»… einen Kampfruf gewagt« Karl Kraus (1874 – 1936) im Gespräch

Abstract: Karl Kraus (geboren 28.4.1874 in Jičín, damals Böhmen in der Österreichisch-Ungarischen Monarchie, heute Tschechien; gestorben am 12. Juni 1936 in Wien) entstammte einer Familie des wohlhabenden Mittelstands, mit der er 1877 in die Hauptstadt Wien zog. Nach abgebrochenem Jura- und Philosophie-Studium und Berufsanfängen als Journalist bei Zeitschriften und Tageszeitungen gab er von 1899 bis zu seinem Tod die kulturpolitische Zeitschrift Die Fackel heraus, die längste Zeit als deren einziger Autor. 1922 erschien die Buchausgabe seines pazifistischen Dramas Die letzten Tage der Menschheit, das wegen seiner Länge nur in teilweise vom Autor selbst bearbeiteten Fassungen aufgeführt wird. Als Publizist, Satiriker, Lyriker und Dramatiker übte Karl Kraus scharfe Kritik an der von ihm sogenannten ›Journaille‹ und ihrer Sprache. Hier äußert er sich auch über andere Probleme, u. a. den fraglichen Nutzen von intellektuellem Engagement, den Vorwurf des Antisemitismus oder die Ablehnung des Kriegs.

Keywords: Antisemitismus, Die Fackel, Dreyfus-Affäre, Glosse, Karl Kraus, Maximilian Harden, Satire, Sprachkritik

Wie bei den Aufsätzen über Hilde Spiel und Ingeborg Bachmann als Journalistinnen in den Ausgaben 1/22 und 2/22 handelt es sich um die Vorveröffentlichung eines Beitrags für den mit russischen Kolleginnen und Kollegen geplanten Sammelband über deutschsprachige und russische Publizistinnen und Publizisten des 20. Jahrhunderts, dessen Erscheinen wegen des Ukraine-Kriegs schwierig geworden ist.

Herr Kraus, Sie haben 1899 Ihr eigenes Blatt gegründet, Die Fackel, dabei sind Sie vom Standard abgewichen und haben sie nicht wöchentlich, sondern nur dreimal im Monat erscheinen lassen. War das Ihr Widerspruchsgeist, der sich prinzipiell gegen Konventionen richtet, auch gegen uralte kulturelle Rhythmen wie die Wocheneinteilung?

Nein, nein, überhaupt nicht! Ursprünglich war geplant, Die Fackel allwöchentlich erscheinen zu lassen. Aber dann hätte ich Stempelsteuer bezahlen müssen, jährlich mehr als tausend Gulden. Weil Die Fackel bloß drei Mal im Monat erschien, ersparte sie sich den bekannten Zeitungsstempel und dem Finanzminister Kaizl ein schamvolles Erröten darüber, einer anständigen, auf sich selbst gestellten und nur von ihrer Leserschaft getragenen Zeitschrift den ohnehin beschwerlichen Weg zum Interesse der österreichischen Öffentlichkeit zusätzlich durch die Fußfessel der Stempelpflicht zu erschweren. (I/1/8)[1]

War das denn nötig? Die Fackel war ja am Anfang sehr erfolgreich. Laut Maximilian Harden wurden schon von der ersten Nummer an die 30.000 Hefte verkauft. Später ebbte das dann ab. Hätten Sie bei regelmäßigem wöchentlichem Erscheinen den Erfolg nicht besser stabilisieren können, weil es dem Lebensrhythmus des Publikums entgegengekommen wäre?

Die tiefste Bestätigung dessen, was mit meinen Schriften gedacht und getan war, wurde ihnen zuteil: sie fanden keine Leser. Das Publikum lässt sich nicht täuschen, es hat die feinste Nase gegen die Kunst, und sicherer als es den Kitsch zu finden weiß, geht es dem Wert aus dem Wege. Vor dem Leser haben jene, die ihm mit dem Gedanken im Wort bleiben, einen unendlich schwereren Stand gegen die, welche ihn mit dem Wort betrügen. (VI/329-330/1)

Das Verhältnis der Presse zur Regierung, der die Öffentlichkeit auf die Finger schauen soll, muss gespannt sein, sonst müssten die Journalistinnen und Journalisten sich fragen, ob sie ihre Aufgabe erfüllen. Wie sind Sie mit dieser professionellen Pflicht umgegangen, die zu Ihrer Zeit ja noch nicht so selbstverständlich war wie heute in Demokratien? Sie waren damals noch Monarchist, der zum Hause Habsburg hielt.

In einer Zeit, da Österreich an akuter Langeweile zugrunde zu gehen drohte, in Tagen, die meinem Lande politische und soziale Wirrungen aller Art gebracht haben, habe ich der Öffentlichkeit gegenüber einen Kampfruf gewagt. Als ein zur Abwechslung einmal nicht parteimäßig Verschnittener, vielmehr als ein Publizist, der auch in Fragen der Politik die »Wilden« für die besseren Menschen hielt und von seinem Beobachterposten sich durch keine der im Reichsrat vertretenen Meinungen locken ließ. Freudig trug ich das Odium der politischen »Gesinnungslosigkeit« auf der Stirne, die ich, »unentwegt« wie nur irgendeiner von den Clubfanatikern und Fraktionsidealisten, bot. (I/1/1)

Mögen Sie an einem Beispiel erläutern, was Sie mit parteiunabhängiger Sozialkritik meinten und wie Sie sie praktiziert haben?

Ja, gern. In Nummer 4 von Anfang Mai 1899 bin ich unter dem Titel »Universitätsbummel« den Verhältnissen in der Wiener medizinischen Fakultät nachgegangen. Dabei hat sich herausgestellt: Statt eine Gelehrtenrepublik zu sein, in der die Fähigsten das Sagen haben, glich sie einer Feudalherrschaft sondergleichen, war sie eine auf zufällige Erblinien gestützte Oligarchie. Da es sich um gelehrte Herrschaften handelte, empfahl sich zum Beweise des Vorgebrachten die in wissenschaftlichen Arbeiten übliche Form der Tabelle. In einer solchen habe ich nicht weniger als 15 Paare von der Fakultät angehörenden Medizinern, die meisten Professoren, aufgeführt, die als Onkel und Neffen oder gar als Väter und Söhne verwandtschaftlich verbunden waren. Aus der Tabelle geht hervor, dass an der Wiener medizinischen Fakultät zwar nicht immer fachliche Begabung, sicher aber akademische Stellen erblich waren. Hier ereignete sich das von den größten Philosophen noch nicht erklärte Wunder der Vererbung: Wir sehen den Sohn Meister desselben Spezialfaches werden, in dem sich der Vater hervorgetan hat. Die katholisch-theologische Fakultät zeigte sich im Rahmen der durch wissenschaftliche Inzucht degenerierten Universität als einzige, bei der sich der Protektionismus zwischen Vätern und Söhnen nicht nachweisen ließ. Deshalb habe ich geraten, auch die medizinischen Gelehrten zum Zölibat zu verhalten. (I/4/7-10)

Das ist beißende, durch Ironie für verständige Leserinnen und Leser auch eingängige Sozialkritik. Hätten Sie die nicht auch in der Wiener Neuen Presse üben können, bei der Sie zuvor als Journalist ja durchaus erfolgreich waren? Warum eine eigene Zeitung gründen?

Ich habe mich mit der Fackel nicht nur vom politischen, sondern auch vom herrschenden Kultur- und Medienbetrieb deutlicher distanziert. Bis zur Gründung der Fackel hatte ich es nicht über den Ruhm hinausgebracht, in engeren Kreisen missliebig geworden zu sein. In mehreren periodisch erscheinenden Druckschriften hatte ich seit einer Reihe von Jahren gegen die periodisch erscheinenden Dummheiten und Lächerlichkeiten des politischen, gesellschaftlichen und literarischen Lebens in Österreich gekämpft. Nicht immer mit der zum Angriff nötigen Lust, weil – ja, weil gewisse Rücksichten, die selbst die Herausgeber anständiger oder, um ein milderes Wort zu gebrauchen, »unabhängiger« Blätter gewissen Cliquen schuldig zu sein glaubten, nun einmal kein befeuerndes Motiv sind. Nicht die Zensur des Staatsanwalts habe ich gefürchtet, vielmehr die intimere eines Chefredakteurs, die, wenn ich, sozialen Ekels voll, einmal in das schändliche Hausierertreiben unserer Journalistik hineinfahren wollte, mit weicher Sorglosigkeit all’ den Ärger in fernere Regionen abzulenken bemüht war. Dort, wo zu keinem Amt, keiner Finanzgruppe, ja zuweilen selbst zu keiner Meinung Beziehungen nachweisbar waren, stellte sich pünktlich die Rücksicht auf tausend gesellschaftliche Machtfaktoren ein. (I/1/4-6)

Können Sie bitte auch diese Unabhängigkeit an einem Bespiel konkretisieren?

In der Fackel stand die ausdrückliche Absage an jede Kooperation mit anderen Verlagen und Presseorganen durch folgende Mitteilung: »Die Zusendung von Briefen, Drucksachen, Ausschnitten, Einladungen, Theater-, Vortrags- und Konzertkarten etc. ist zwecklos und unerwünscht. Eine Prüfung von Manus­kripten erfolgt in keinem Falle. Rezensionsexemplare werden verkauft, der Erlös – wie auch eingesandte Porti – einem wohltätigen Zweck zugeführt. Insbesondere werden die Herausgeber von Zeitschriften ersucht, deren Sendung zu unterlassen. Tausch-, Probe- und Rezensionsexemplare der Fackel oder der Bücher des Verlages der Fackel werden nicht abgegeben. Zuschriften, die das Abonnement oder die Expedition betreffen, sind an den Verlag und nicht an den Herausgeber zu richten.« (z. B. X/800-805/134)

Gleich in der ersten Nummer der Fackel haben Sie die mangelnde Unab­hängig­keit der Theaterkritik in der Wiener Presse kritisiert und in der zweiten auch die Namen von Redakteuren (Wittmann, Herzl und Heuberger) genannt, die sich wechselseitig loben und im Feuilleton ihren eigenen Stücken Beifall klatschen. Daraufhin wurde Ihnen vorgeworfen, dass in der Fackel ja auch Ihre eigenen Publikationen, z. B. das Buch Die demolirte Litteratur[2], mit lobenden Zitaten aus anderen Zeitungen und Zeitschriften angepriesen würden. Was sagen Sie dazu?

Die Vorwürfe waren unberechtigt. Es hat sich um eine rein administrative Angelegenheit des Verlegers der Demolirten Litteratur gehandelt. Zitiert wurde kein einziges der Wiener Blätter, vielmehr waren alle nur der Reihe nach aufgezählt, die sich – ich kann ja nichts dafür – ehedem lobend geäußert hatten. Da ein Leser es aber tadelte, so bat ich den Verleger der Demolierten Literatur, von der Aufzählung der Pressestimmen in seiner Annonce abzusehen. (I/2/32)

Die Anzeige (vgl. I/1/30) enthielt zwar keine lobenden Zitate aus Wiener Zeitungen, aber aus einer deutschen Literaturzeitschrift und dem Berliner Fremdenblatt. Zeigt die Episode nicht doch, was ja auch Ihre Bitte an den Verleger eingesteht: Dass ein Versuch wie der Ihre mit der Fackel, sich als Verleger, Herausgeber und Autor dem Mediengeschäft und seinen Abhängigkeitsmechanismen zu entziehen, bei aller Aufrichtigkeit des Bemühens letztlich zum Scheitern verurteilt ist? Heute wird das die Selbstbeobachtungsfalle der Medienkritik genannt.[3] Mussten nicht auch Sie sich wohl oder übel den Gesetzen des Medienmarktes, dem Kampf um Aufmerksamkeit anpassen?

Mag sein, aber ich habe darauf gesetzt und hoffe es noch, dass das konsequente Bemühen um Unabhängigkeit auf lange Sicht nicht sinnlos ist. Das Wort, die Arbeit des Schriftstellers und Publizisten kann der mitteilende Helfer von Taten und Untaten sein. Doch zu sich gebracht, in den Bereich seiner Natur zurückgeholt, dem Element wiedergegeben, aus dem sich das Sprachbild von Tat und Untat gestaltet, versagt das Wort die zeitige Gegenwirkung, die sein Teil nicht ist; bewahrt sich als moralisches Erbe, verkümmert jedoch am unzeitgemäßen Anspruch. (XI/890-905/7)

Sie sind nicht müde geworden, schlechten Journalismus, aber auch den Krieg und die Geschäftemacherei mit ihm zu bekämpfen. Ihr Mittel dagegen war die Sprachkritik durch bessere Sprache, mit der Sie die Phrasen des Journalismus wie des Kriegs entlarvt haben. Glauben Sie, dass sich schlechte Verhältnisse verbessern lassen, indem man die Sprache verbessert, die solche Verhältnisse falsch bezeichnet?

Da muss ich mit dem Nörgler aus meinem Drama Die letzten Tage der Menschheit[4] antworten. 1914 wurden die durch die allgemeine Wehrpflicht in Krieg und Tod gezogenen Rekruten »Einrückende« genannt. Richtiger hätte man sie »einrückend Gemachte« nennen sollen. Das Partizip der Gegenwart allein würde noch eine Willenstätigkeit bedeuten und darum muss schon ein Partizip der Vergangenheit hinzutreten. Es sind also einrückend Gemachte. Bald werden sie eingerückt gemacht sein. Ich sah einrückend Gemachte und spürte, dass es gegen die Sprache ging. Im Krieg geht’s um Leben und Tod der Sprache. (XII, 227-232)

Überschätzen Sie die Bedeutung der Sprache nicht doch?

Mein rocher de bronce ist die Sprachkritik. Wäre eine stärkere Sicherung im Moralischen vorstellbar als der sprachliche Zweifel? Alles Sprechen und Schreiben hat als der Inbegriff leichtfertiger Entscheidung die Sprache zum Abfall einer Zeit gemacht, die ihr Geschehen und Erleben, ihr Sein und Gelten, der Zeitung entnimmt. Der Zweifel als die große moralische Gabe, die der Mensch der Sprache verdanken könnte und bis heute verschmäht hat, wäre die rettende Hemmung eines Fortschritts, der mit vollkommener Sicherheit zu dem Ende einer Zivilisation führt, der er zu dienen wähnt. Abgründe dort sehen zu lehren, wo Gemeinplätze sind – das wäre die pädagogische Aufgabe an einer in Sünden erwachsenen Nation; wäre Erlösung der Lebensgüter aus den Banden des Journalismus und aus den Fängen der Politik. (XI/885-887/2f.)

Auch für die politische Dimension der Sprachkritik hätte ich gern noch Beispiele.

Ein Volk ist dann fertig, wenn es seine Phrasen noch in einem Zustand mitschleppt, wo es deren Inhalt wieder erlebt. Das ist dann der Beweis dafür, dass es diesen Inhalt nicht erlebt. Ein U-Boot-Kommandant hält die Fahne hoch, ein Flieger schlägt sein Leben in die Schanze. Leerer wird’s noch, wenn die Metapher stofflich zuständig ist. Wenn statt einer anderen Truppenoperation einmal eine maritime Unternehmung Schiffbruch leidet. Wenn der Erfolg in unsern jetzigen Stellungen bombensicher war und die Beschießung eines Platzes ein Bombenerfolg. (XII/231f.)

Wenn solche Redensarten der kriegerischen Sphäre entstammen, liegt das nicht daran, dass man in den Jahren nach 1914 und 1939 in ihr lebte?

Nein, man tat es nämlich nicht. Sonst wäre der Schorf der Sprache von selbst abgefallen. Ich las einmal in der Zeitung, dass sich die Nachricht von einem Brand in einem Wiener Vorort wie ein Lauffeuer verbreitet habe. So auch die Nachricht vom Weltbrand. (XII/232)

Hat es denn deshalb nicht gebrannt?

Doch. Papier brennt und hat die Welt entzündet. Erlebt war nur, dass die letzte Stunde geschlagen hatte. Denn die Kirchenglocken wurden in Kanonen verwandelt. (XII/232)

Ihren Optimisten ließen Sie erwidern: »Die Kirchen selbst scheinen das nicht so tragisch zu nehmen, denn sie stellen die Glocken vielfach auch freiwillig zur Verfügung.« (XII/232)

Es konnte von der Kirche wohl nicht verlangt werden, dass sie Gottes Segen für die feindlichen Waffen herabfleht, aber zu einem Fluch für die eigenen hätte sie sich immerhin aufraffen können. Da hätten sich dann die Kirchen der kämpfenden Staaten besser verstanden. So war es möglich, dass der Papst den Krieg zwar verwünscht hat, aber von »berechtigten nationalen Aspirationen« sprach, und dass an demselben Tag der Fürsterzbischof von Wien den Krieg segnete, der zur Abwehr »ruchloser nationaler Aspirationen« geführt werde. Wären die Inspirationen stärker als die Aspirationen, gäb’s damals wie heute keinen Krieg. (XII/232f.)

Zweimal, 1914, nachdem die europäischen Nationen den Weltkrieg begonnen, und 1933, als die Deutschen Hitler an die Macht gebracht hatten, ist Die Fackel monatelang nicht erschienen. Lag diesem Verstummen möglicherweise Ihre selbstkritische Einsicht zugrunde, dass Sprache, auch Sprachkritik mithilfe von Sprache, gegenüber den Schrecken solcher Ereignisse letztlich doch hilflos ist?

Nachdem Exilzeitungen mir vorgeworfen hatten, ich hätte »zu einem Kampf gegen die faschistische Barbarei keine Zeit« gehabt, weil ich mit Aufgebot all meiner Kraft »Pressprozesse um Satzzeichen« führte (vgl. XI/889/12), habe ich mich entschieden, die Fackel im Juli 1934 doch wieder erscheinen zu lassen. Viele haben damals mein Gedicht in der einzigen schmalen Ausgabe des Jahres 1933 mit den Zeilen »Es geht vorbei; nachher war’s einerlei.« (XI/888/4) als Resignation verstanden. Aber ich habe unmittelbar nach der Machtübernahme Hitlers intensiv an einem großen und bissigen Text gegen die Nazi-Herrschaft gearbeitet, den ich nur damals nicht publiziert habe, um niemanden der darin Erwähnten zu gefährden, und der erst nach der Nazi-Herrschaft unter dem Titel Die dritte Walpurgisnacht[5] erschienen ist. Darin habe ich bedauert, bei der Bücherverbrennung übergangen worden zu sein: »Diese schwarze Liste, bei deren Anblick einen der gelbe Neid packt. Wo bleibt da die Gerechtigkeit, wenn man sein Leben lang zersetzend gewirkt hat, den Wehrwillen geschwächt, dem Anschluss widerraten und den ans Vaterland nur zum Schutz gegen das andere empfohlen hat, in der (…) Erkenntnis, dass dort elektrisch beleuchtete Barbaren hausen und dass es das Volk der Richter und Henker sei.« Aus diesem Text habe ich in der Fackel vom Juli 1934 den später berühmt gewordenen Satz zitiert: »Mir fällt zu Hitler nichts ein.« (XI/890-905/2)

Ihnen sind dann ja aber doch 315 Seiten eingefallen, die diese Ausgabe der Fackel füllen. Haben Sie da Ihre mit dem Verstummen möglicherweise gewachsene Skepsis gegenüber der Wirkungsmächtigkeit der Sprache und der Sprachkritik durch Sprache wieder revidiert?

Was sich Leser und Schreiber unter schriftstellerischer Tätigkeit im Allgemeinen und der seinen im Besonderen vorstellen, ist dem Autor der Fackel unbekannt. Bis zu seinem Schreibtisch sind sie noch nicht vorgedrungen, und das ist gut, weil sie sich dann vollends nicht auskennen würden. Er ist ja nicht faul gewesen, und er mag da vielleicht mehr versucht haben, als je an solchem Platze vollbracht wurde. Es gibt einen Punkt der Betrachtung, von dem aus nichts mehr links oder rechts, sondern alles nur dumm erscheint. Der Hohlkopf, der sich überhaupt nichts vorstellt, stellt sich doch eine »Wirkung« vor, die etwas »umwirft«, etwas, dem er zufällig, meinungsmäßig, an der Oberfläche gefühlsmäßig widerstrebt, und womit er im tiefsten Grunde geistesverwandt ist. (XI/890-905/6f.)

Aber ist es denn falsch, vom politischen Engagement, das sich auch in manchen publizistischen Formen, z. B. der Satire, ausdrücken kann, sichtbare Effekte zu erwarten – oder wenigstens zu erhoffen?

Dies war immer das Problem der vom Aktuellen bezogenen Satire, welche erst in der Entfernung vom Anlass wirksam, ja verständlich wird. Bedarf es denn der Klarstellung, dass das Wort in seiner Beziehungsfülle sich dichterisch allem verbindet, nur nicht dem, was die Meinenden gemeint haben? Wenn sich nun die Sprache geflissentlich jenem Anspruch falscher Funktion entzieht, wenn sie sich an den außerzeitlichen oder zweckfernen Inhalt vergibt – sich etwa im Sprachspiel Shakespearscher Sonette vergeudend –: dann werden die Zweckhungrigen, die sich nicht abspeisen lassen, ungebärdig, die Zeitstoffel werden rebellisch, die sich vorstellen, dass ein Satz aus nichts als ihrem Antrieb entsteht: das auszudrücken, was in ihnen vorgeht! (XI/890-905/7-9)

Herr Kraus, eine letzte Frage zur Sprachkritik. Sie haben vorhin die Satire und damit Ihre Technik, ja Kunst der satirischen Glosse angesprochen, über die Joachim Pötschke Anfang der 1960er-Jahre bei Hermann Budzislawski und Hans Mayer an der Karl-Marx-Universität in Leipzig seine Dissertation geschrieben hat.[6] Er hat darin gezeigt, dass Sie sich in Ihren Glossen hauptsächlich, manchmal sogar ganz auf Zitate aus der von Ihnen bekämpften Tagespresse beschränkt haben – Zitate, die Widersprüche sichtbar werden lassen. Lag nicht auch in dieser an Verzicht grenzenden Sparsamkeit eine Skepsis gegenüber der Kraft erklärender Worte?

Das glaube ich nicht. Ich kann Ihnen diese Technik an einem Beispiel erläutern, das dann auch meine Antwort begründet. Der miserable Kulturjournalismus der Neuen Freien Presse und besonders ihrer Theaterkritik war so penetrant oberflächlich, dass man ihn nur zu zitieren brauchte, um ihn zu vernichten. Das habe ich über die Jahrzehnte weidlich getan, zum Beispiel mit einer Glosse Anfang August 1929. Den Text habe ich unter die Überschrift »Die Räuber in Salzburg« gestellt und das sich selbst entlarvende Zitat nur kurz folgendermaßen eingeleitet: »Das Inszenierungsproblem der ›Räuber‹ hat seit Piscator die deutsche Kulturwelt bewegt. Man war auf Reinhardts Lösung gespannt. Ich habe ihr zwar nicht beigewohnt, aber ein lebendiges Bild durch den die Eindrücke zusammenfassenden Bericht der Neuen Freien Presse erhalten. Er lautet: ›Die Reinhardt-Inszenierung von Schillers Die Räuber. Telegramm unseres Korrespondenten. Den Höhepunkt der heurigen Festspielsaison bildete die gestrige Premiere der Reinhardt-Inszenierung von Schillers Die Räuber. Zu diesem Ereignis hatte sich im Festspielhaus ein glänzendes Publikum eingefunden, das alle Räume füllte. In dem ausverkauften Haus gaben die herrlichen Toiletten der Damen dem Bilde eine farbenprächtige Note. Man sah zahlreiche Vertreter der Theaterwelt des In- und Auslandes sowie der Spitzen der Behörden von Stadt und Land Salzburg mit Landeshauptmann Rehrl, Bürgermeister Ott und viele bedeutende Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens. Der Premiere wohnte auch der frühere Handelsminister Dr. Heinl bei. Nach der Vorstellung fand im Schloß Leopoldskron ein Empfang bei Max Reinhardt statt, zu dem sich eine große Anzahl von Personen in den herrlichen Räumen des Schlosses eingefunden hatten.‹« – Das sprach so deutlich gegen sich selbst, dass es keiner kritischen Bemerkungen dazu bedurfte. So war meine Art, das verkommene Feuilleton der Tagespresse zu bekämpfen, ohne mich selbst ihren Gesetzen zu unterwerfen. (X/811-819/136f.)

Wurde diese zurückhaltende Ironie von allen Lesern verstanden? Vermutlich haben Sie damit vor allem diejenigen erreicht, die über die »Journaille« ohnehin die Nase rümpften. Haben Sie nicht im Grunde auf hochnäsige intellektuelle Kreise gehofft? Stand das nicht im Widerspruch zu den politischen Ansichten, die Sie sich im und nach dem Ersten Weltkrieg gebildet hatten, als Sie sich nach Ihren monarchistischen Anfängen der Sozialdemokratie annäherten? – Aber kommen wir zu einem anderen Komplex. In Ihrem berühmt-berüchtigten Aufsatz Heine und die Folgen (VI/329-330/1-33) haben Sie dem Dichter und Journalisten Heinrich Heine eine ästhetisierende, undeutsche Verliebtheit in Sprache, Stil und Reim vorgeworfen.

Ja, richtig. Heine kam es nur auf seinen Worthandel an. Hauptsache, es klang schön. Er hat die Sprache zum Ornament werden lassen, zum kunstgewerblichen Fortschritt in der Tagespresse. Selbst im Stil der modernsten Impressionsjournalistik meiner Zeit und wohl auch noch heute verleugnet sich das Heinesche Modell nicht. Ohne Heine kein Feuilleton. Das ist die Franzosenkrankheit, die er uns eingeschleppt hat. Wie leicht wird man krank in Paris! Wie lockert sich die Moral des deutschen Sprachgefühls! Die französische gibt sich jedem Filou hin. Vor der deutschen Sprache muss einer schon ein ganzer Kerl sein, um sie herumzukriegen, und dann macht sie ihm erst die Hölle heiß. Heine hat der deutschen Sprache so sehr das Mieder gelockert, dass heute jeder an ihren Brüsten fingern kann. (VI/329-330/7,11) Ich dagegen will ihre strengen Regeln enträtseln, ihre Untiefen und gefährlichen Pläne verstehen, um ihr zu dienen und nicht, um sie zu beherrschen und als Instrument reizvoller Verlockung zu missbrauchen. (XI/885-887/3)

Aber teilen Sie nicht mit Heine die Überzeugung, dass es auf die Sprache, den Stil in höchstem Maße ankommt – wenn auch nicht nur in ästhetischer Hinsicht? Immerhin trauen Sie der Sprachkritik durch Sprache ja langfristige, in die Tiefe der Kultur dringende Wirkungen zu, auch wenn Sie ihr aktuelle politische Veränderungen absprechen.

Im Gegensatz zu Heine habe ich nichts anderes versucht als eine Trockenlegung des weiten Phrasensumpfes, den andere auch heute noch immerzu national abgrenzen wollen. Mit Feuerzungen – und wäre es auch ein Dutzend verschiedensprachiger – predigen die Verhältnisse des Erkennen sozialer Notwendigkeiten. Aber Regierende und Parteien wünschen immer noch vorerst symbolpolitische Fragen erledigt zu wissen. (I/1/2)

Heine haben Sie auch Gesinnungslosigkeit, Wankelmut in seinen politischen Haltungen und Absichten vorgeworfen. Aber wie war es bei Ihnen? Am Anfang haben Sie zum Habsburger Herrscherhaus, besonders zum Erzherzog Franz Ferdinand gehalten, dann mit der noch marxistischen Sozialdemokratie sympathisiert, dann wieder mit dem austrofaschistischen Diktator Engelbert Dollfuß, von dem Sie sich wohl erhofften, dass er das Übergreifen des Nationalsozialismus deutscher Prägung auf Österreich verhindern würde. Die Erfahrung dieses Irrtums ist Ihnen durch Ihren Tod 1936 erspart geblieben. Aber wie stehen Sie zum Vorwurf schwankender politischer Gesinnung? Muss er angesichts der zahlreichen Richtungswechsel in Ihren eigenen politischen Affinitäten nicht auf Sie selbst zurückfallen?

Die Erscheinung schmerzlichsten Kontrastes, die sich durch unser öffentliches Leben zog und zieht, wurde in Der Fackel als Gesichtspunkt für die Beurteilung aller politischen Ereignisse hochgehalten. Zuweilen mag es wohl geglückt sein, dem dumpfen Ernst des Phrasentums, wo immer er sein Zerstörungswerk verübte, durch eine ihm unbequeme Heiterkeit zeitig den Kredit zu schmälern. (I/1/2)

Heine war Jude, der sich taufen ließ, um in Preußen als Jurist tätig werden zu können, dessen Judentum aber für sein Leben und sein ganzes Werk prägend geblieben ist.[7] Steckten in Ihrer Aversion gegen Heine nicht auch Momente des in ganz Europa verbreiteten Antisemitismus, den auch Sie sich trotz Ihrer jüdischen Herkunft – vielleicht sogar aus Widerspruchsgeist gegen sie – geleistet haben? Auch verständnisvolle Interpreten haben festgestellt, dass Ihr Werk durch Stereotypen nicht nur über den Journalismus und dessen Oberflächlichkeit, sondern auch über Juden und deren »Wurzellosigkeit« belastet ist,[8] und dass u. a. in Ihrem Aufsatz über Heine antisemitische Klischees mal in spielerischer Verwendung, mal auch in roher Unverblümtheit zum Ausdruck kommen.[9]

In der letzten Nummer der Fackel vom Februar 1936 habe ich in einer Glosse über die New Yorker Premiere von Max Reinhardts Film über Shakespeares Sommernachtstraum die Huldigung kritisiert, die in Amerika den Züchtern des Antisemitismus zuteil wurde, die eher eine innenpolitische Angelegenheit war als die Misshandlung, die den unschuldigen Opfern in Deutschland widerfuhr. (XI/917-922/6) Und in einer weiteren Glosse zur lauten Kritik der Presse am Vertragsbruch durch die Metro-Filmgesellschaft, der die vereinbarte Verfilmung von Franz Werfels Roman Die Vierzig Tage des Musa Dagh doch nicht zustande kommen ließ, habe ich aufgespießt, dass diese Kritik, die auch den Nazi-Begriff der »Rassenschande« betraf, in einer Zeit laut wurde, in der »zum Schutze der deutschen Ehre und des deutschen Blutes« 35.000 Haushaltsgehilfinnen die jüdischen Haushaltungen verlassen mussten und zum Schutz vor dem Verhungern in »Auffanglager« geschleppt wurden. Die Glosse wies dann noch darauf hin, dass nun auch die Vorstände jener Haushaltungen als Rassengenossen von Freiheitskämpfern verhungern mussten und der jüdische Romanautor für jeden der vierzig Tage des Musa Dagh bloß 1000 Dollar Entschädigung erhielt. (XI/917-922/48-50)

Aber haben Sie mit solcher Ironie nicht auch das Stereotyp des reichen, raffgierigen und faulen Juden bedient? Ihre Glosse ist übrigens noch aktuell. Den Stoff von Werfels Roman[10] bildet der Widerstand der armenischen Minderheit gegen den jungtürkischen Ausrottungsfeldzug 1915, der in Frankreich und mittlerweile auch in Deutschland offiziell als Genozid gilt, was die Türkei nach wie vor leugnet. Sie haben eine mögliche Verfilmung des Romans durch Hollywood in Ihrer Glosse als »Kitsch« abgetan. Lag nicht auch dem ein antisemitisches Vorurteil zugrunde?

Es ist die Frage, ob das dogmatische Interesse der Jüdisch-Klerikalen – es gab eine solche regierungslüsterne Partei – nicht am Ende größeres Unheil bewirken kann als aller Antisemitismus. Bestrebt, die Juden nach den vier Jahrtausende alten Anweisungen als »ein auserwähltes Volk zu erhalten, das sich mit anderen Völkern nicht mischt«, ja ihnen in nichts zu ähnlich werden darf, haben sie an Dreyfus den Fingerzeig ihres Gottes gegen die Assimilation erläutert. Über das Dogma »vom auserwählten Volk« scheint trotz allem Rationalismus die rechtgläubige Judenheit nicht hinauskommen zu wollen. (I/7/4)

Glauben Sie denn, dass die seit dem frühen Mittelalter ständig gewachsene Judenfeindschaft in Europa bloß auf die mangelnde Anpassungswilligkeit eines Teils der jüdischen Bevölkerung, bloß auf deren unbeugsames Festhalten an jüdischen Glaubens- und Kulturtraditionen zurückzuführen ist?

Nein, das glaube ich nicht. Der Antisemitismus, der in Frankreich mit der Dreyfus-Affäre so rasch und fast unerwartet emporloderte, hat bewiesen, dass selbst einer sozial vorgeschrittenen Nation die von einem Teil der Juden mit vielem Eifer betriebene psychologische und gesellschaftliche Assimilation nicht genügt, wo der Prozentsatz der jüdischen Bevölkerung ein gewisses Maß übersteigt. Mag sein, dass der Sozialismus diese Anpassung, die sich bis zum Ende des 19. Jahrhunderts doch nur auf die oberen Schichten erstreckte, in der ganzen Bevölkerung gründlich durchgesetzt hätte. Mag aber auch sein, dass selbst die elementarste gesellschaftliche Gewalt dies ohne natürliche Nachhilfe nur unvollkommen erreichen kann. Jedenfalls hat sich für die damalige Geschichts- und Gesellschaftsperiode die Assimilation der Juden ohne physiologische Genmischung als unzureichend erwiesen. (I/7/5)

Sie reden der Assimilation der Juden das Wort, die Sie ja auch an sich selbst vollzogen haben, so weit es ging. Andererseits höre ich aus Ihren Worten Zweifel, ob selbst die vollkommenste Assimilation jemals den Antisemitismus aus der Welt schaffen kann. Das scheint mir realistisch zumal nach der Shoah, der auch viele deutsche und österreichische Patrioten jüdischer Herkunft zum Opfer gefallen sind. Zu dieser dem Antisemitismus gegenüber kritischen Einstellung scheint mir allerdings nicht zu passen, dass Sie gemeinsam mit den deutschen Sozialisten und besonders Wilhelm Liebknecht, den Sie das in der Fackel mehrmals haben kundtun lassen, in der Dreyfus-Affäre auch dann noch ein kommerziell getriebenes, von Medien inszeniertes Schauspiel erblickt haben, als das Fehlurteil über den jüdischen Hauptmann bereits offen zu Tage lag. War das nicht eine kapitale Fehleinschätzung?

Davon, dass die Dreyfus-Affäre ein ideologisches Schmierentheater war, bin ich Zeit meines Lebens nicht abgerückt. Noch 1930 habe ich in einer polemischen Auseinandersetzung mit Alfred Kerr unmissverständlich und mit Recht festgestellt, dass das nie genug abwendbare Schicksal eines Frontsoldaten ein ungleich beträchtlicheres Martyrium bleibt als der Inhalt der Affäre Dreyfus, mit der die verlogenste aller Bourgeoisien, die mitteleuropäische, von ihren einheimischen Gewalttaten abgelenkt hat und noch nach 30 Jahren durch ein dramatisches Plakat die Gloriole ihrer Gerechtigkeit vor sich hertragen wollte. (X/827-833/83)

Im Gegensatz zu Liebknecht und den deutschen Sozialisten haben die französischen unter Jean Jaurès für Dreyfus und seine Rehabilitierung Partei ergriffen. Leon Blum hat später darauf hingewiesen, dass Jaurès’ präzise Artikelserie »Les Preuves« in der Zeitung La Petite Republique im Sommer 1898[11] neben Émile Zolas anklagendem Artikel »J’accuse« in der L’Aurore vom 13. Januar desselben Jahres die entscheidende journalistische Leistung beim Aufdecken der antisemitischen Verschwörung des französischen Establishments war.[12] 1899 haben Liebknecht und Sie noch in der Fackel bestritten, dass in Generalstab und Regierung Frankreichs gegen Dreyfus konspiriert worden war. Wäre nicht irgendwann eine öffentliche Revision Ihres Irrtums fällig gewesen? Politiker und Richter der Dritten Republik haben das Fehlurteil eingestanden und zurückgenommen.

Ich konnte auch da nicht vergessen, dass der alte Liebknecht den wahren revolutionären Mut bekundet hat, als er in der jungen Fackel dem Versuch eines lügenhaften Liberalismus und Journalismus entgegentrat, durch ein Manöver der Humanität von den Opfern der einheimischen Justiz abzulenken. Ich wollte den Fall Dreyfus nicht endgültig als das Symbol aller Märtyrerschaft gelten lassen, durch dessen bloße Anrufung man sich schon jegliches Alibi ergattert. (X/827-833/83)

Über Jaurès und die französischen Sozialisten haben Sie sich von einem ziemlich hohen Ross herab lustig gemacht, Liebknecht und die deutsche Sozialdemokratie, die sich aus parteitaktischen Gründen beharrlich und schließlich wider besseres Wissen auf die Seite der Dreyfus-Gegner und ihrer antisemitischen Fehlurteile und sogar Fälschungen schlug, haben Sie gelobt. Sie selbst sind jüdischer Herkunft. Steckte in Ihrer Fehlbeurteilung der Dreyfus-Affäre, in ihren Stereotypen über Juden vielleicht auch etwas vom gern behaupteten jüdischen Selbsthass?

Meine Kritik des Judentums weist auch nicht die Spur jenes »Selbsthasses« auf, mit dessen Vorspiegelung sich seit jeher die abgewiesenen Hausierer der Literatur entschädigt haben. Das Bedürfnis nach Absonderung wird als Beweis schimpflicher Zugehörigkeit entlarvt, wozu ihnen besonders das Rüstzeug jener Psychoanalyse hilft, die selbst in Zeiten der Arbeitslosigkeit ihren Mann nährt. Sie soll namentlich auf Amerikaner, die sich für alles interessieren, was sie nicht haben, wie Antiquitäten und Vorgänge des Innenlebens, einen unverminderten Reiz ausüben. Das mit dem Selbsthass des Judentums ist eine ältere Petitesse, lebte aber am Herausgeber der Fackel, selbst wenn er daniederliegend geglaubt wurde, immer von Neuem auf. Die Vorstellung, dass er nachts am Schreibtisch sitzt, und ehe er zur Feder greift – denn das tat er wirklich und es war nicht einmal eine Füllfeder, geschweige denn eine Schreibmaschine – seine Brust mit Fäusten traktiert, mit sich hadert oder sonst irgendwie »ringt«, gehört zu den Allotria, die die Abfallsbereitschaft ersonnen hat, welche die Planmäßigkeit und Beherrschtheit verkennt, mit der er daranging, sich aus ihr einen Vers zu machen. Sie hat natürlich auch keine Ahnung, dass jeglicher Versuch, den Puls der Sprache zu fühlen, nicht in jenem »Rausch« entsteht, der der Vorstellung des Dilettanten entspricht, sondern in der Verzückung der Logik. Was meine Kritik der minderen jüdischen Typen anlangt, die in der Literatur wie in der Psychologie die grausamen Repressalien an Geist und Natur verüben, so erscheinen sie mir geistesgeschichtlich nicht weniger gravierend und beträchtlich als jene Exzesse, durch die unmittelbarer das Erbarmen mit menschlichem Leid angesprochen wird. Dagegen fühle ich mich zu dem Bekenntnis gedrängt, dass ich in der Ehrerbietung für das geschändete Leben und die besudelte Sprache die Naturkraft eines unkompromittierbaren Judentums dankbar erkenne und über alles liebe: als etwas, das von Rasse und Kasse, von Klasse, Gasse und Masse, kurz jeglichem Hasse zwischen Unmenschen und Schiebern unbehelligt in sich beruht. (XI/890-905/36-38)

Wäre es nicht möglich gewesen, dem Antisemitismus stärker und deutlicher entgegenzutreten, wenigstens durch die Veröffentlichung entsprechender Leserbriefe?

Dem Ansinnen: zu diesem Gräuel und Abschaum von Händeln und Raufhändeln, zu diesem Fladen von Rotwelsch und Kauderdeutsch, Unlogik und Lüge, zu all dem, was man im Halbschlaf gedanklich unterkriegt, »Stellung zu nehmen«; vor rabiaten Kleinbürgern Schulter an Schulter mit der Papiermacht Kampfgenosse der Dummheit zu sein, die gar nicht ahnt, wie sie bis zur letzten Hitler-Anekdote das Ziel verfehlt – solchem Ansinnen war kurzerhand mit dem Hinweis zu begegnen: »Zusendungen unerwünscht«. (XI/890-905/38)

Heute nehmen Sie ja aber nun Stellung!?

Warum wir trotzdem, und ausgerechnet mit Ihnen, sehr geehrter Herr, eine Ausnahme machen? Ganz einfach: weil Sie sich für eine solche halten und sich nicht vorstellen können, dass auch alle andern sich für die Ausnahme halten, die von der Abweisung nicht betroffen ist. Auf diese Art hoffen wir auch die andern zu befriedigen und doch bei keinem das bedrückende Gefühl der Bevorzugung aufkommen zu lassen. Außerdem verraten wir Ihnen, dass Sie gar nicht vorhanden sind, sondern dass wir Sie uns als Extrakt aus solchen, die gleichfalls nicht vorhanden sind, hergestellt haben, aus den bescheidenen Fragern, kühneren Anzapfern, hauptsächlich aber den Enttäuschten, die sich durch langjährigen falschen Gebrauch einer Lektüre der Fackel berechtigt glauben, den, der nicht Stellung nehmen will, zu stellen. (XI/ 890-905/39)

In Ihrem Todesjahr 1936, in dem auch die letzte Ausgabe der Fackel erschien, war Hitlers Mein Kampf[13], in dem er von der notwendigen Vernichtung der jüdischen Rasse sprach, seit zehn Jahren auf dem Markt. Ungeachtet dessen haben Sie Ihre stereotypen Äußerungen über Juden und Ihre Fehleinschätzung der Dreyfus-Affäre nicht revidiert, vielleicht nach 1933 nicht mehr revidieren können. – Revidiert haben Sie etwas anderes, wozu Sie mehr Zeit hatten, Ihre anfängliche Freundschaft mit dem einflussreichen deutschen Publizisten und Schriftsteller Maximilian Harden (1861 – 1927), der von 1892 bis 1922 in Berlin ebenfalls eine intellektuell und politisch ambitionierte Zeitschrift, Die Zukunft, herausgab. Sie ließen Harden in der frühen Fackel schreiben, aber Sie haben sich später mit ihm verkracht und ab 1911 ja sowieso nur noch allein in der Fackel geschrieben. Wann und warum kam es zum Zerwürfnis zwischen Ihnen und Harden?

Mein Ausfall gegen ihn wegen seines Artikels über die damals gerade verstorbene Schauspielerin Jenny Groß, mein öffentliches Auftreten gegen die Sexualschnüffelei, die mir hier wie auch beim Skandal um die Homosexualität Graf Eulenburgs[14] und in anderen Fällen ekelhaft geworden war, führte im Herbst 1904 endgültig zum Bruch zwischen uns. (L&L/74f.) Eines der markantesten Worte Maximilian Hardens lautet: Lieber ein Schweinehund sein als ein Dummkopf. (L&L/55) Ich habe im Herbst 1907 meine Distanzierung von Harden öffentlich als notwendig und sachlich begründet erklärt, ohne meine frühere Bewunderung zu leugnen, die ich auf eine naive Begeisterungsfähigkeit des damals Fünfundzwanzigjährigen gegenüber dem Fünfunddreißigjährigen zurückführte. (L&L/52f.)

Sie haben sich vor scharfen Auseinandersetzungen mit Kollegen nie gedrückt, die Liste Ihrer Kontrahenten ist lang, erwähnt seien Alfred Kerr, Eduard Hanslick, Hermann Bahr oder Victor Adler. Gehört auch Harden in diese Reihe, oder gab es bei ihm besondere Gründe? Er hat Sie nach der Lektüre der ersten Ausgabe der Fackel vor einem moralischen und sprachästhetischen Rigorismus gewarnt, der auf die Dauer zur Entfremdung vom Lesepublikum führt. Hätten Sie, von heute aus betrachtet, mehr auf Harden hören sollen?

Harden wäre ein schlechter Ratgeber gewesen, wäre ich ihm gefolgt. Er hat mich schmählich getäuscht. Ich musste damals, als ich mein Temperament nur in den schmalen Grenzen sozialer Ethik auf Temperatur bringen konnte und im Kampf gegen die Korruption die Lebensanschauung eines idealen Staatsbürgertums bejahte, in dem Manne, der um etliche Jahre früher in der Presse ein Übel erkannt hatte, die Ausnahmeerscheinung sehen. Die Vorgängerschaft musste auch dem imponieren, der schon damals die Intensität des Kampfes voraushatte, der der intellektuellen Korruption jene Erkenntnis voraushatte, die im Journalismus den Todfeind der Kultur sieht. Die glückliche Zufallsstellung, in die Herr Harden gegen die Öffentliche Meinung Deutschlands geraten war, musste an meine junge Phantasie das Bild eines Kämpfers heranbringen. Ja, er hat mir für das zweite Heft der Fackel umsonst einen Artikel geschrieben. Aber er hat sich in diesem offenen Brief der Wiener Journalistik in einer Art angebiedert, die schielend zwischen mir und jener zu vermitteln hoffte. Genützt hat’s ihm nichts, denn die Verbindung mit mir hat zunächst zu der von ihm tief beklagten Verstimmung der Neuen Freien Presse geführt. (L&L/62f.)

Als Sie und Harden noch kollegial verbunden waren, hat er gleich in der zweiten Ausgabe der Fackel bemerkt, er wisse nicht, ob die Zustände und Personen, die Sie in der ersten angegriffen haben, wirklich so schlimm gewesen seien, wie Ihre spitze Feder sie schilderte. Die Wiener Arbeiter-Zeitung sei, abgesehen von ihrem politischen Standpunkt, sogar die am besten redigierte Zeitung in deutscher Sprache gewesen. (I/2/3) Muss man nicht Maximilian Harden wenigstens einen Beitrag zur Entwicklung der deutschen Publizistik und damit eine Kulturleistung zugestehen?

Der Kerl war vielleicht ein Patriot, ein Kulturmensch ist er gewiss nicht gewesen. Ich habe eine Sammlung von an die siebzig großspurigen Stilblüten aus der Zukunft angelegt, mit Übersetzungen in einfaches, klares Deutsch. Einer seiner Leitartikel begann mit diesem Satz: »Vor hundertzwanzig Jahren, als der dicke, pomphaft thronende, aus unkriegerischem Festlärm gern in seichte Salonmystik schweifende Sohn August Wilhelms just seine Eitelkeit mit dem nährkraftlosen Erfolg im holländischen Wilhelminenhandel gefüttert hatte, wurde eine Druckschrift bekannt, die, unter dem Titel Considérations sur l’état présent du corps politique de l’Europe, schon fünfzig Jahre vorher entstanden war«. (L&L/57) Wer so schreibt, ist mir schon stilistisch nicht ebenbürtig.

Bei allem Verständnis für Ihre Gründe, sich von Harden zu trennen, die sind ja im Sinne moderner journalistischer Berufsethik: Respekt vor der Intimsphäre, überprüfbare Richtigkeit der Fakten, wahrhaftige Offenlegung eigener Positionen, nüchterner Stil. Aber steckte nicht doch viel moralischer Rigorismus, manchmal auch intellektuelle Überheblichkeit in Ihrer Arbeit? In Ihrer Polemik gegen Hardens Antwort auf die öffentliche Erläuterung Ihrer Distanzierung warfen Sie ihm vor, Ihnen gleichzeitig Rachsucht wegen verweigerter Wohltat und Undankbarkeit wegen erwiesener zu unterstellen, was eine logische Unmöglichkeit sei, die auf die leicht imponierbare Oberflächlichkeit des Lesepublikums spekuliere. Aber können nicht Undankbarkeit und Rachsucht in der Lebenspraxis zusammengehen, zumal, wenn es, wie bei Harden und Ihnen, am Anfang um das Erweisen und später das Verweigern von Wohltaten geht?

Meine Entwicklung, die sogar – wenn’s niemand hörte und sah – meinen Todfeinden Achtung abnötigte, wurde immer offiziell auf die Verweigerung von Wohltaten zurückgeführt. Die wurden mir angeblich zuerst von der Neuen Freien Presse verweigert und dann von Herrn Harden. Seitdem schimpfte ich. Leider musste ich darauf eingehen. Ich musste die Legende der Rachsucht zerstören, immer wieder mit den Engagementsanträgen, die mir die Neue Freie Presse gemacht, und den Gefälligkeiten, die mir Herr Harden erwiesen hat, renommieren, damit auf die dümmste Erklärung für meinen Hass endlich verzichtet werde. (L&L/61) Ausgerechnet Harden, dieser ausgepichte Meinungswechsler, der je nach Bedarf die Homosexualität entschuldigt oder bekämpft, den Meineid gerechtfertigt oder verfolgt hat, gerade der hat es gewagt, meine Entwicklung, die sich aus Gefühltem zu Gedachtem hindurchgeschmerzt hat und die in ein inneres Leben führte, von dem sich seine Zettelkastenweisheit nichts träumen ließ, als Rache für verweigerte Zuneigung auszulegen. (L&L/63)

Wie wurde Ihr Verhalten denn in der literarischen und publizistischen Öffentlichkeit beurteilt?

Schon damals wusste ich, dass die Richter der Literaturgeschichte meine Arbeit nicht kleinlich nach »persönlichen« Motiven erforschen und beurteilen würden, sondern nur danach, ob die »Persönlichkeit« weit genug war, um sich so ausgreifende Schwankungen des Urteils zu erlauben. Ich bereue keine meiner Taten; ich verlange nur, dass sie im Zusammenhang mit mir selbst beurteilt werden. (L&L/62) Als mir die Tätigkeit des Herrn Harden mehr und mehr zu missfallen anfing, sprach ich es aus. (L&L/72) Mir ging es ausschließlich um Erkenntnis, um Wahrheit, um Werte und deren Platz in mir selbst. (L&L/73, 53) Ich konnte nicht anders. Im Übrigen haben meine publizistischen Äußerungen mir auch Gegner gewonnen. «Ein Leser, der nicht sehr oft Ihr Anhänger sein kann, beglückwünscht Sie zu der Einsicht, zu dem Mute und zur Fähigkeit, im Kleinen das Große zu erkennen, die Ihr Artikel über Hervay kundgibt«, schrieb mir einmal Professor Freud, den ich damals noch nicht kannte.[15] (L&L/73f.)

Steckte in der Strenge, die Sie in sprachlichen, aber auch in moralischen Fragen an den Tag gelegt haben, nicht auch intellektuelle Arroganz? Und ist Ihre Gleichgültigkeit gegenüber dem Ziel, beim Publikum anzukommen, nicht auch ein typisches Zeichen für das Versagen der Intellektuellen des 20. Jahrhunderts gegenüber den Katastrophen des Faschismus, Nationalsozialismus und Sowjet-Bolschewismus? War das zweimalige Löschen der Fackel angesichts katastrophaler Einbrüche der Humanität nicht auch ein selbstkritisches Eingeständnis dieses Scheiterns?

Die Antwort auf Ihre Frage, warum die Fackel nicht erschien, könnte schlicht lauten: Weil die Frage gestellt wird! Weil sie vor Lesern erscheinen sollte, die nicht den Zoll weit denken können, um sich diese selber zu beantworten und nie mehr zu stellen. Diese Antwort ist als die bündige Absage an Bedürfnisse der Leserinnen und Leser zu verstehen, als der entschiedene Anspruch primären Autorrechts auf die geistige Entschließung, auf Verfügung über Existenz, Dauer und Umfang künstlerischer Leistung. Was soll denn ein so gearteter Autor machen? Die Leser entscheiden lassen, ob sie ein Werk mehr als ihn befriedigt? (XI/890-905/34f.)

Immerhin ist die Fackel ab Frühjahr 1935 dann ja doch noch ein Jahr lang erschienen, mit den gewohnten Inhalten, satirische Sprachkritik an der Theaterkritik der Tagespresse etc.

Ich kann Ihnen versichern, dass – in der geistigen Sperre, die das Ereignis wesentlich und nicht bloß funktionell bedeutet – selbst der begreifliche Wunsch nach Aufklärung des Nicht-Erscheinens keineswegs produktiv gewirkt hätte, wenn nicht die Möglichkeit, sich hinter uns zu verbergen, den Autor verlockt hätte, ein wenig aus sich herauszugehn. (XI/890-905/35f.)

Nicht nur Maximilian Harden, auch manche Leser der Fackel haben gelegentlich mehr Verständnis für die kritisierten Gegenstände bei Ihnen vermisst, besonders für das Feuilleton der Wiener Presse.

Ich muss leider bemerken, dass ich das Feuilleton nicht immer gelesen habe; auf das Gebiet, wo die Dummheit anfängt, uninteressant zu werden, muss man sich ohne zwingende Gründe nicht begeben. (I/17/30)

Selbstkritik scheint nicht Ihre Stärke gewesen zu sein; dass Sie und Die Fackel schon zu Lebzeiten als ebenso unerschütterliche wie unerbittliche moralische Instanz in sprachästhetischen, aber auch in ethisch-politischen Fragen von Ihren »Followern«, wie man heute sagt, bewundert worden sind, hat sicher dazu beigetragen, dass auch Sie selbst sich so gesehen haben. Oder irre ich mich da?

Es war ja schon vor meinem Tod gesichert, dass ich im Gegensatz zu Thomas Mann den Nobelpreis nicht erhalte. Aber das war schade. Denn dadurch bin ich, anders als Thomas Mann, um die Gelegenheit gebracht worden, eine gütige Ironie zu entwickeln, die die menschlichen Grenzen sieht! Graust den damaligen wie den heutigen Zeitführern nicht bei dem Bewusstsein, den niedrigsten Bedürfnissen der Zeit gehorsam sein zu müssen? Teilzuhaben an der Prostitution, zu der die Presse alle Menschheit zwingt? Graust Ihnen vor gar nichts? (X/827-833/94)

Verehrter Herr Kraus, lassen Sie uns bitte unser Gespräch, das teilweise den Charakter eines Streitgesprächs angenommen hat, mit zwei Ihrer Leistungen beenden, bei denen Sie meines Erachtens bis heute als publizistisches und politisches Vorbild gelten können.

Ja, gern, obgleich ich gegen Streit nichts habe.

Die publizistische Leistung steht heute unter dem Motto »Interaktivität«. Es wird jetzt manchmal so getan, als wenn »Interaktion« zwischen einem Medium und seinem Publikum erst durch die Digitalisierung möglich geworden sei, mit der »Kommentar«-Funktion von Weblogs usw. Leserbriefe hat es freilich in Printmedien seit jeher gegeben – auch bei Ihnen; der fettgedruckte redaktionelle Hinweis »Zusendungen welcher Art immer sind unerwünscht« kam erst später. Sie haben in der Fackel aber auch unter der ständigen Rubrik »Antworten des Herausgebers« öffentlich auf Zuschriften reagiert, sofern sie nicht anonym waren. Geschah das bewusst, um den Leserinnen und Lesern näher zu kommen?

Ja, durchaus. Ich gebe Ihnen ein Beispiel. Die Leserin Marianne W. hatte mir eine Beschwerde geschickt, die eigentlich den Vertrieb der Fackel anging, der ich aber doch auch ein redaktionelles Interesse abgewinnen konnte. »Für den Fall«, schrieb sie, »als Ihnen dies nicht schon bekannt sein sollte, teile ich Ihnen mit, dass die Fackel – im Gegensatz zu früher – auf dem Tische der Zeitungsverschleißerin des Südbahnhofes nicht wie alle anderen Zeitungen offen aufliegt, sondern erst auf besonderes Verlangen unter dem Tische hervorgeholt wird. Diese Handlungsweise entspricht gewiss nicht dem Interesse der Verkäuferin, und doch verbirgt sie, wie ich beobachtet habe, auch neue Nummern den Blicken der Zeitungskäufer. Sollte da die Direktion der Südbahn ein Machtwort gesprochen haben?« Ich antwortete der Leserin, dass ich der Südbahnverwaltung den harmlosen Scherz einer Bahnhofszensur gönnte, die, wenn in Deutschland missliebige Blätter überhaupt nicht auf den Bahnsteigen verkauft werden durften, sich mit dem Verstecken einer Zeitschrift begnügte. Die Südbahnverwaltung wolle der armen Verkäuferin das Geschäft wohl nicht ganz verderben; aber verübeln konnte ich es ihr nicht, dass sie in ihrem Hause ein Blatt, das sie so oft verächtlich gemacht hatte, nicht aufliegen sehen wollte. Ich hatte die Südbahn, bei der es mangels kostspieligen Personals und ausreichender Sicherheitsvorkehrungen tödliche Unfälle gegeben hatte, im ersten Jahr der Fackel scharf kritisiert. Aus dieser Perspektive war es, erlauben Sie mir die Ironie, ja ganz vernünftig, die Südbahnreisenden der Zeitungslektüre nach und nach zu entwöhnen und ihre Gedanken nur auf die Gefahren der bevorstehenden Reise zu konzentrieren. Wer mit der Südbahn fuhr, hatte wahrhaftig an ernstere Dinge zu denken, als an die Lektüre einer Zeitschrift – und möge es selbst eine solche sein, die ihr oder ihm öfter den Ernst der Situation eindringlich vor Augen geführt hatte. (I/45/32)

Sie haben nicht nur in den ersten Jahren viele Leserbriefe gedruckt und kommentiert, sondern standen auch später durch Ihre satirische Glossierung aufgespießten Fremdmaterials quasi strukturell im Dialog mit der Öffentlichkeit. Ihre dialogische Arbeitsweise kommt übrigens auch dem Gesprächscharakter dieses posthumen Interviews sehr entgegen. Sie lässt sich als früh in einem Printmedium realisierte Interaktivität deuten, von der manche meinen, sie sei erst durch die Digitalisierung möglich geworden. Kommunikation in digitalen Netzen wird allerdings mit Hilfe verborgener Algorithmen von mächtigen Interessen gelenkt und instrumentalisiert.

Was Sie da sagen, war auch eins der Motive, warum ich wie schon gesagt in meinen Glossen schließlich kaum noch eigene Gedanken und Urteile geäußert habe, sondern die zitierten journalistischen Machwerke nur gegen sich selbst habe sprechen lassen.

Herr Kraus, die andere vorbildliche Leistung ist Ihr Pazifismus, in dem Sie Zeit Ihres Lebens konsequent geblieben sind. Sie waren bereits acht Jahre tot, als ich am Ende des Zweiten Weltkriegs zur Welt kam. Vielleicht sind Sie froh, dessen Schrecken nicht mehr erlebt zu haben. Aber es ist ja durchaus ein Wagnis, sich den Fragen von jemandem zu stellen, der wegen seiner späteren Geburt so viel mehr weiß als man selbst.

So groß ist Ihr Wissensvorsprung nicht. Den fürchterlichen Beginn dieser Grausamkeiten, den Weltkrieg zwischen 1914 und 1918, habe ich erlebt und in den Sommern 1915 bis 1917 in meiner Tragödie Die letzten Tage der Menschheit als restloses Schuldbekenntnis verarbeitet, der Menschheit anzugehören, die geduldet hat, dass die Dinge geschehen, die dort aufgeschrieben sind. Es ist nur der Selbstvorwurf eines, der nicht wahnsinnig wurde bei dem Gedanken, mit heilem Hirn die Zeugenschaft dieser Zeitdinge überlebt zu haben. (VIII/508-513/34f.)

Das Stück ist Theater, fiktionale Literatur, später haben Sie es auch gekürzt und bearbeitet, damit es aufgeführt werden kann. Als Herausgeber und Hauptautor der Fackel waren Sie jedoch die längste Zeit Ihres Berufslebens selbst eine Art von Journalist, jedenfalls ein Autor, der sich mit realen, nicht-fiktionalen Begebenheiten auseinandersetzte.

Die unwahrscheinlichsten Gespräche, die in den Letzten Tagen der Menschheit geführt werden, sind gesprochen worden; die grellsten Erfindungen sind Zitate. Larven und Lemuren, die hier auftreten, tragen lebende Namen, weil dies so sein muss und weil in dieser vom Zufall bedingten Zeitlichkeit nichts zufällig ist. (VIII/508-513/35)

Warum hat die Menschheit trotz Ihres Lehrstücks und zahlreicher pazifistischer Bestseller wie Erich Maria Remarques Im Westen nichts Neues so wenig aus dem Ersten Weltkrieg gelernt, dass dann auch noch der Zweite möglich war?

Es war nicht zu erwarten, dass eine Gegenwart, in der das sein konnte, das Wort gewordene Grauen für etwas anderes hielt als einen Spaß, zumal es ihr aus der anheimelnden Niederung der grausigsten Dialekte wiedertönte. Es war auch zu befürchten, dass eine Zukunft, die den Lenden einer so wüsten Gegenwart entsprossen ist, trotz größerer Distanz der größeren Kraft des Begreifens entbehren würde. Dennoch bin ich überzeugt, dass solche Literatur irgendwo willkommen und irgendeinmal von Nutzen sein wird. (VIII/508-513/35)

Verehrter Herr Kraus, haben Sie herzlichen Dank für dieses ausführliche Gespräch nach so vielen Jahren.

Über den Autor

Horst Pöttker, Jahrgang 1944, ist pensionierter Professor für Theorie und Praxis des Journalismus an der Technischen Universität Dortmund sowie Lehrbeauftragter an der Universität Hamburg und der Technischen Universität Hamburg. Von 2000 bis 2019 hat er kontinuierlich als Gast an russischen Universitäten gelehrt und gemeinsam mit russischen Kolleginnen und Kollegen mehrere Sammelbände in deutscher und russischer Sprache herausgegeben. Kontakt: horst.poettker@tu-dortmund.de

Fussnoten

1 Karl Kraus’ Gesprächsanteile geben wörtlich oder sinngemäß Passagen aus seinem umfangreichen schriftstellerischen und publizistischen Lebenswerk wieder. Die entsprechenden Stellen aus der Fackel sind auffindbar im zwölfbändigen vollständigen Faksimile-Nachdruck: Kraus, Karl (Hrsg.) (1976-1986): Die Fackel. München: Kösel (Zweitausendeins); sie werden hier mit Band, Ausgabe-Nummer der Fackel und Seitenzahl angegeben. (I/1/8) bedeutet z. B. Band I der Faksimile-Ausgabe, Ausgabe 1 der Fackel, Seite 8. Bezugspassagen aus der von Heinrich Fischer erstmals 1929 herausgegebenen Aufsatzsammlung: Kraus, Karl (1958): Literatur und Lüge. München: Deutscher Taschenbuch Verlag, werden angegeben als (L&L/Seitenzahl).

2 Kraus, Karl (1897): Die demolirte Litteratur. Wien: S. Bauer.

3 Beuthner, Michael; Weichert, Stephan (Hrsg.) (2005): Die Selbstbeobachtungsfalle. Grenzen und Grenzgänge des Medienjournalismus. Wiesbaden: Springer VS.

4 Kraus, Karl (1919): Die letzten Tage der Menschheit. Tragödie in fünf Akten mit Vorspiel und Epilog. Wien: Verlag ›Die Fackel‹.

5 Kraus, Karl (1952): Die Dritte Walpurgisnacht. München: Kösel.

6 Pötschke, Joachim (1962): Die satirischen Glossen von Karl Kraus (1914-1918). Diss. Phil. Fak. Leipzig; ders. (2010): Die Geburt der Glosse aus dem Zeitungszitat. Der Wiener Publizist Karl Kraus und seine Zeitschrift »Die Fackel«. In: Eberwein, Tobias; Müller, Daniel (Hrsg.) (2010): Journalismus und Öffentlichkeit. Eine Profession und ihr gesellschaftlicher Auftrag. Wiesbaden: VS, S. 411-425.

7 Vgl. Pöttker, Horst (2012): Jude und Deutscher. Heinrich Heine als Pionier des modernen Journalismus. In: Susanne Marten-Finnis; Michael Nagel (Hrsg.): Die PRESSA. Internationale Presseausstellung Köln 1928 und der jüdische Beitrag zum modernen Journalismus. The PRESSA. International Press Exhibition Cologne 1928 and the Jewish Contribution to Modern Journalism. Bd./Vol. 2. Bremen: edition lumière, S. 347-373.

8 Vgl. Franzen, Jonathan (2016): Das Kraus-Projekt. Aufsätze von Karl Kraus. Unter Mitarb. v. Paul Reitter u. Daniel Kehlmann. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt, S. 94, S. 115.

9 Vgl. Franzen 2016 a.a.O., S. 97.

10 Werfel, Franz (1933): Die vierzig Tage des Musa Dagh. Roman. Wien: Paul Zsolnay.

11 Jaurès, Jean (1898): Les preuves: Affaire Dreyfus. Paris: La Petite Republique.

12 Vgl. Blum, Léon (1935): Souvenirs de l’affaire. Paris: Gallimard; deutsch: ders. (2005): Beschwörung der Schatten. Die Affäre Dreyfus. Berlin: Berenberg.

13 Hitler, Adolf (1925/1927): Mein Kampf. Erster Band: Eine Abrechnung. Zweiter Band: Die nationalsozialistische Bewegung. München: Eher. Vgl. dazu Pöttker, Horst (2013): Mein Kampf (Adolf Hitler, 1925/26). In: Benz, Wolfgang (Hrsg.): Handbuch des Antisemitismus. Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart. Bd. 6, Publikationen. Berlin, Boston: De Gruyter Saur, S. 449-453.

14 Die Eulenburg-Affäre war eine öffentliche Auseinandersetzung um eine Reihe von Gerichtsverfahren wegen homosexuellen Verhaltens und die gegen diese Vorwürfe geführten Verleumdungsklagen in den Jahren 1907 bis 1909. Betroffen waren Prominente aus der politischen Umgebung von Kaiser Wilhelm II. Die Affäre wurde zu einem der größten Skandale des deutschen Kaiserreiches und erregte weltweites Aufsehen. Obwohl sie sich nur um den rechtlichen Streit zwischen Philipp Fürst zu Eulenburg-Hertefeld und Maximilian Harden drehte, wurde sie von Letzterem bewusst inszeniert, um den Kaiser außenpolitisch unter Druck zu setzen.

15 Sigmund Freud bezog sich dabei auf einen weltweit beachteten Skandalfall, bei dem der Bezirkshauptmann Franz Hervay von Kirchberg Opfer einer Heiratsschwindlerin und Betrügerin Tamara von Lützow, der attraktiven »schwarzen Baronin«, geworden war, als diese 1903 zur Sommerfrische nach Mürzzuschlag kam. Freud werden in Kraus’ Polemik dazu Sätze wie dieser gefreut haben: »Fort mit der sexuellen Heuchelei! Nur wenn wir aufhören, unser Menschlichstes als eine geheimnisvolle Welt zu scheuen, können wir uns vor ihren Gefahren schützen.« (Kraus, Karl [1966]: Der Fall Hervay. In: ders.: Sittlichkeit und Kriminalität. Frankfurt/M., Hamburg: Fischer Bücherei, S. 75-83, S. 81).


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Zitationsvorschlag

Horst Pöttker: »… einen Kampfruf gewagt«. Karl Kraus (1874 – 1936) im Gespräch. In: Journalistik. Zeitschrift für Journalismusforschung, 2, 2024, 7. Jg., S. 177-199. DOI: 10.1453/2569-152X-22024-14214-de

ISSN

2569-152X

DOI

https://doi.org/10.1453/2569-152X-22024-14214-de

Erste Online-Veröffentlichung

August 2024