Die Top 10 des Buchjournalismus Hinweise auf lesenswerte Bücher von Journalist:innen

Von Fritz Hausjell, Wolfgang R. Langenbucher

Die Idee, die besten Bücher von Journalist:innen auszuwählen und vorzustellen, ist ein Projekt des Instituts für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft der Universität Wien, mitbegründet von Hannes Haas (1957-2014), zusammengestellt von Wolfgang R. Langenbucher und Fritz Hausjell. Es startete mit der ersten Ausgabe im Jahre 2002 in der von Michael Haller begründeten Vierteljahreszeitschrift Message. Nach deren Einstellung wurden die Auswahlen ab 2015 im Magazin Der österreichische Journalist dokumentiert. 2020 und 2021 kam es in Folge der Covid-Pandemie zu einer Unterbrechung. Mit der Journalistik ist seit 2022 ein neuer Publikationsort gefunden worden.

1. Uwe Wittstock (2024): Marseille 1940. Die große Flucht der Literatur. München: C.H.Beck, 351 Seiten, 26,- Euro.

Im Februar 2024 veröffentlicht, im März bereits auf Platz 1 verschiedener Sachbuch-Bestseller-Listen, nach drei Monaten in 7. Auflage gedruckt: Das bedeutet ohne Zweifel, dass wir es mit einem der erfolgreichsten Sachbücher dieses Jahres zu tun haben. Dabei ist die behandelte Materie nicht ganz so neu. Ab den 1970er-Jahren wurden die ersten Bücher der vertriebenen Literatur und anderer aus Deutschland und Österreich exilierter Kultur, Kunst und Wissenschaft gewidmet. Zumeist waren diese auf einzelne Personen fokussiert.

Nun greift ein sehr erfolgreicher Journalist zu einem im Geschichtsjournalismus zwischen Buchdeckeln bereits einige Male praktizierten Verfahren. Er richtet für die Leser:innen den Blick auf einen begrenzen Zeitraum und Ort: die französische Hafenstadt Marseille im Jahr 1940. Dorthin flohen Abertausende Flüchtlinge aus Deutschland, Österreich und der Tschechoslowakei, die meinten dort vor den nationalsozialistischen Verfolgern sicher zu sein. Doch NS-Deutschland überfiel im Mai 1940 auch Frankreich und überrannte es in kürzester Zeit. Der Süden blieb zwar unbesetzt, das dort fortan regierende Vichy-Regime kooperierte aber eng mit der NS-Besatzung des Nordens und wurde so zur extrem unsicheren Zone für geflüchtete NS-Gegner:innen sowie Jüdinnen und Juden.

Der junge amerikanische Journalist Varian Fry kam im Sommer 1940, baute mit Mitstreiter:innen ein Fluchthilfenetz auf, um bis zum Herbst 1942 über 2.000 Menschen die Flucht nach Amerika zu organisieren. Wittstock rekonstruiert aus autobiographischer Erinnerungsliteratur, aus wissenschaftlichen Studien, aus Akten in Archiven und Dokumentationsstellen, in Gesprächen mit Fachleuten sowie durch eigene Reisen zu den Orten den Zeitraum vom 10. Mai 1940 bis zum Oktober 1941.

Er schreibt seinen Text in Gegenwartsform, das vermittelt Leser:innen den Eindruck, gerade dabei zu sein. Die mitunter bedrückenden Szenarien, die Angstzeiten und Mühsale des Exil-Alltags amalgiert er bewusst mit Nebensächlichem und Privatem. Derart viele Herausforderungen an das Leben der zahlreichen Personen, die nachgezeichneten Mühen, die Erschöpfung und das sich im Suizid Aufgeben sind ohne derart entlastende Momente für Leser:innen des ausschließlich auf Fakten basierenden Bandes wohl kaum zu ertragen.

Wittstock drückt nicht auf die Tränendrüse, sondern ist bemüht, detailreich präzise sehr konkrete Geschichten dieser schreckensvollen Zeit zu erzählen. Ob die große Nachfrage nach diesem Buch auch die Empathie mit den in diesen Zeiten zu uns flüchtenden Menschen (wieder) stärkt, ist jedenfalls eine spannende Frage für Wissenschaft und Journalismus. Varian Fry, eine zentrale Persönlichkeit der damaligen Fluchthilfe, blieb in den USA und Deutschland ungewürdigt. Damit wären wir auch gleich bei einer weiteren spannenden Frage für Wissenschaft und Journalismus: Werden Fluchthelfer:innen von heute journalistisch differenziert thematisiert oder schaffen es die Medien nicht, sich vom ausschließlich negativen Framing der »Schlepper« seitens der Politik zu distanzieren?

2. Stephan Lamby (2023): Ernstfall. Regieren in Zeiten des Krieges. Ein Report aus dem Inneren der Macht. München: C.H.Beck, 400 Seiten, 26,90 Euro.

»Thema der Woche« in der Wochenendausgabe der Süddeutschen Zeitung (1./2. Juni 2024, S. 2) war das ganzseitige Stück eines fünfköpfigen Journalistenkollektivs über »Nord Stream 2«. Es basiert auf einem »Aktenkonvolut aus Tausenden Seiten« und beweist in zahlreichen Details, wie die Bundesregierung und andere Institutionen die Medien und Öffentlichkeit bis zur letzten Minute vor Putins Angriffskrieg systematisch über die wahren Geschehnisse und Hintergründe getäuscht haben. Motto: »Mission Wogen glätten«.

Solche Abläufe sind typisch für einen einst »neu« genannten Journalismus: Der aktuellen Berichterstattung in den Tagesmedien folgt tiefgehende Analyse in Buchform, umfangreich und bestsellerträchtig. Seit Aufdeckung der Watergate-Affäre sind die US-amerikanischen Journalisten Bob Woodward (*1943) und Carl Bernstein (*1944) die bis heute bekanntesten Vertreter dieser Vorgehensweise.

Stephan Lamby (*1959) gehört in dieser Hinsicht zu den renommiertesten Journalist:innen im deutschsprachigen Raum. Er hat seit Ende der 1990er-Jahre über 25 Fernsehdokumentationen produziert, zuletzt die viel diskutierte Serie Ernstfall – Regieren am Limit.[1] Parallel dazu erschien das gleichnamige Buch. Dass es sich liest wie ein Thriller, versteht sich bei einem Journalisten wie Lamby fast von selbst. Die Ereignisse und der Dilettantismus, mit dem die Ampelkoalition ihnen begegnet ist, haben ihm allerdings auch Vorlagen geliefert, die nur schwer zu übertreffen sind.

Das Buch ist Chronik, Reportage, Analyse. Es beruht auf Omnipräsenz und Zeugenschaft, auf zahlreichen Gesprächen während langer Reisen im Regierungsflieger. Lamby ist auf eine beeindruckende und manchmal schwer zu begreifende Weise »stets dabei«. Trotzdem kommen an seiner Glaubwürdigkeit und Authentizität keine Zweifel auf, zumal ihm der berufstypische Alarmismus gänzlich abgeht und er nie seine analytische Nüchternheit verliert. Diese Nüchternheit findet man auch bei seinen vielen politischen Gesprächspartnerinnen und -partnern; für sie gehört die »Nacht ohne Schlaf« zum Jobprofil.

Sein Urteil über die Ampel fällt hart aus: »Die Reibung, die zwischen drei sehr unterschiedlichen Parteien und den ebenso unterschiedlichen Persönlichkeiten entsteht, erzeugt keine schöpferische Kraft, sondern eine selbstzerstörerische Energie.« (S. 351) Trotzdem plädiert er für Verständnis. Diese Regierung wurde unvorbereitet mit »furchterregender und unausweichlicher Gewalt in eine geopolitische Auseinandersetzung gezogen«, die auch andere Regierende nicht routiniert hätten bewältigen können.

3. Peter Michael Lingens (2023): Zeitzeuge eines Jahrhunderts. Eine Familiengeschichte zwischen Adolf Hitler, Bruno Kreisky, Donald Trump und Wladimir Putin. Wien: Böhlau, 575 Seiten, 47,- Euro.

Der österreichische Journalist Peter Michael Lingens feiert am 8. August den 85. Geburtstag. Mit Zeitzeuge eines Jahrhunderts legt er seine umfassende Familiengeschichte in 84 Kapiteln und mit einem Epilog vor. Lingens gehört ohne Zweifel zu den bedeutendsten Meinungsjournalisten Österreichs, der viele Jahre das führende Wochenmagazin Profil zunächst als Chefredakteur, dann als Herausgeber geleitet hat. Nach seinem Ausscheiden 1987 entwickelte er einige Zeit Wirtschaftsjournalismus für Kinder und Jugendliche, dann leitete er ab 1990 die österreichische Ausgabe der deutschen Wirtschaftswoche. Die zweite Hälfte der 1990er-Jahre wirkte er vor allem als Kolumnist der 1988 gegründeten Tageszeitung Der Standard, 2001 kehrte er als Kolumnist zu Profil zurück. Nach eineinhalb Jahrzehnten wechselte er 2017 zur Konkurrenz Falter, wo er noch heute regelmäßig Kolumnen publiziert.

Peter Michael Lingens lädt ein zu einer spannenden Zeitreise durch österreichische und internationale Krisen, aber er gewährt auch offenherzig Einblicke in persönlich herausfordernde Lebensabschnitte eines Journalisten. Dass die Verbrechen des NS-Regimes und der lange unaufrichtige Umgang mit Österreichs Mitschuld dabei wichtige Themen unter sehr vielen darstellen, ist nicht bloß dem Faktum einer prägenden Mutter geschuldet, die als Ärztin im Konzentrationslager Auschwitz arbeiten musste und in Yad Vashem als eine Gerechte gewürdigt wird.

An ausgeprägtem Selbstbewusstsein fehlte und fehlt es dem Journalisten Lingens nie. Es war wohl auch lange Zeit ein hilfreicher Faktor, um den österreichischen Journalismus aus der dienenden Rolle, in der dieser sich in den 1960er-Jahren noch überwiegend befand, zu einer respektierten Instanz der Aufklärung, der Kritik und Kontrolle zu machen. Zugleich zieht sich durch viele Kapitel ein roter Faden, der darauf verweist, wie die Regierungs-, aber auch manche Oppositionspolitik (der FPÖ) wiederkehrend Druck auf journalistische Medien und ihre Akteur:innen ausübten und dies weiter tun.

Es ist wirklich schade, dass der Band bisher im deutschen und Schweizer Feuilleton nicht wahrgenommen wurde. Diese autobiografische Zeitreise von den 1930er-Jahren bis in die Gegenwart bietet nämlich sehr viele mitunter kurzweilige, immer aber analytische Einblicke in die österreichische Zeit- und Mediengeschichte. Auch der relativ hohe Buchpreis steht einer Rezeption durch ein großes Publikum etwas entgegen. Den inhaltlichen Zugang zu diesem üppigen Band unterstützt ein Personenregister und eine weitgehend chronologische Struktur. Die Lesefreude trüben an etlichen Stellen allerdings »ärgerliche Tippfehler und Formulierungshoppalas«, wie bereits Barbara Tóth in ihrer Rezension im Falter kritisch angemerkt hat: »Eine Persönlichkeit wie Lingens mit solch Erzähl- und Schreiburgewalt hätte sich sicher ein besseres Redigat verdient.« Dennoch ist der Band aus unserer Sicht hochverdient in unserer »Top 10«-Auswahl.

4. Andrea von Treuenfeld (2023): Jüdisch jetzt! Junge Jüdinnen und Juden über ihr Leben in Deutschland. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, 252 Seiten, 22,- Euro.

Nach einer Karriere als Zeitungsjournalistin arbeitet Andrea von Treuenfeld freiberuflich als Buchautorin. Sie hat im Laufe der Jahre ein halbes Dutzend thematisch einschlägiger, eher historisch motivierter Werke über jüdische Schicksale, Israel und die Folgen von Auschwitz veröffentlicht. In ihrem neuesten, in den gegenwärtigen Zeiten auf erschreckende Weise aktuell gewordenen Buch lässt sie junge, überwiegend dauerhaft in Deutschland lebende Jüdinnen und Juden als Angehörige einer kleinen Minderheit zu Wort kommen. Und das ist ganz wörtlich gemeint: »Angriffe, Übergriffe haben die meisten der Protagonist*innen dieses Buches erlebt […] Es sind ihre originären Erzählungen, von mir nur in chronologischer, schlüssiger Form niedergeschrieben.« (S. 7) Die 26 auf Gesprächen beruhenden Porträts zeugen von einer großen Vielfalt an Erfahrungen und Einstellungen, Berufen und Lebenswegen. Ein über zwanzigseitiges Glossar hilft, diese besondere Welt zu verstehen. Beschämend und unbegreiflich bleibt, dass fast alle, die sich gerade auch als junge Jüdinnen und Juden bewußt dazu entschieden haben, in Deutschland zu leben, dies nicht tun können, ohne dem Thema »Judenfeindlichkeit« zu begegnen.

5. Giovanni di Lorenzo (2023): Vom Leben und anderen Zumutungen. Gespräche. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 341 Seiten, 25,- Euro.

Giovanni di Lorenzo ist seit 2004 Chefredakteur der Zeit. 2014 hatte er mit dem Band Vom Aufstieg und anderen Niederlagen bereits 20 ausführliche Interviews gesammelt vorgelegt. Erfolg verpflichtet. Daher gibt es nun eine Fortsetzung: Seine, wie er einleitend selbst sagt, »liebsten« Interviews aus den letzten zehn Jahren füllen diesen Band. Die Auswahl der 19 Gesprächspartner:innen ist auch diesmal wieder ungemein breit gefächert, von Papst Franziskus bis Viktor Orbán, von Udo Jürgens bis Umberto Eco, von Recep Tayyip Erdoğan bis Angela Merkel, von Riccardo Muti bis Daniel Cohn-Bendit.

Den Gesprächen ist jeweils eine Einleitung vorangestellt, die mit Charme und Witz schildert, in welchem Rahmen das Interview über die Bühne ging. Im Vorwort berichtet der heute 65-Jährige über Veränderungen, die er in den letzten Jahren in den Begegnungen von Journalist:innen und Personen des öffentlichen Lebens besorgt registriert: Gegebene Interviews werden häufiger von Kommunikationsabteilungen im Nachhinein verändert. Er hat zudem den Eindruck, dass mehr Gesprächspartner:innen inzwischen Angst haben, Falsches zu sagen. Im Vorwort verrät er auch, warum es für einen Nachdruck des Zeit-Interviews mit Sängerin Helene Fischer in diesem Buch keine Druckfreigabe gibt.

6. Katty Salié (2023): Das andere Gesicht. Depressionen im Rampenlicht. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 346 Seiten, 25,- Euro.

Katty Salié moderiert das ZDF-Kulturmagazins aspekte und ist als sympathische und entspannte Moderatorin bekannt. Insofern überrascht es zunächst, von ihr ein Buch über Depressionen zu lesen. Obwohl spätestens seit der Pandemie häufiger und offener über dieses Thema gesprochen wird, ist die Krankheit weiterhin mit Tabus belegt. Das erfährt auch die Autorin, als sie sich eingestehen muss, erkrankt zu sein; ihr notwendiger Klinikaufenthalt dauert wesentlich länger als erwartet. Und je länger sie sich mit ihrer Krankheit auseinandersetzt, desto bewusster wird ihr, wie verbreitet Depressionen sind – gerade auch in ihrem beruflichen Umfeld. Salié ist den Lebens- und Krankengeschichten von über einem Dutzend Menschen nachgegangen: Lesenswert für alle Betroffenen sowie Angehörige und Freunde – vor allem für jene, die meinen: »Reiß Dich einmal zusammen«.

7. Christian Bommarius (2024): Todeswalzer. Der Sommer 1944. München: dtv, 316 Seiten, 26,- Euro.

1998 bis 2017 arbeitete der studierte Germanist und Rechtswissenschafter als Redakteur der Berliner Zeitung, danach als Kolumnist der Süddeutschen Zeitung. Für sein publizistisches Werk zeichnete ihn die Akademie der Künste Berlin mit dem Heinrich-Mann-Preis aus. Nach mehreren Büchern zu verschiedenen Phasen der deutschen Geschichte und nach zuletzt viel Lob für den Band Im Rausch des Aufruhrs. Deutschland 1923 (ebenfalls dtv, 2022), wendet er diese besondere Erzähltechnik nun für den 80 Jahre zurückliegenden Kriegssommer des Jahres 1944 an.

Bommarius beginnt seine kaleidoskopartigen Erzählungen mit dem 6. Juni 1944 am Obersalzberg. Am Abend davor hatte Adolf Hitler mit Eva Braun und Joseph Goebbels bis weit in die Nach hinein in Erinnerungen geschwelgt. Am nächsten Morgen verschlief Hitler die Landung der Alliierten in der Normandie. Ende August 1944 sind wir auch schon beim letzten, dem 13. Kapitel, in Königsberg angelangt. Auf der Lesereise bis dorthin lassen uns die intensiven Erzählungen nicht frei. Die Absurdität und das Grauen des »total« geführten Krieges, der zwar offensichtlich bereits für Deutschland verloren ist, aber bis zum tatsächlichen Kriegsende noch mehr Menschen des Lebens beraubt als bis dahin schon dahingemetzelt worden waren, wirkt gerade ob seiner unaufgeregten, gelegentlich sarkastischen Schilderungen als eindringliche Warnung.

Die Quellen, die der Journalist für sein mosaikförmiges Erzählen heranzieht, sind vielfältig: Tagebücher von Goebbels wie von Anne Frank und vielen anderen, ebenso Reden, Briefe, Zeitzeugen- und Zeitungsberichte. Die verarbeitete Literatur ist am Buchende aufgelistet, die Zitate sind mit Fußnoten belegt.

8. Arthur Landwehr (2024): Die zerrissenen Staaten von Amerika. Alte Mythen und neue Werte – ein Land kämpft um seine Identität. München: Droemer Verlag, 288 Seiten, 24,- Euro.

Bücher deutscher USA-Korrespondentinnen und -Korrespondenten haben eine lange Tradition. Alle wichtigen Zeitungen sind seit Jahrzehnten in den USA vertreten und die (öffentlich-rechtlichen) Rundfunkanstalten leisten sich gut besetzte Studios für Radio, Fernsehen und Online. Viele Journalistinnen und Journalisten haben nicht nur in ihren Medien routiniert berichtet, sondern auch Bücher veröffentlicht, von denen manche zum Bestseller wurden. Arthur Landwehr war über viele Jahre ARD-Hörfunk-Korrespondent in Washington, D.C. Sein Buch will uns auf die schicksalhafte Präsidentschaftswahl 2024 vorbereiten. Dabei erarbeitet er die komplexen Inhalte seines Buches nicht als Reporter, sondern als Analytiker, Kommentator und Leitartikler, gekoppelt an eine durchgehend US-amerikanische Perspektive. Eine wichtige Rolle spielt dabei die »White Anxiety«: Spätestens 2044 werden die Weißen in den USA weniger als 50 Prozent der Bevölkerung ausmachen (S. 87). Auf diese Wählerschaft konzentriert sich Trump; hier feiert er seine Erfolge. Das anregend zu lesende Buch beruht – wissenschaftlichen Analysen vergleichbar – neben der journalistischen Kennerschaft des Autors auch auf vielen seriösen Quellen.

9. Tillmann Bendikowski (2023): Himmel hilf! Warum wir Halt in übernatürlichen Kräften suchen. Aberglaube und magisches Denken vom Mittelalter bis heute. München: C.Bertelsmann Verlag, 320 Seiten, 25,- Euro.

Krisenzeiten gehen mit Angst einher. Daher sollte es nicht verwundern, dass Aberglauben, Rituale und Mythen als Angstbewältigungsstrategien in Zeiten vielfältiger Zivilisationskrisen Auferstehung oder Verstärkung erfahren. Ganz weg waren moderate Formen des Aberglaubens oder der beruhigenden Rituale selbst bei vielen aufgeklärten Menschen nicht. Man denke nur an das dreimal auf Holz klopfen, um Ungemach abzuwehren. Oder die Vermeidung der Zahl 13 in Hotels oder bei manchen Eisenbahnunternehmen.

Der Historiker und Journalist Bendikowski geht den historischen und aktuellen Gründen für die Suche nach Halt in übernatürlichen Kräften durch Aberglaube und magisches Denken in seinem neuesten Buch nach. Er beschreibt und analysiert die Phänomene systematisch und ausführlich auf Basis eines breiten Studiums der Fachliteratur sowie durch Recherchen von einschlägigen Angeboten im Internet. 14 Seiten Literaturliste und 20 Seiten Fußnoten verweisen auf sorgfältige Recherchen eines gut strukturierten, flüssig lesbaren journalistischen Großwerkes. Auch auf die wiederkehrenden Kämpfe gegen den Aberglauben (der eine hohe Beharrlichkeit aufweist) wurde von Bendikowski nicht vergessen.

Der Aberglaube hilft zwar nicht wirklich beim Leben. Dieses Buch könnte aber eine Hilfe sein bei der Emanzipation gegenüber Aberglaube, Ritualen und Mythen. Also: »Buch hilf!«

10. Helene Bubrowski (2023): Die Fehlbaren. Politiker zwischen Hochmut, Lüge und Unerbittlichkeit. München: dtv Verlagsgesellschaft, 222 Seiten, 24,- Euro.

Seit 2013 Redaktionsmitglied der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, wagt sich Helene Bubrowski, studierte Juristin und Völkerrechtlerin, mit diesem Buch an ein Thema, das in ihrer (und jeder anderen) Qualitätszeitung nicht in dieser Breite abhandelbar wäre. Gleichzeitig macht sie in ihrem »Dank« am Ende deutlich, dass ein solches Projekt ohne die Unterstützung einer großen Redaktion, der Vorgesetzten, Kolleg:innen und Freunde sowie ohne die Vorteile, die einem die Zugehörigkeit zur Redaktion der »Zeitung für Deutschland« verschafft (man denke allein an das Prestige eines Titels wie »FAZ« bei allfälligen Telefonkontakten …) nicht möglich gewesen wäre. Bubrowski kennt als Korrespondentin die Routinen und Zwänge des Politikbetriebs und den Unterschied zwischen Vorderbühne und Hinterbühne. Das »Plädoyer für Fehlerkultur in der Politik« (S. 18) könnte auch der Titel einer politikwissenschaftlichen Studie sein. Eine solche wäre aber gewiss nur halb so anregend, detailreich und amüsant zu lesen.

Extra: Eine Übersetzung

Judith Mackrell: Frauen an der Front. Kriegsreporterinnen im Zweiten Weltkrieg. Aus dem Englischen übersetzt von Sonja Hauser und Susanne Hornfeck. Mit zahlreichen Abbildungen. Berlin: Insel Verlag, 542 Seiten, 28,- Euro.

Die regelmäßige Beschäftigung mit »Buchjournalismus« führt zu der Annahme, dass kein anderes kreatives Handwerk methodisch so anpassungsfähig und thematisch so vielfältig ist wie der Journalismus. Das über 500 Seiten starke Buch der renommiertesten Tanzkritikerin Großbritanniens, Judith Mackrell, bestätigt diese Annahme. Frauen an der Front ist nicht ihr erstes biografisches Werk, aber eines, für das sie sich ein Stück weit von ihren sonstigen Themen entfernt und intensiv recherchiert hat. Wir lesen eine Monographie, bei der mehrere Ebenen erzählerisch auf elegante Weise miteinander verbunden werden: eine (Zeit-)Geschichte der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und einiger Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg, erzählt aus der Sicht und anhand der journalistischen Arbeiten von sechs legendären Kriegsreporterinnen: Martha Gellhorn (1908-1998), Clare Hollingworth (1911-2017), Lee Miller (1907-1977), Helen Kirckpatrick (1909-1997), Sigrid Schultz (1893-1980) und Virginia Cowles (1910-1983).

Diese Frauen – und manche andere, weniger berühmte – erreichten durch ihre bewundernswerte journalistische Arbeit, was seitdem selbstverständlich ist: Frauen berichten über Kriege. »Sie waren samt und sonders klug, ehrgeizig, ausgesprochen gebildet. […] Außerdem beobachteten sie alle ziemlich genau, was die anderen schrieben.« (S. 15) So lesen wir neben den Biografien dieser sechs bemerkenswerten Journalistinnen (und übrigens auch von Ernest Hemingway, dem zeitweiligen Ehemann und beruflichen Konkurrenten von Martha Gellhorn) erschütternde Hintergrundberichte aus diesem Netzwerk.

Das gehört zum großen Gewinn von Mackrells Recherchen, denn normalerweise sind die Veröffentlichungen ja ein Resultat von Militärzensur und Selbstzensur, Propaganda und »embedded journalism«, das der grauenhaften Realität an der Front nur bedingt gerecht wird.

Ein weiterer, an Aktualität heute kaum zu überbietender Erzählstrang ist, wie die Regierenden außerhalb des Nazireiches zögerten, den Nationalsozialismus zu bekämpfen – trotz der ihnen von Journalistinnen und Journalisten immer wieder vorgetragenen Beobachtungen und Einsichten. Die Augenzeugenberichte über die Begeisterung für Hitler und seine Mittäter sollten Schullektüre sein. Sie belegen darüber hinaus die Unverzichtbarkeit von Journalismus.

In Kapitel 16 (»Buchenwald, Dachau und Nürnberg, 1945«) hält die Autorin fest: »Nichts von diesem Krieg hatte sie (die Journalistinnen; WRL) auf diese Gräuel der Konzentrationslager vorbereitet, und die Ungeheuerlichkeiten dieses Erlebnisses, die Bilder, die sich in ihre Seelen einbrannten.« (S. 425) Martha Gellhorn drückte es folgendermaßen aus: »Es war, als wäre ich in Dachau von einer Klippe gestürzt und litte seither an einer Gehirnerschütterung.« (S. 469)

Mackrells Buch widmet sich den Pionierinnen der Kriegsberichterstattung; Jahrzehnte später, im Vietnamkrieg, gehörten dem Pressekorps bereits 70 Frauen an. Aktuell und verschärft durch den Gazakrieg sieht die Autorin diese Art des Journalismus, bei dem die Kriegskorrespondent:innen vor Ort sind, »Witterung aufnehmen«, selbst recherchieren, beobachten und befragen durch die (un)sozialen Medien gefährdet (S. 483). So stellt sich am Ende die Frage, ob dieses mit zahlreichen Bildern versehene, schön gestaltete Buch nicht auch vom Verschwinden eines Berufes und eines spezifischen Berufsverständnisses erzählt.

Die Übersetzung des Buchjournalismus wurde gefördert durch die Ludwig-Delp-Stiftung.

1 https://www.ardmediathek.de/serie/ernstfall-regieren-am-limit/staffel-1/Y3JpZDovL3N3ci5kZS9zZGIvc3RJZC8xNTQ4/1


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Zitationsvorschlag

Fritz Hausjell, Wolfgang R. Langenbucher: Die Top 10 des Buchjournalismus. Hinweise auf lesenswerte Bücher von Journalist:innen. In: Journalistik. Zeitschrift für Journalismusforschung, 2, 2024, 7. Jg., S. 248-257. DOI: 10.1453/2569-152X-22024-14226-de

ISSN

2569-152X

DOI

https://doi.org/10.1453/2569-152X-22024-14226-de

Erste Online-Veröffentlichung

August 2024