Die Top 10 des Buchjournalismus Hinweise auf lesenswerte Bücher von Journalist:innen

Von Fritz Hausjell und Wolfgang R. Langenbucher

Die Idee, die besten Bücher von Journalist:innen auszuwählen und vorzustellen, ist ein Projekt des Instituts für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft der Universität Wien, mitbegründet von Hannes Haas (1957-2014), zusammengestellt von Wolfgang R. Langenbucher und Fritz Hausjell. Es startete mit der ersten Ausgabe im Jahre 2002 in der von Michael Haller begründeten Vierteljahreszeitschrift Message. Nach deren Einstellung wurden die Auswahlen ab 2015 im Magazin Der österreichische Journalist dokumentiert. 2020 und 2021 kam es in Folge der Covid-Pandemie zu einer Unterbrechung. Mit der Journalistik ist 2022 ein neuer Publikationsort gefunden worden.

Platz 1 bis 3

1. Reinhard Bingener, Markus Wehner (2023): Die Moskau-Connection. Das Schröder-Netzwerk und Deutschlands Weg in die Abhängigkeit. München: Verlag C.H.Beck, 300 Seiten, 18,- Euro.

Die beiden zur Redaktion der Frankfurter Allgmeinen Zeitung gehörenden Autoren dieses hoch brisanten Werkes treffen gleich im Vorwort eine verblüffende Feststellung: »In den deutschen Medien herrschte in den vergangenen 20 Jahren kein Mangel an fundierter Berichterstattung zur deutschen Russland- und Energiepolitik. Beinahe sämtliche Probleme wurden klar und frühzeitig benannt. Die Aussage, Putin habe ›alle‹ getäuscht, ist nicht wahr« (S. 9). Koautor Wehner ist für diesen Sachverhalt selbst ein verlässlicher Zeuge, war er doch für sein Blatt viele Jahre als Korrespondent in Moskau und schrieb nach seiner Rückkehr ein hellsichtiges Buch (Wehner 2016). Es erschien bei Knaur in der Reihe »Klartext«. Aus Sicht der Jahre 2022/23 kann man es nur als bittere Ironie bezeichnen, dass die notorische Skepsis der wirtschaftlichen und politischen Führungskräfte gegenüber der ›Journaille‹ diese offensichtlich daran hinderte, solche journalistischen Evidenzen ernst zu nehmen.

Aber warum diese Ignoranz über mehr als zwei Jahrzehnte nicht überwunden wurde, trotz der unübersehbaren Verbrechen, die vom Kreml ihren Ausgang nahmen, davon handelt dieses Buch. Es deckt ein korruptes, verschwörerisches Netzwerk auf, das der täglichen Nachrichtenwelt weitgehend unbekannt blieb. Erst eine über Jahre mit äußerster Geduld und langem Atem betriebene Recherche, unterstützt vom professionellen Team eines angesehenen Mediums wie der FAZ, ermöglicht einen derartigen Tiefenjournalismus. Dabei geht es vor allem um mündliche Quellen – gerade nicht die offiziellen. Die Institutionen haben sich in den vergangenen Jahrzehnten Einrichtungen zur Kommunikation in der Größenordnung von politischen Redaktionen geschaffen, deren Zweck die Verklärung, nicht die Aufklärung ist. So sind in der Regel hunderte von Gesprächen notwendig, um die diversen Hinterbühnen auszuleuchten.

Eine Erkenntnis ist besonders erschreckend: Man ignorierte, dass Putin aus dem KGB kommt und dass dessen »geheimdienstliche Methoden, Lügen, Täuschen, Manipulieren«, sowie »Belohnung, Schmeichelei, Erpressung, Einschüchterung, Bestrafung und Gewalt bis hin zum Mord« nun zu Instrumenten der Politik wurden (S. 40). Entgegen aller journalistischer Mühen bleibt folgendes den beiden weiter ein Rätsel: Wie kann ein ehemaliger Bundeskanzler bis heute so handeln wie Schröder es tut? Ist es Trotz, Gier, Starrsinn? Jedenfalls ein fortwirkendes, verhängnisvolles und teures Handeln eines Netzwerkes, das hier gnadenlos transparent gemacht wird.

2. Michael Thumann (2023): Revanche. Wie Putin das bedrohlichste Regime der Welt geschaffen hat. München: Verlag C.H.Beck, 288 Seiten, 25,- Euro.

Moskau ist traditionell – abhängig von den sich wandelnden politischen Gegebenheiten – gut besetzt mit Korrespondent:innen bundesdeutscher Medien. Viele dieser Journalist:innen sind durch ihre schwierige, aber auf lebhaftes Interesse stoßende Arbeit prominent geworden, haben oft lange dort gearbeitet und sind nach Unterbrechungen wiedergekehrt. Und mit ihren Büchern aus der Zeit in dieser Stadt oder nach ihrer endgültigen Rückkehr in die Heimatredaktion lassen sich ganze Regale füllen, beginnend mit Werken wie Der Sowjetmensch (1958) des prominenten Publizisten Klaus Mehnert (1906-1984). Einer der verlässlichen Beiträger zu dieser imaginären journalistischen Bibliothek ist Michael Thumann, der seit 1990 für Die Zeit als außenpolitischer Korrespondent immer wieder auch aus Moskau und Russland berichtet.

Sein neuestes Buch kletterte rasch auf die Bestsellerlisten, da spätestens Putins Angriffskrieg gegen die Ukraine das Interesse an diesem aggressiven Regime intensiv wachsen ließ. Wie dringend wir nach den jahrzehntelangen Selbsttäuschungen des Westens dieses Wissen brauchen, macht Thumann drastisch klar: »Der hybride große Krieg richtet sich in erster Linie gegen uns. Putin will die liberale Demokratie beerdigen. Er greift den Lebensstil Europas an, seine Sicherheit und seine wirtschaftlichen Lebensgrundlagen.« (S. 10) Genau zeichnet er nach, was außerhalb Russlands ignorant und ahnungslos verdrängt wurde: Putin wurde im Laufe der Jahrzehnte mittels seines manipulativen Umgangs mit der im Prinzip demokratischen Verfassung des postsowjetischen Staates zum »Musterbeispiel eines autoritären Herrschers« (S. 37). Der rücksichtslosen Ausdehnung seiner Macht opferte er auch die Entwicklung der Wirtschaft. Das hat konsequenzenreiche Vorausetzungen: »Das Leben des Einzelnen ist nichts mehr wert.« (S. 139) Dieses System herrscht nun seit über zwei Jahrzehnten und hat einen »beängstigenden pathologischen Gemütszustand« zur Folge (S. 171). Die Belege dafür machen fassungslos, vor allem angesichts der zur absurden Propaganda verkommenen Fernsehsendungen. Zur alltäglichen Drohung gehört die Vorhersage der »nuklearen Pulverisierung von London, Washington oder Berlin« (S. 267). Thumann registriert nüchtern: wie sich der 70-jährige Herrscher in seinem atomsicheren Bunker entscheiden wird – wir wissen es nicht. Dieses Buch jedenfalls klärt uns auf mit allen Mitteln des journalistischen Handwerks, lebt von zahllosen Quellen und dem illusionslosen Blick eines scharfsinnigen Beobachters. Wer es liest, wird gefeit sein gegen die »Künste« eines Geheimdienstlers und seiner zahlreichen Gehilfen.

3. Anna Sauerbrey (2022): Machtwechsel. Wie eine neue Politikergeneration das Land verändert. Berlin: Rowohlt Berlin Verlag, 320 Seiten, 22,- Euro.

Mit dem Begriff »Generation« greift die zum Politikressort der Wochenzeitung Die Zeit gehörende Journalistin auf eine Theorie zurück, die von einem Klassiker der Soziologie entwickelt wurde: dem aus Österreich stammenden, 1933 nach England emigrierten Karl Mannheim (1893-1947). Allein dass und wie sie die dreizehn Stücke (plus Einleitung und Schluss) ihres – wie sie ausdrücklich anmerkt – ersten Buches auf eine solche anspruchsvolle intellektuelle Grundlage stellt, macht seinen journalistischen Rang aus. Hinzu kommt, dass sie selbst der Generation angehört, die sie porträtiert und analysiert. Diese Porträts sind eine ebenso erkenntnis- wie vergnügungsreiche Lektüre. Derartige journalistische Produkte findet man freilich auch in der täglichen Medienproduktion. Was den analytischen und reportagegesättigten originellen Zugriff auf ihre Gegenstände ausmacht, signalisieren die zehn Seiten mit Anmerkungen. Sie zeigen zum einen, wie gründlich und belesen Anna Sauerbrey recherchiert und wie einfallsreich und wissenschaftlich-scharfsinnig sie analysiert. Als akribische und genaue Beobachterin skizziert sie die Psychologie des alltäglichen politischen Handelns, die sich aus der Aneinanderreihung der aktuellen Nachrichten nicht erkennen lässt, hier aber den Blick auf die Hinterbühne der Politik öffnet. Eine der folgenreichsten Einsichten: Diese hier auf die journalistische Couch gelegte Generation von Politikerinnen und Politikern lebt aus einem Zeitgefühl, das nicht »erfahrene Geschichte, sondern vermittelte Geschichte« ist (S. 47). Der Unterschied, den das macht, ist grundlegend. Verstärkt wird die Intensität dieses Wandels durch die (un-)sozialen Medien, die im Bundestagswahlkampf 2021 eine höchst problematische »Hyperpersonalisierung« (S. 213) betrieben haben. Jedenfalls: Wer verstehen will, was die »Schlüsselfiguren der Ampelregierung« (S. 238) als Generation verbindet und was sie von der Vorgängergeneration fundamental unterscheidet, der vertraue dieser brillanten Journalistin; sie selbst spricht von der Entstehung des Buches als einem »Abenteuer« (S. 320). Es dürfte nach diesem Debüt nicht das letzte geblieben sein.

Platz 4 bis 10

4. Lutz Herden, Wolfgang Herles, Luc Jochimsen, Michael Schmidt (2023): Der aufhaltsame Abstieg des öffentlich-rechtlichen Fernsehens. Berichte von Beteiligten. Mit einem Vorwort von Daniela Dahn. Berlin: edition ost im Verlag Neues Berlin, 281 Seiten, 20,- Euro.

Die drei Autoren und Luc Jochimsen kommen aus verschiedenen öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten. Sie eint der Ärger und die Enttäuschung über den Zustand der Häuser und deren heutigen Programme, für die sie einmal zuständig waren. Hinzu kam in den letzten Monaten die Chronik der Skandale, mit denen die ARD und ihre Landesrundfunkanstalten Schlagzeilen machten und weiterhin machen. Die vier Streitschriften enthalten eine eindrucksvolle Fülle von Argumenten. Dabei geht es zum einen um die Rundfunkpolitik der Bundesländer und zum anderen um die Programmplanung, die von den Landesrundfunkanstalten und deren gemeinsamen Einrichtungen verantwortet wird. Dem Thema Programm gilt der besondere Zorn der Vier – und die fast verzweifelte Hoffnung, dass diese traditionsreiche und kommunikationspolitisch so anspruchsvolle Institution doch (noch) reformfähig ist.

5. Richard C. Schneider (2023): Die Sache mit Israel. Fünf Fragen zu einem komplizierten Land. München: Deutsche Verlags-Anstalt, 192 Seiten, 22,-Euro.

Auf seiner Website stellt sich der ehemalige Israel-Korrespondent der ARD als Journalist, Autor und Filmemacher vor. Ausweislich seiner Bibliographie ist er jedenfalls seit den 1990er-Jahren neben der aktuellen Berichterstattung ein verlässlicher Produzent buchjournalistischer Werke. Schneider ist ein ebenso scharfsichtiger wie kritischer Beobachter. »Israel« gehört in Deutschland und Österreich zu den notorisch strittigsten Themen, aufgeladen mit Klischees und Stereotypen unterschiedlichster Herkunft und Brisanz. Fünf davon werden materialreich und differenziert aufgegriffen. Wer begreifen will, wie es um das Verhältnis zwischen Palästina und Israel steht, sollte sich hier informieren, bevor er/sie sich an der nächsten Diskussion beteiligt. Das gilt noch allgemeiner: Die jetzigen Auseinandersetzungen in Israel um die Justizreform haben historische Hintergründe, die klar machen, dass es um die demokratische Zukunft des Landes geht.

6. Simone Schlindwein (2023): Der grüne Krieg. Wie in Afrika die Natur auf Kosten der Menschen geschützt wird – und was der Westen damit zu tun hat. Berlin: Ch. Links Verlag (Marke der Aufbau Verlage), 256 Seiten, 20,- Euro.

Die 1980 geborene Journalistin Simone Schlindwein lebt seit 2008 in Uganda und gehört zur Redaktion der tageszeitung (taz). Wer ihre Arbeit verfolgt, wird sie auch deshalb bewundern und schätzen, weil sie zu den wenigen gehört, die wie etwa Bartholomäus Grill mit Ach, Afrika (2003) als Korrespondent:innen aus einem riesigen Kontinent berichten, der journalistisch notorisch unterbelichtet bleibt. Simone Schlindwein geht es um ein spezielles, in der aktuellen Berichterstattung kaum behandeltes Thema: die Entstehung von immer mehr Nationalparks in verschiedenen afrikanischen Staaten und den damit verbundenen Problemen. »Dieses Buch ist das Ergebnis jahrelanger, zum Teil lebensgefährlicher Recherchen rund um die Nationalparks in Uganda und der Demokratischen Republik Kongo sowie zahlreicher Gespräche und Interviews mit Akteuren im Natur- und Artenschutz weltweit.« (S. 11) Ein fundierter Alarmruf, wie aus redlichen Absichten Zustände entstehen, die von Gewalt und Militarisierung dominiert sind – eigentlich ein Thema für die Nachrichten.

7. Christian Buckard (2023): Egon Erwin Kisch. Die Weltgeschichte des rasenden Reporters. Die Biografie. Berlin/München: Berlin Verlag, 445 Seiten, 28,- Euro.

Ist eine Biographie dieses Umfangs (noch) Journalismus? Mit über 40 Seiten eng gedruckter Anmerkungen nach dem Muster wissenschaftlicher Monographien? Darin verarbeitet Primär- und Sekundärliteratur in eindrucksvoller Fülle. Man erinnert sich: An Leben und Werk Egon Erwin Kischs hat sich in den 1990er-Jahren bereits der Germanist und Historiker Marcus G. Patka (1997) in einem voluminösen Buch im Lexikonformat auf 565 Seiten abgearbeitet. Die vergleichende Lektüre lehrt: Die neue Studie ist jedenfalls insofern Journalismus als sie eingängig geschrieben und trotz ihrer wissenschaftlich anmutenden Recherchegrundlagen spannend zu lesen ist. Als »rasender Reporter« wurde Kisch dank seiner genialen Selbstvermarktung zur Kultfigur, als »Kommunist« (zu diesem schwierigen Thema finden sich besonders intensive Recherchen) zum Feindbild und als Journalist zum stilbildenden Klassiker. Christian Buckard ist ein brillanter Erzähler. Er macht aus dem Mythos Kisch eine epochale Figur des deutschsprachigen Journalismus.

8. Patrick Bahners (2023): Die Wiederkehr. Die AfD und der neue deutsche Nationalismus. Stuttgart: Klett-Cotta, 540 Seiten, 28,- Euro.

Die gleiche Frage wie zum Buch über Egon Erwin Kisch muss auch hier gestellt werden: Ist das (noch) Journalismus? Zu dieser Thematik lassen sich ganze Buchregale sozialwissenschaftlicher Autorinnen und Autoren bestücken. Patrick Bahners ist gelernter Historiker und auch heute noch, wie seine »Danksagung« dokumentiert, mit diesem Milieu vernetzt. Mit über 500 Seiten überschreitet er jede auch für Buchjournalismus typische Umfangsgrenze. Ein ausführliches Literaturverzeichnis verweist auf seine systematische Arbeitsweise, 8 Seiten Namensregister erschließen den Inhalt. Aber: Patrick Bahners, geboren 1967, gehört seit 1989 zur Redaktion der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) und ist dort verantwortlich für die Geisteswissenschaften. Sein Buch ist der große Wurf eines sensiblen Beobachters, gründlichen Reporters und scharfsinnigen Analytikers. Er warnt davor, in der AfD ein nur zeitbedingtes Phänomen zu sehen. Historisch differenziert sieht er darin immer wiederkehrende Elemente der deutschen Geschichte und Gesellschaft, die eine »abwehrbereite« Demokratie erfordern. Auch unter den universitären Historikern gibt es nicht wenige, die lesefreundlich schreiben können, aber bei Bahners hat die »Schreibe« noch eine andere, darüber hinausgehende handwerkliche Qualität: eben eine journalistische.

9. Gunter Hofmann (2023): Willy Brandt. Sozialist – Kanzler – Patriot. Eine Biographie. München: C.H. Beck, 518 Seiten, 35,- Euro.

Von diesem Buchautor, geboren 1942, einem wahren Senior des Berufes, liegen bereits zahlreiche, auch hier gewürdigte Bücher vor. Bei ihm stellte sich immer schon die Frage: Ist das (noch) Journalismus? Nun also eine Biographie über Willy Brandt. Bis 2008 war Hofmann Chefkorrespondent der Wochenzeitung Die Zeit und ist als Autor auch mit diesem Buch Journalist geblieben. Mit dem Älterwerden der deutschen Demokratie, der inzwischen mehrere Generationen umfassenden Traditionsbildung des (politischen) Journalismus und mit etablierten Medien ist es zur Tradition geworden, dass Journalismus und Zeitgeschichtsschreibung identisch werden. Der daraus resultierende Gewinn für die Lektüre ist, dass Journalismus grundsätzlich mit den Erfahrungen von Zeitzeug:innen arbeiten kann und nicht nur auf Archive beschränkt ist. Das hat bereits Brandts erster journalistischer Biograf Peter Meserburger (2002) gezeigt. Auch brauchen Journalistinnen und Journalisten keinen besonderen Mut, um an die Stelle historischer Objektivität ein deutliches Urteil treten zu lassen. Wie anregend das ist, lehrt diese faszinierende Biographie. Zumal die Politik von Willy Brandt (1913-1992) gerade wieder kontrovers diskutiert wird.

10. Kai Diekman (2023): Ich war BILD. Ein Leben zwischen Schlagzeilen, Staatsaffären und Skandalen. München: Deutsche Verlags-Anstalt, 544 Seiten, 34,- Euro.

Noch einmal muss angesichts eines ganz und gar ungewöhnlichen Buches die Formel zitiert werden: Ist das (noch) Journalismus? Fast 550 Seiten in einem großen Lexikonformat, eng gedruckte Anmerkungen im Blocksatz, ein dokumentarischer Anhang und ein umfangreiches Literaturverzeichnis, stilistisch eine wilde Mischung aus Autobiographie, Reportage, Zitaten und Beschreibungen. Aber der Autor war Bild und wer dieses Blatt nie gelesen hat und dem auch sein Chefredakteur kein Begriff ist, wird zugeben müssen, dass dieser Star des Boulevardjournalismus nicht nur für viele Aufreger stand, sondern mit diesem Buch beweist, dass er ein erinnerungsfähiger Dokumentarist, ein geschickt disponierender Dramaturg, ein brillanter Schreiber und ein differenzierter Apologet in eigener Sache ist. Gerade, wem das Boulevardblatt Bild nichts bedeutet, wird staunen, welch große politische Rolle es häufig gespielt hat. In der Tat ist dieses Buch keine »belanglose Anekdotensammlung«, sondern eine Sammlung von »Geschichten, die Geschichte erzählen. Zeitgeschichte.« (S. 510) Und es zeigt in erschreckender Weise den »Mechanismus der Macht.« (S. 512) Diekmann leuchtet die Hinterbühne von Medien und Politik mit erstaunlicher Offenheit aus.

Extra: Eine Übersetzung

Evan Osnos (2022): Mein wütendes Land. Eine Reise durch die gespaltenen Staaten von Amerika. Aus dem Englischen von Stephan Gebauer. Berlin: Suhrkamp Verlag 2022, 638 Seiten, 32,- Euro.

Der 1976 geborene Evan Osnos, heute Mitglied der Redaktion des Magazins The New Yorker, berichtete ab 2002 viele Jahre aus dem Nahen Osten und der Volksrepublik China. Hier legt er nun ein Buch über das Amerika von heute vor. Osnos‘ langjährigem Aufenthalt in anderen Ländern verdankt das Werk seine Methode: »Eine Heimkehr verspricht immer die Möglichkeit, den eigenen Herkunftsort mit neuen Augen zu sehen.« (S. 12) Dabei beruft er sich ausdrücklich auf John Gunther (1901-1970), einen legendären Klassiker des amerikanischen Journalismus. Dieser berichtete in den 1940er-Jahren aus Europa, später auch anderen Kontinenten und veröffentlichte darüber eine Serie von Büchern mit dem Reihentitel »Inside…«. Nach seiner zwischenzeitlichen Rückkehr in die Vereinigten Staaten fühlte er sich wie ein Marsmensch und veröffentlichte aus dieser Sicht 1947 das Buch Inside U.S.A, das zu einem sensationellen Bestsellererfolg wurde.

Osnos jedenfalls entwickelt dank der Methode Gunther ein feines Gespür für winzige Details, die sein Bild von Amerika dicht und farbig machen. Das Material dafür gewinnt er vor allem über Gespräche, einer Schlüsselmethode, der wir viele Produkte des anspruchsvollen Journalismus verdanken: »Diese Darstellung beruht auf Tausenden Stunden von Gesprächen, die ich in den sieben Jahren von 2014 bis 2021 mit Amerikanern führte.« (S. 24) Bei ihrer Analyse und Verarbeitung entsteht in Evan Osnos eine bange Frage in der Erinnerung daran, dass er so oft eine Lanze für sein Land gebrochen hatte: »Nach meiner Rückkehr in die Vereinigten Staaten begann ich mich zu fragen, ob ich in all diesen Jahren Menschen in aller Welt – und mich selbst – belogen hatte.« (S. 26) Mein wütendes Land, notiert Osnos in seiner umfangreichen Danksagung, »ist ein Buch über das öffentliche Leben, betrachtet durch das Prisma persönlicher Erfahrungen« (S. 577). Die Lektüre stimmt nicht optimistisch, verhilft aber zu einer realistischen Einschätzung nicht zuletzt für das anstehende Wahljahr. Bleibt als Hinweis auf die Qualitäten dieser Kultur von Journalismus, dass die kommentierte Ausbreitung der »Quellen« 35 Seiten ausmacht!

Literatur

Grill, Bartholomäus (2003): Ach, Afrika. Berichte aus dem Inneren eines Kontinents. Berlin: Siedler Verlag.

Merseburger, Peter (2002): Willy Brandt 1913-1992. Visionär und Realist. München: dva.

Patka, Marcus G. (1997): Egon Erwin Kisch. Stationen im Leben eines streitbaren Autors. Wien u. a.: Böhlau.

Wehner, Markus (2016): Putins kalter Krieg. Wie Russland den Westen vor sich hertreibt. München: Knaur.


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Zitationsvorschlag

Fritz Hausjell, Wolfgang R. Langenbucher: Die Top 10 des Buchjournalismus. Hinweise auf lesenswerte Bücher von Journalist:innen. In: Journalistik. Zeitschrift für Journalismusforschung, 3_4, 2023, 6. Jg., S. 377-385. DOI: 10.1453/2569-152X-3_42023-13618-de

ISSN

2569-152X

DOI

https://doi.org/10.1453/2569-152X-3_42023-13618-de

Erste Online-Veröffentlichung

Dezember 2023