mandy Tröger im Gespräch mit Kai Hafez: Der Gaza-Krieg, die deutschen Medien und die »falsche Seite der Geschichte«?. In: Journalistik. Zeitschrift für Journalismusforschung, 2, 2024, 7. Jg., S. 238-247. DOI: 10.1453/2569-152X-22024-14224-de

ISSN

2569-152X

DOI

https://doi.org/10.1453/2569-152X-22024-14224-de

Erste Online-Veröffentlichung

August 2024