Rezensiert von Gabriele Hooffacker
Was treibt Bürgerinnen und Bürger um, wenn sie an Medien und Journalismus denken? Was kritisieren sie daran? Wie stellen sie sich guten Journalismus vor, und wie die notwendigen Rahmenbedingungen dafür? Dass die Antworten auf diese Fragen essenziell für die demokratische Funktion der Medien und für die Demokratie selbst sind, liegt auf der Hand. Das bayerische Staatsministerium für Wissenschaft und Kunst hat daher 2018 den Forschungsverbund »Zukunft der Demokratie« (ForDemocracy) ins Leben gerufen. Das Teilprojekt Media Future Lab hat Michael Meyen konzipiert; umgesetzt wurde es von ihm, Sevda Arslan und Alexis von Mirbach, einer studentischen Hilfskraft, Studierenden der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) München und zahlreichen Gesprächspartnerinnen und -partnern. Insbesondere 33 Personen haben zu der Bürgerkonferenz Medien beigetragen, deren Ergebnis hier als Buch vorliegt. Vorausgegangen war der Band Das Elend der Medien (Mirbach/Meyen 2021), der heftige Diskussionen ausgelöst hatte (vgl. Tröger 2022; Mirbach 2022).
Vorweg: Der Titel »Bürgerbuch« führt ein wenig in die Irre. Zwar haben sieben Arbeitsgruppen ihren Weg beschrieben und auch Ergebnisse erarbeitet (über den Prozess der Bürgerkonferenz gleich mehr), die sieben Kapitel ausmachen. Doch in einem gehörigen Anteil von drei Kapiteln verhandelt das Buch die Schwierigkeiten, das Thema zu erforschen. Es ist also gleichzeitig ein Bürger:innen-Erforschungs-Buch.
Hürden für das Projekt
Die Pandemie hat für Forschungsprojekte wie das »Media Future Lab« (2019-2022) den Rahmen abgesteckt. Methodische Einbußen sind die Folge: Anstelle großer Konferenzen traten teilweise Kleingruppen-Gespräche und Leitfaden-Interviews. Dennoch wurden zwischen »Herbst 2019 bis Herbst 2021 (inklusive Bürgerkonferenz Medien) gut ein Dutzend Media Future Labs mit knapp 200 Menschen durchgeführt« (Mirbach, S. 52).
Umgesetzt wurde das Projekt in drei Phasen: Expertenwissen von Medienpraktiker:innen, Medienpolitiker:innen und professionellen Medienbeobachter:innen sollte Phase 1 (Sommer 2019) erbringen. Zu einer Vorlesungsreihe an der LMU München wurden 19 Experten und Expertinnen zur Diskussion mit den Studierenden eingeladen. Bereits hier begannen Vorwürfe, die das gesamte Projekt begleitet und seine Umsetzung durchaus erschwert haben, in diesem Fall der Vorwurf der »Linkslastigkeit«, ausgesprochen von Studierenden im Rahmen der Evaluation der Lehrveranstaltung (Mirbach, S. 43).
Auch Phase 2, die sogenannte Bürgerkonferenz, die aus zahlreichen dezentralen Treffen der sieben Gruppen sowie deren Auswertung bestand, wurde durch unerwartete Ereignisse beeinträchtigt. Die Medienberichterstattung über Michael Meyen führte dazu, dass eine ganze Gruppe in München deshalb die Teilnahme am Projekt absagte (Mirbach, S. 63f.). Phase 3 (Sommer 2020) war als Online-Debatte über journalistische Qualität geplant, wurde jedoch durch einen Blogeintrag von Mirbach etwas unverhofft vorzeitig initiiert. Mirbach schreibt dazu: »Ich schrieb über einen Journalisten der Alternativmedien. Der Beitrag löste einen Skandal aus. Süddeutsche Zeitung und Telepolis berichteten« (S. 18).
Methodik und Ergebnisse
Methodisch folgte das Forschungsprojekt den Zukunftswerkstätten: Kritik, Utopie, Lösungsvorschläge sowie dem Konzept »Reale Utopien« von Erik Olin Wright. Mirbach beschreibt ausführlich den theoretischen Rahmen (insbesondere in Kapitel 2). Den Vorwurf, die Auswahl der Diskussionspartner:innen sei nicht »repräsentativ«, kontert er mit dem Argument: Es gehe um Medienkritik. Dazu müssten kritische Stimmen gehört werden. So kreist das Buch auch immer wieder um die Rolle »alternativer« Medien (Debatte dazu in der »Journalistik«, vgl. Hooffacker 2022; Meyen 2022).
Doch die Bürgerinnen und Bürger hielten sich nicht immer an die Vorgaben des Forschungsteams, konkrete Lösungsvorschläge zu machen. Das macht den Reiz der Ergebnisse aus, die das Buch präsentiert. Eine Arbeitsgruppe, die die Ziele des Projekts nahezu ideal erreicht, ist die Arbeitsgruppe Radio LORA unter Fabian Ekstedt. Sie schlägt unter anderem ein »Freiwilliges journalistisches Jahr (FJJ)« vor (Kapitel 7). Im Anschluss daran haben 30 Studierende allgemeine Lösungsvorschläge und Utopien zum Thema Medienträume aufgeschrieben. Mit der Finanzierung von Journalismus hat sich die Arbeitsgruppe Basis befasst und eine Blockchain-Lösung vorgeschlagen (Kapitel 8). Die Arbeitsgruppe Tegernsee hat sich mit der gesellschaftlichen Integration von Journalismus und Wissenschaft befasst und dabei die Pläne und Vorgaben der Projektleiter wieder einmal über den Haufen geworfen (Kapitel 9), nachdem die Pandemie und begleitende Kritik bereits das Ihrige getan hatten. Komplett anders als geplant lief die Projektarbeit mit der Arbeitsgruppe Zwickau, die zunächst anzweifelte, dass Journalismus überhaupt etwas in der Gesellschaft bewegen könne (Kapitel 3, S. 88ff.). Dafür war die Arbeitsgruppe München (Kapitel 4) um so produktiver. Sie entwickelte unter anderem eine Verfassungsutopie, einen »Rat für Nachhaltiges Informieren der Bundesrepublik Deutschland«, kurz: rNI (S. 119).
Den Bogen zum öffentlich-rechtlichen Rundfunk und dazu, wie hier Partizipation aussehen könnte, schlägt die Arbeitsgruppe Leipzig (Kapitel 5). Sie hat dazu fünf Statements erarbeitet sowie die Vision einer »gesellschaftlichen Kommunikationsplattform«. Die Arbeitsgruppe Ständige Publikumskonferenz entwickelt in Kapitel 6 Ansätze für eine Publikumsbeschwerde-Website und eine Bürgerstiftung, die »Stiftung Medientest«.
Zu Beginn und zum Schluss setzt sich Mirbach mit dem fast zeitgleich stattfindenden ARD-Zukunftsdialog auseinander. Mit großem Aufwand wurden hier Bürgerinnen und Bürger befragt. Eine mögliche Aufnahme oder Umsetzung der Ergebnisse jedoch wurde an die Publikumsräte einerseits, »die Medienpolitik« andererseits delegiert (Mirbach, S. 266). Man muss dem Teilprojekt Media Future Lab im Vergleich zum ARD-Zukunftsdialog zugutehalten: Es stellt die Partizipation der Bürgerinnen und Bürger in den Mittelpunkt, indem es deren Utopien (»Medienträume«) sowie den Prozess der Partizipation ausführlich dokumentiert und reflektiert. Darauf ein Schlaglicht zu werfen, darin liegt vielleicht der Wert dieser Projektdokumentation.
Literatur
Hooffacker, Gabriele (2020): Copycats oder innovativ und integrativ?. Ein Vorschlag zur Beurteilung von »Alternativmedien«. In: Journalistik, 3(3), S. 250-261. DOI: 10.1453/2569-152X-32020-10982-de, https://journalistik.online/ausgabe-03-2020/copycats-oder-innovativ-und-integrativ/, abgerufen 31.8.2023
Meyen, Michael (2020): Die Leitmedien als Problem. Warum der Gegendiskurs dem Journalismus helfen könnte. In: Journalistik, 3(3), S. 262-273. DOI: 10.1453/2569-152X-32020-10984-de, https://journalistik.online/ausgabe-03-2020/die-leitmedien-als-problem/, abgerufen 31.8.2023
Mirbach, Alexis von (2022): Die elendige Parole zum Elend der Medien. In: Journalistik, 5(1), S. 73-78. DOI: 10.1453/2569-152X-12022-12031-de, https://journalistik.online/ausgaebe-01-2022/die-elendige-parole-zum-elend-der-medien/, abgerufen 31.8.2023
Mirbach, Alexis von; Michael Meyen (2021): Das Elend der Medien: Schlechte Nachrichten für den Journalismus. Köln: Herbert von Halem.
Tröger, Mandy (2022): Was ist »Alternative Medienkritik«? Eine Streitschrift für ein fundiertes Kritikverständnis. In: Journalistik. Zeitschrift für Journalismusforschung,5(1), S. 64-72. DOI: 10.1453/2569-152X-12022-12029-de, https://journalistik.online/ausgaebe-01-2022/was-ist-alternative-medienkritik/, abgerufen 31.8.2023
Über die Rezensentin
Gabriele Hooffacker, Prof. Dr. phil., (*1959), ist Mitherausgeberin der Journalistik und lehrt an der HTWK in Leipzig im Lehrbereich »Medienadäquate Inhalteaufbereitung«. Gabriele Hooffacker gibt die von Walther von La Roche (1936-2010) gegründete Lehrbuch-Reihe »Journalistische Praxis« bei Springer VS sowie die Reihe »Leipziger Beiträge zur Computerspielekultur« heraus.
Buchinformationen
Alexis von Mirbach (2023): Medienträume. Ein Bürgerbuch zur Zukunft des Journalismus. Köln: Herbert von Halem, 272 Seiten, 27,- Euro.