Rezensiert von Mandy Tröger
Selten gibt es Dissertationen, die einen zentralen Beitrag zum besseren Verständnis historischer Gegenwart leisten. Sylvia Dietls Buch ist solch eine Dissertation; sie schreibt ein ganzes Kapitel deutscher Mediengeschichte neu. Das ist keine kleine Leistung. Ein äußeres Indiz für die Stärke des Buches sind dessen 658 Seiten und über 1700 Fußnoten. Seine Wirkungsmacht liegt aber im Inhalt: Dietl analysiert die Transformation und Neustrukturierung des Rundfunks in Ostdeutschland vor mehr als 30 Jahren. Das tut die Politikwissenschaftlerin auf breiter Quellenbasis, mit analytischem Scharfsinn und Liebe fürs Detail. In zehn Hauptkapiteln zeigt sie, wie mit der Vereinigung von Bundesrepublik und Deutschen Demokratischen Republik (DDR) »ein vollständiger Institutionentransfer von West- nach Ostdeutschland« (S. 80) einherging. Im Zuge dessen war auch die Neustrukturierung der ostdeutschen Rundfunklandschaft »ein Angleichungsprozess nach bundesrepublikanischem Muster« (S. 80). Das heißt, das DDR-Rundfunksystem wurde zerschlagen und in einem radikalen Transformationsprozess in das Mediensystem der Bundesrepublik integriert. Dieser Prozess – und das zeigt das Buch in seiner ganzen Komplexität – war zutiefst unreglementiert und dadurch hochpolitisch. Mit den Folgen leben wir bis heute.
Mit diesem Fokus bietet Dietls Buch eine wichtige Ergänzung zu einem jüngeren Kanon wissenschaftlicher Studien, die sich mit der Neustrukturierung der Medienlandschaft in Ostdeutschland Anfang der 1990er befassen – also beispielsweise der Presse (Tröger 2019) oder den Buchverlagen (Links 2009). Für den Rundfunkbereich bot bisher Andreas Rummels (1993) ausgezeichnete Diplomarbeit zur »Rolle der Parteipolitik beim Aufbau des Mitteldeutschen Rundfunks [MDR]« erste analytische Einblicke. Rummel zeigt, wie die Mehrheitsparteien der jeweiligen Landtage den MDR-Staatsvertrag nutzten, um früh ihre Einflussmöglichkeiten zu sichern. Dieser Einfluss führte beispielsweise dazu, dass die Aufsichtsgremien weniger staatsfern und gleichzeitig abhängiger von gesellschaftlichen Machtgruppen ausgestaltet wurden.
Dietls Dissertation geht nicht nur einen Schritt, sondern einen ganzen 100-Meter-Lauf weiter: Sie dokumentiert und analysiert den Ab-, Um- und Aufbau eines kompletten Rundfunksystems. Im Rahmen dessen widmet sich auch Dietl der Rolle der Parteipolitik beim Aufbau der neuen Rundfunkanstalten – neben dem MDR also auch dem Ostdeutschen Rundfunk Brandenburgs (ORB), der 2003 mit dem Sender Freies Berlin (SFB) zum Rundfunk Berlin Brandenburg (rbb) fusionierte. Dank des zeitlichen Abstands fußen Inhalt und Analyse des Buches auf einer beeindruckenden Quellenvielfalt (z. B. Expert:inneninterviews, Presseberichte) und einem detailliertem Aktenstudium (z. B. von Verhandlungsprotokollen, Sitzungsunterlagen). Die Arbeitsintensität zur Erschließung und Auswertung dieser Quellen kann nur erahnt und deren Wert nicht ausreichend unterstrichen werden.
Im Ergebnis bietet das Buch eine Institutionengeschichte des Rundfunks in Ostdeutschland, vor allem aber eine Analyse der politischen und wirtschaftlichen Interessen hinter dieser Transformation. Das Resultat dürfte nicht allen schmecken, ist aber genau deshalb so wichtig. Denn Dietl dokumentiert, wie Strukturentscheidungen für den ostdeutschen Rundfunk frühzeitig von »Eigeninteressen, Machtkalkül und Verteilungskonflikten« (S. 7) westdeutscher Akteur:innen begleitet wurden. Handlungsalternativen und innovative Ansätze waren ungewollt und fanden deswegen keine Beachtung, schlussfolgert Dietl. Besonders im Zuge aktueller Reformdebatten zum Öffentlich Rechtlichen Rundfunk (ÖRR) sind diese Punkte hochbrisant. Dietls Studie hilft zugleich, diese Debatten historisch einzuordnen und die Wurzeln jüngster ÖRR-Skandale, wie die Schlesinger-Affäre beim rbb, politisch zu verorten. Das ist eine Errungenschaft, die der Autorin hoch angerechnet werden sollte.
Zunächst aber zur Institutionengeschichte – die ist schnell erzählt: Hörfunk und Fernsehen in der DDR waren bis Ende 1989 als zwei zentralistisch-strukturierte Propagandaapparate mit insgesamt 14.000 Mitarbeiter:innen organisiert (S. 125ff.). Im Rahmen der Proteste im Herbst 1989 forderten DDR-Bürger:innen Informations-, Meinungs- und Pressefreiheit, und das Thema Massenmedien wurde zu einem zentralen Generator für den Umbruch in der DDR. Mit dem Ende des SED-Regimes kam es auch im Hörfunk und Fernsehen der DDR zu inhaltlichen, personellen und strukturellen Reformen (S. 144ff.); ab Februar 1990 waren sie staatsunabhängige, öffentliche Institutionen (S. 163ff.). Durch diese Liberalisierung entwickelte sich innerhalb des DDR-Rundfunks eine Eigendynamik, und die »DDR-Medien erlangten für einige Monate eine journalistische Freiheit und Unabhängigkeit, wie es sie weder vorher noch danach jemals mehr gab« (S. 143).
Gleichzeitig gab es früh rundfunkpolitische Interessen in der Bundesrepublik zur Entwicklung des DDR-Rundfunks (S. 183ff. und 283ff.). Mit der deutschen Einheit am 3. Oktober 1990 sollte sich dessen Organisationsstruktur am Vorbild der Bundesrepublik ausrichten. Dementsprechend wurde der DDR-Rundfunk nach Artikel 36 des Einigungsvertrages in eine sogenannte Einrichtung überführt, bis zum 31. Dezember 1991 weitergeführt und dann aufgelöst (S. 315ff.). Am 1. Januar 1992 traten neue, nach ARD-Muster geschaffene Landesrundfunkanstalten an seine Stelle. Mecklenburg-Vorpommern trat dem Staatsvertrag des Norddeutschen Rundfunks (NDR) bei, und der Deutschlandfunk, RIAS Berlin und der Ost-Sender DS-Kultur fusionierten zum Deutschlandradio (S. 453ff.).
Diese Geschichte liest sich wie eine institutionelle Erfolgsstory der Demokratie, spannender und aufschlussreicher sind aber die ihr zugrunde liegenden Interessen- und Konkurrenzkämpfe. Denn die Schaffung der neuen öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten war Sache der Länderparlamente. Deren Entscheidungen waren also in hohem Maße von Konflikten konkurrierender (westdeutscher) politischer Akteur:innen begleitet. Ihnen – und das zeigt das Buch für die verschiedenen Phasen der Transformation – ging es vor allem um die Sicherung parteipolitischer Einflüsse und landeseigener Interessen in den Anstalten. Es ging ihnen nicht um ein »am Gemeinwohl ausgerichtetes Mediensystem« (S. 162), beispielsweise als Teil einer »basisdemokratischen Entwicklung« (S. 163), wie sie etwa in der Interimszeit der DDR versucht wurde umzusetzen. Gleichzeitig betrieben auch die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten der Bundesrepublik, vor allem der NDR und der SFB, »intensiv Rundfunkstrukturpolitik« (S. 548). Dazu gehörte auch das ZDF. Der Bayerische Rundfunk forcierte den Aufbau des MDR und nahm sowohl über Elitentransfer als auch während der gesamten Planungsphase Einfluss (S. 459ff.).
Dietls Fazit ist kompromisslos kritisch: Der Transformationsprozess des DDR-Rundfunks sei ein unreflektierter und »kritikloser Systemtransfer« (S. 613) von West nach Ost gewesen. Dominante westdeutsche Akteur:innen nahmen die Neuordnung des Rundfunks im Osten Deutschlands nicht etwa zum Anlass, »eine kritische Bestandsaufnahme über die Defizite des eigenen Rundfunksystems und seiner Institutionen vorzunehmen« (S. 549). Sie hätten im Gegenteil die »demokratieschwächenden Dysfunktionalitäten des Systems … genutzt, um die Eigeninteressen, wie z. B. Einflussmöglichkeiten, abzusichern« (S. 550). So seien sämtliche »Schwächen und Dysfunktionalitäten« (S. 550) des westdeutschen ÖRR in die ostdeutschen Rundfunkanstalten übertragen worden, wo sie »teils sogar noch verstärkt« (S. 613) wurden. Eine kritische Reflexion, so Dietl, habe nicht einmal ansatzweise stattgefunden.
Mit diesem Fazit rüttelt die Politikwissenschaftlerin auch ohne die obige Kanonisierung an althergebrachten Erfolgsnarrativen zur DDR-Medientransformation. Denn sie zeigt, dass westdeutsche Akteur:innen vor allem ihre Partikularinteressen verfolgten; gesamtdeutsche Reformperspektiven und gemeinwohlorientiertes Handeln waren dagegen kaum relevant. Ostdeutsche innovative Impulse, die über die bundesdeutschen Normen hinausgingen, blieben unberücksichtigt. Eine eigenständige rundfunkpolitische Entwicklung im Osten Deutschlands blieb aus, denn sie war nicht gewollt. Letztendlich wurde so »die einmalige Chance zur Konstitution einer gesamtdeutschen Rundfunkordnung«, zur Weiterentwicklung und Stärkung des ÖRR »nicht genutzt« (S. 614). Folglich erscheinen die Skandale der letzten Jahre beim rbb und MDR wie die Nachwirkungen politischer Interessendurchsetzungen zur Transformationszeit.
Die Detailtreue des Buches mag einigen zu viel, die Zusammenhänge anderen zu komplex erscheinen. Trotzdem sind sie der beste Beweis dafür, dass die radikalste Kritik an politischen und wirtschaftlichen Verhältnissen in deren detaillierter, methodologisch sauberen und faktenbasierten Analyse liegt. Gegen die Ergebnisse lässt sich jedenfalls nur schwer argumentieren.
Über die Rezensentin
Dr. Mandy Tröger ist Walter Benjamin-Stipendiatin der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) an der Universität Tübingen und Mitherausgeberin der Journalistik/Journalism Research.
Literatur
Links, Christoph (2009): Das Schicksal der DDR-Verlage. Die Privatisierung und ihre Konsequenzen. Berlin: Ch. Links Verlag.
Rummel, Andreas (1993): Die Rolle der Parteipolitik beim Aufbau des Mitteldeutschen Rundfunks. Diplomarbeit, LMU München.
Tröger, Mandy (2019): Pressefrühling und Profit. Wie westdeutsche Verlage 1989/1990 den Osten eroberten. Köln: Herbert von Halem.
Über dieses Buch
Sylvia Dietl (2022): Transformation und Neustrukturierung des DDR-Rundfunks im Prozess der Wiedervereinigung Deutschlands. München: utzverlag, 662 Seiten, 64,- Euro.