Von Walter Hömberg
Abstract: Anfang April 1899 erschien in Wien eine neue Zeitschrift. Das feuerrote Titelblatt zeigt vor der Silhouette der Stadt eine riesengroße Fackel. Im Einleitungsbeitrag unterstreicht der Herausgeber die kämpferische Ansicht: »Das politische Programm dieser Zeitung scheint somit dürftig; kein tönendes ›Was wir bringen‹, aber ein ehrliches ›Was wir umbringen‹ hat sie sich als Leitwort gewählt.« Als Herausgeber der Fackel ist Karl Kraus Kennern der Pressegeschichte noch heute ein Begriff. Die einen verehren ihn als größten Satiriker des 20. Jahrhunderts, als brillanten Zeitdiagnostiker, sensiblen Lyriker und hellsichtigen Theaterautor. Für andere ist er ein gnadenloser Polemiker, ein unbarmherziger Spötter, ein heilloser Egozentriker, Besserwisser und Rechthaber, ein Querulant und Nestbeschmutzer. Der Wiener Literat Hans Weigel urteilt: »Seine Kritik war sakrosankt – Kritik an ihm war Majestätsbeleidigung.«
Keywords: Zeitdiagnose, Pressekritik, Individualzeitschrift, Antimilitarismus
Das Leben von Karl Kraus im Telegrammstil: Geboren am 28. April 1874 in Jitschin, einer Kleinstadt nordöstlich von Prag, als neuntes von zehn Kindern des Kaufmanns Jacob Kraus und seiner Ehefrau Ernestine. Drei Jahre später Umzug der Familie nach Wien. Dort Besuch des Franz-Josephs-Gymnasiums. Studium an der Universität Wien: zunächst Rechtswissenschaft (abgeschlossen mit dem Ersten juristischen Staatsexamen), später noch Romanische Philologie und Germanistik (ohne Abschluss). Schon als 18-Jähriger schreibt er Kulturberichte und Rezensionen für österreichische und deutsche Blätter. Im April 1899 Gründung der Zeitschrift Die Fackel, die er bis kurz vor seinem Tod am 12. Juni 1936 redaktionell verantwortet.
Unikat in der Pressegeschichte
Die Fackel ist ein Unikat in der Pressegeschichte. Sie erschien zunächst dreimal im Monat, später dann unregelmäßig und mit wechselndem Umfang über einen Zeitraum von 37 Jahren. Am Beginn wurden nicht nur Beiträge von Kraus selbst gedruckt, sondern auch von anderen Autoren wie Peter Altenberg, Egon Friedell, Adolf Loos und Frank Wedekind. Ab 1912 wollte er dann keine anderen Autoren mehr neben sich haben. Insgesamt umfasst die Fackel etwa 20.000 Seiten. Sie verkörpert wie kaum ein anderes Blatt den Typ der Individualzeitschrift und wurde konsequenterweise nach dem Tod des Gründers nicht fortgeführt.
Kraus, der seine Artikel in winziger Schrift mit Tinte und einem altmodischen Federhalter verfasste, war eine Kämpfernatur. Seine Hauptfeinde sah er in der zeitgenössischen Presse, insbesondere im Leibblatt des liberalen Bürgertums in Wien, der Neuen Freien Presse. Schon in der ersten Ausgabe der Fackel wird »eine Trockenlegung des weiten Phrasensumpfes« als Ziel genannt.
Der Kampf gegen die Presse wurde an zwei Fronten geführt. Zum einen kritisierte Kraus die Abhängigkeit vom Anzeigengeschäft, die zu einem Gefälligkeitsjournalismus und auch zur Korruption führen kann. Zum anderen kämpfte der sprachsensible Publizist gegen den Phrasenmüll in der Berichterstattung: »Die Welt ist taub vom Tonfall. Ich habe die Überzeugung, daß die Ereignisse sich gar nicht mehr ereignen, sondern daß die Klischees selbsttätig fortarbeiten.« Und weiter: »Die Sache ist von der Sprache angefault. Die Zeit stinkt schon von der Phrase.« Der Feuilletonismus, der sich in der zeitgenössischen Presse breit gemacht hatte, war ihm zuwider. Sein später häufig zitierter Aphorismus bringt es auf den Punkt: »Ein Feuilleton schreiben heißt auf einer Glatze Locken drehen.«
Kämpferische Publizistik
Auf einen Gegner hatte Kraus es besonders abgesehen: Imre Békessy. 1887 in Budapest geboren, war dieser Anfang der 1920er-Jahre nach Wien gekommen und hatte dort einige Zeitungen gegründet. Am erfolgreichsten war ein Tagblatt mit dem Titel Die Stunde. Es lebte von Klatsch und Tratsch und von Skandalen. Der Boulevardjournalist Békessy verdiente sein Geld allerdings nicht nur durch die Veröffentlichungen, sondern auch durch das Gegenteil: Er selbst und seine Leute setzten Prominente mit Skandalgeschichten unter Druck und versprachen, diese gegen ein saftiges Schweigegeld nicht zu publizieren. Dieser skrupellose Erpresserjournalismus war für Kraus natürlich ein ideales Ziel. Es gelang ihm schließlich, den Urheber zum Aufgeben zu bringen: Békessy flüchtete zunächst nach Frankreich und kehrte später nach Ungarn zurück.
Unter den vielen Zielscheiben der Kraus’schen Polemik war auch Alice Schalek, die in Zeitungsartikeln und Buchveröffentlichungen über den Kampf der österreichischen Truppen im Ersten Weltkrieg berichtete. Als erste damals akkreditierte Kriegsreporterin vermittelte sie in ihren Frontschilderungen ein harmonisiertes Bild vom Alltag der Soldaten, in dem vom »Reiz der Gefahr« die Rede ist. Der Antimilitarist Kraus reagierte so heftig, dass man ihm hier auch Frauenfeindlichkeit vorgeworfen hat.
Vor vier Jahren hat Jens Malte Fischer, emeritierter Professor für Theaterwissenschaft an der Universität München, eine – im doppelten Wortsinn – erschöpfende Biografie vorgelegt. Auf Karl Kraus ist er gleich zu Beginn seines Studiums gestoßen. Dieser Mann hat ihn dann nicht losgelassen, und ihm und seinem Werk hat er auch seine Dissertation gewidmet. In seinem neuen ziegelsteindicken Werk hat Fischer fast jede Person, mit der Kraus Kontakt hatte, ausgiebig vorgestellt.
Es fehlt allerdings eine Kontaktperson von Bedeutung: Arthur Schütz, der Erfinder der »Grubenhunde«, der seit November 1911 immer wieder Falschmeldungen lancierte, die jedem Redakteur mit gesundem Menschenverstand hätten auffallen müssen. Kraus war hier sein Vorläufer: Als »Zivilingenieur J. Berdach« schmuggelte er bereits am 22. Februar 1908 einen fingierten Leserbrief in die Neue Freie Presse, der die mangelnde Kompetenz der Redaktion aufdecken sollte. Schütz wandelte auf seinen Spuren und verfeinerte die Pressekritik durch viele weitere erfolgreiche Experimente. Die Fackel berichtete dann sowohl über den Ur-Grubenhund als auch über seine jüngere Schwester, die Laufkatze. Und eine Sammlung der »Grubenhunde« von Arthur Schütz erschien 1931 im Verlag Jahoda & Siegel, dem Stammverlag der Fackel.
Briefe, Gedichte, Dramen
Karl Kraus war nicht nur ein unermüdlicher Publizist, sondern auch ein exzessiver Briefeschreiber. Allein an die von ihm angebetete Sidonie Nádherný von Borutin hat er mehr als tausend Briefe, Karten und Telegramme geschickt. Ihr hat er auch viele Gedichte gewidmet. Der Lyriker Kraus bleibt im Übrigen noch zu entdecken. Immerhin hat er zwischen 1916 und 1930 neun Gedichtbände veröffentlicht, wie er überhaupt viele Bücher aus Fackel-Texten zusammenstellte. Die meisten seiner Gedichte sind in traditionellen Formen verfasst und favorisieren den Endreim. In einer Zeit, die vom Expressionismus und Dadaismus geprägt war, wirken sie arg konventionell.
Last but not least: Karl Kraus war ein unermüdlicher Vorleser; insgesamt 700 Mal hat er vor großem Publikum sowohl aus eigenen Texten als auch aus Werken von Shakespeare, Offenbach, Nestroy und anderen Dramatikern vorgetragen. Sein eigenes Antikriegs-Drama Die letzten Tage der Menschheit galt wegen seines monströsen Umfangs als unspielbar, erlebte dann aber doch in gekürzter Form zahlreiche Aufführungen. Wer 2014 die Aufführung der Salzburger Festspiele gesehen hat, die vom Wiener Burgtheater später übernommen wurde, konnte sich von der fortdauernden Aktualität des Stückes überzeugen.
Karl Kraus war, so der Autor und Filmemacher Roger Willemsen, »der letzte Radikale des Humanismus, den die Tagespublizistik hervorgebracht und zugelassen hat. In seinem Scheitern scheiterte mehr als er selbst.«
Erweiterte Fassung eines Beitrags, der zuerst in der Zeitschrift Universitas erschienen ist (79. Jg. 2024, Nr. 934).
Über den Autor
Prof. Dr. Walter Hömberg war Lehrstuhlinhaber für Journalistik und Kommunikationswissenschaft an den Universitäten Bamberg und Eichstätt und hat lange Zeit als Gastprofessor an der Universität Wien gelehrt. Er hat zahlreiche Studien zur Geschichte und Gegenwart des Journalismus veröffentlicht und ist Herausgeber des Almanachs Marginalistik, von dem 2023 der zweite Band erschienen ist.
Literatur
Fischer, Jens Malte (2020): Karl Kraus. Der Widersprecher. Biografie. Wien: Paul Zsolnay Verlag.
Klaus, Elisabeth (2008): Rhetoriken über Krieg: Karl Kraus gegen Alice Schalek. In: Feministische Studien, 26(1), S. 65-82.
Hans Weigel über Karl Kraus. In: Schultz, Hans Jürgen (Hrsg.) (1980): Journalisten über Journalisten. München: Kindler Verlag, S. 172-182.
Schütz, Arthur (1996): Der Grubenhund. Experimente mit der Wahrheit. Herausgegeben und eingeleitet von Walter Hömberg. München: Verlag Reinhard Fischer.
Geringer, Claudia; Strouhal, Ernst (2023): Die Phantome des Ingenieur Berdach. Medienkritik und Satire. Wien, Hamburg: Edition Konturen.
Willemsen, Roger (2004): Der einzig Wahre. Karl Kraus 1874-1936. In: Jakobs, Hans-Jürgen; Langenbucher, Wolfgang R. (Hrsg.): Das Gewissen ihrer Zeit. Fünfzig Vorbilder des Journalismus. Wien: Picus Verlag, S. 121-126.
Über diesen Artikel
Copyright
Dieser Artikel wird unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz (http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/deed.de) veröffentlicht, welche die Nutzung, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verbreitung und Wiedergabe in jeglichem Medium und Format erlaubt, sofern Sie den/die ursprünglichen Autor(en) und die Quelle ordnungsgemäß nennen, einen Link zur Creative Commons Lizenz beifügen und angeben, ob Änderungen vorgenommen wurden.
Zitationsvorschlag
Walter Hömberg: Streitbar und umstritten. Erinnerung an Karl Kraus. In: Journalistik. Zeitschrift für Journalismusforschung, 2, 2024, 7. Jg., S. 200-203. DOI: 10.1453/2569-152X-22024-14216-de
ISSN
2569-152X
DOI
https://doi.org/10.1453/2569-152X-22024-14216-de
Erste Online-Veröffentlichung
August 2024
Über diesen Artikel
Copyright
Dieser Artikel wird unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz (http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/deed.de) veröffentlicht, welche die Nutzung, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verbreitung und Wiedergabe in jeglichem Medium und Format erlaubt, sofern Sie den/die ursprünglichen Autor(en) und die Quelle ordnungsgemäß nennen, einen Link zur Creative Commons Lizenz beifügen und angeben, ob Änderungen vorgenommen wurden.
Zitationsvorschlag
Klaus Meier: Was ist ein Plagiat im Journalismus?. Maßstäbe, nach denen sich Redaktionen richten können. In: Journalistik. Zeitschrift für Journalismusforschung, 2, 2024, 7. Jg., S. 204-210. DOI: 10.1453/2569-152X-22024-14218-de
ISSN
2569-152X
DOI
https://doi.org/10.1453/2569-152X-22024-14218-de
Erste Online-Veröffentlichung
August 2024