Rezensiert von Tanjev Schultz
Wer im Journalismus arbeitet, kann nicht alles wissen. Doch manche Defizite fallen schnell unangenehm auf. Wenn in einer Redaktion nicht richtig gerechnet wird, weil sie Menschen anzieht, deren Verhältnis zu Zahlen von Furcht oder Feindschaft geprägt ist, kann es peinlich werden. Und wenn niemand da ist, der oder die über juristische Grundkenntnisse verfügt, ist das fahrlässig. Fast jedes relevante Thema hat eine juristische Seite, viele öffentliche Debatten betreffen sogar originär rechtliche Fragen.
Journalistinnen und Journalisten dürfen sich vom Jura-Deutsch nicht abschrecken lassen. Entgegen verbreiteten Vorurteilen lesen sich viele Gerichtsentscheidungen, zumal aus Karlsruhe, ziemlich flüssig und spannend. Zudem gibt es Lehrwerke, die auch für juristische Laien verständlich sind. In diese Kategorie fallen ein neues Handbuch des ARD-Journalisten Frank Bräutigam zum richtigen Formulieren bei rechtlichen Themen und der Band Böhmermann, Künast, Rezo, den der Dortmunder Professor für Medienrecht, Tobias Gostomzyk, gemeinsam mit dem Spiegel-Justiziar Uwe Jürgens herausgegeben hat.
Bräutigams Buch erklärt zentrale Begriffe, Sachverhalte, Vorgänge und Institutionen aus der Welt des Rechts, die in der medialen Berichterstattung regelmäßig – und leider nicht immer korrekt – auftauchen. Es beschreibe typische Situationen, im Sport würde man von »Standardsituationen« sprechen (S. VI). Tatsächlich dürfte es kaum einen Journalisten und kaum eine Journalistin geben, die nicht irgendwann, und sei es am Newsdesk beim Redigieren von Agenturtexten, mit Beiträgen über ein Ermittlungsverfahren konfrontiert ist. Wie ein solches Verfahren abläuft und was genau eine Festnahme, ein Haftbefehl oder ein Durchsuchungsbeschluss sind und wie sie zustande kommen, wäre dann gut zu wissen. Das Buch erklärt es – klar, knapp und präzise.
Auf Ermittlungen können Prozesse folgen. Frank Bräutigam schildert die Stationen eines Gerichtsverfahrens und des Instanzenzugs. Was bedeutet Berufung, was Revision? Welche Besonderheiten gibt es im Jugendstrafrecht? Ohne seine Zielgruppe mit einem großen Literaturapparat zu verschrecken, sie stattdessen mit Beispielen aus der journalistischen Praxis versorgend, präsentiert der promovierte Jurist das Wesentliche für die alltägliche Berichterstattung. Worin besteht der Unterschied zwischen Mord und Totschlag? Frage man Menschen auf der Straße (»in Redaktionen« hat Bräutigam hier nicht geschrieben, er ist höflich), laute sehr häufig die Antwort: Mord sei, wenn man jemanden mit Absicht (oder geplant) tötet. Totschlag sei, wenn es im Affekt passiere. »Bitte unbedingt merken: Das ist falsch! Richtig ist: Die Basis bei beiden Delikten Mord und Totschlag ist gleich. Man muss einen Menschen vorsätzlich getötet haben. Vorsätzlich kann Absicht bedeuten. Es reicht aber schon aus, dass man den Tod des anderen für möglich hält und ›billigend in Kauf nimmt‹« (S. 65).
Für einen Mord braucht es Mordmerkmale wie Habgier oder Heimtücke. Ein weiteres mögliches Merkmal ist die Verdeckungsabsicht, und Bräutigam hat für solche sperrigen Begriffe stets auch ein Beispiel parat: Es gehe darum, mit einer Tötung zu verhindern, dass eine andere Straftat auffliege, »Beispiel: Beim Polizistenmord von Kusel in Rheinland-Pfalz sollen die Polizistin und der Polizist den Hauptangeklagten und seinen Begleiter beim nächtlichen Wildern überrascht haben. Laut Gericht erschoss er die beiden, damit seine strafbare Wilderei nicht auffliegt« (S. 65).
In weiteren Kapiteln skizziert Bräutigam den Grundriss der deutschen Sicherheitsarchitektur, die Rolle der Bundesanwaltschaft in Fällen von Terrorismus und Spionage, erklärt die Bedeutung des Zivilrechts, der Verwaltungsgerichte und der obersten Bundesgerichte, auch des Bundesverfassungsgerichts und der europäischen Gerichte, sowie – nicht nur mit Blick auf die Ukraine wichtig – Grundzüge des Völker(straf)rechts. Das alles kann nicht tiefgehend erfolgen; es geht dem Buch auch nicht darum, den wissenschaftlichen Diskurs voranzubringen, sondern die Qualität der medialen Berichterstattung zu verbessern. Schon durch das Verwenden falscher Begriffe, wie »Durchsuchungsbefehl« statt »Durchsuchungsbeschluss«, oder unpassender Symbolfotos, wie eines in Deutschland gar nicht üblichen Hammers auf dem Richtertisch, outen sich Journalistinnen und Journalisten als ahnungslos. Erschienen in der gelben Praxisreihe von Springer VS, beginnt das Buch deshalb ohne Umschweife mit 15 nützlichen Regeln. Sie betreffen Formulierungen, die oft schiefgehen: dass im Strafrecht zum Beispiel niemand »verklagt«, sondern »angeklagt« werde; dass es »lebenslang« heiße, nicht »lebenslänglich« – und es übrigens nicht sinnvoll sei, gleich die Höchststrafe für eine Straftat zu nennen, denn sie werde selten verhängt. Am Ende gibt Bräutigam noch organisatorische Tipps, unter anderem zu den Akkreditierungsverfahren der Gerichte und zur Recherche juristischer Fälle. Das Buch ist allen Journalistinnen und Journalisten zur Lektüre empfohlen, kann ihnen auch als Nachschlagewerk dienen und eignet sich gut für die Lehre an Hochschulen und Schulen der journalistischen Praxis.
Zur Zielgruppe von Böhmermann, Künast, Rezo gehören dagegen wohl in erster Linie Juristinnen und Juristen. Dennoch ist auch dieser Band für den Journalismus relevant, er ist zudem für Forschende interessant, die sich mit Themen wie Pressefreiheit oder der Organisation des Rundfunks beschäftigen. Die Herausgeber haben 20 Fälle aus dem Medien- und Internetrecht ausgewählt, die jeweils große Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatten, seien es die Landesverrat-Vorwürfe gegen zwei Journalisten von netzpolitik.org, sei es der »Hutbürger«, der bei einer Demonstration in Dresden gegen ein Kamerateam wütete und mit seinem schwarz-rot-goldenen Hütchen viral ging; oder der »Fall Brender« beim ZDF und die Frage, wie stark der Einfluss der Politik und des Staates auf den öffentlich-rechtlichen Rundfunk ist und sein darf. Ebenfalls Thema sind die drei Fälle, aus denen der Titel gebildet wurde: das Schmähgedicht von Jan Böhmermann, mit dem er über den türkischen Präsidenten herzog; die Beleidigungen im Internet, gegen die sich die Grünen-Politikerin Renate Künast zur Wehr setzte; das Video »Zerstörung der CDU«, mit dem der YouTuber Rezo Furore machte.
Das innovative Konzept des Buches ist es, dass die Umrisse der Fälle zunächst in einer allgemeinverständlichen, eher journalistisch gehaltenen Skizze gezeigt werden. Autorinnen und Autoren dieser Texte sind jeweils (ehemalige) Journalistik-Studierende aus Dortmund. Darauf folgt ein kurzes Interview mit einer für den Fall wichtigen Person, zum Beispiel mit dem Journalisten Arndt Ginzel, der bei der besagten Demonstration in Dresden für das ZDF als Reporter im Einsatz war, oder mit Claus Kleber zum Streit über die Besetzung der Chefredaktion (»Fall Brender«). Anschließend präsentieren erfahrene Juristinnen und Juristen fachliche Falllösungen und folgen dabei den Usancen ihrer Disziplin in Aufbau, Sprache und Quellenarbeit. Das ist spannend nicht nur für Jura-Studierende und Fachkreise, es gibt allen Interessierten einen guten Einblick ins juristische Argumentieren.
Die Systematik, mit der dabei vorgegangen wird, ist oft eindrucksvoll und kann auch die Angehörigen anderer Disziplinen schulen und inspirieren. So schreitet Michael Libertus Schritt für Schritt mögliche rechtliche Bedenken gegen die Berichterstattung über das berühmt-berüchtigte Ibiza-Video mit dem österreichischen FPÖ-Politiker Heinz-Christian Strache ab. Er unterscheidet zwei Handlungsebenen und dabei jeweils zivilrechtliche und strafrechtliche Aspekte: das Anfertigen und Weitergeben des geheim aufgezeichneten Videos, dann das Verbreiten von Ausschnitten des Videos und die damit verbundene Berichterstattung. Das bereits bekannte Ergebnis – das Informationsinteresse war so groß und berechtigt, dass eine Veröffentlichung rechtlich nicht zu beanstanden war – wird auf diese Weise sehr gut nachvollziehbar.
Wertvoll ist das Buch auch deshalb, weil es einige Konstellationen thematisiert, zu denen keine gerichtlichen Entscheidungen vorliegen, die aber juristisch und journalistisch dennoch höchst relevant sind. Das betrifft etwa die Ermittlungen gegen die Journalisten von netzpolitik.org, die nicht in einer Anklage mündeten, sondern im Amtsverlust des Generalbundesanwalts Harald Range. Die Falllösung von Jan-Hendrik Dietrich legt allerdings nahe, dass politische über juristische Gründe gestellt worden seien und die Journalisten Glück gehabt hätten, dass es zu keiner Gerichtsverhandlung gekommen sei. Denn was die beiden »Blogger« veröffentlicht hätten (Verschlusssachen des Verfassungsschutzes), sei sehr wohl ein Staatgeheimnis gewesen, ihr Handeln hätte als strafbar angesehen werden können. Ist das so? Das kann man anders sehen, nicht nur als Journalist.
Dietrich ist Professor für Staats- und Verwaltungsrecht am Fachbereich Nachrichtendienste der Hochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung und Direktor am Center for Intelligence and Security Studies der Universität der Bundeswehr in München. Dass er eher Partei für den Verfassungsschutz ergreift, überrascht nicht. Dass er dabei wichtige juristische Punkte und Argumente vorträgt, ist unbestreitbar, dennoch ließe sich der Fall aus einer die Freiheit der Presse und die Problematik von Verschlusssachen anders betrachtenden und den Fall anders gewichtenden Perspektive anders beurteilen. Es ist in dem Zusammenhang kein kleines Detail, dass Dietrich die betroffenen Journalisten am Ende nur als »Blogger« bezeichnet. Wer zuvor das Interview mit dem netzpolitik.org-Gründer Markus Beckedahl gelesen hat, versteht sofort, dass auch damit die Position des Verfassungsschutzes bezogen wird – obwohl Beckedahl und sein Kollege zum Zeitpunkt der Ermittlungen längst in der Hauptstadtpresse als anerkannte Journalisten galten.
Vielleicht wäre es sinnvoll gewesen, wenn die Herausgeber noch deutlicher gemacht hätten, dass es zu einigen der im Band präsentierten »Falllösungen« durchaus noch andere, ebenfalls gut begründete Bewertungen geben kann. Interessant wäre es auch gewesen, widerstreitende Lösungen nebeneinander zu stellen (was freilich nur in einigen Fällen ginge, denn manches ist schlicht unstrittig). Davon abgesehen handelt es sich um ein lesenswertes Buch, das auch der Praxis und Erforschung des Journalismus wertvolle Anregungen geben kann.
Über den Rezensenten
Tanjev Schultz ist Professor für Grundlagen und Strategien des Journalismus an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz und Mitherausgeber der Journalistik.
Buchinformationen
Frank Bräutigam (2023): Recht richtig formulieren. Ein Handbuch mit Beispielen aus der journalistischen Praxis. Wiesbaden: Springer VS, 178 Seiten, 37,99 Euro.
Tobias Gostomzyk, Uwe Jürgens (Hrsg.) (2023): Böhmermann, Künast, Rezo. Medien- und Internetrecht in 20 Fällen. Frankfurt/M.: Fachmedien Recht und Wirtschaft, 552 Seiten, 39,- Euro.