Was ist »Alternative Medienkritik«? Eine Streitschrift für ein fundiertes Kritikverständnis

von Mandy Tröger

Abstract: In seinem Beitrag »Wie groß ist das ›Elend der Medien‹« führt Siegfried Weischenberg den Begriff »Alternative Medienkritik« (AMK) ein. Allerdings definiert er weder, was AMK sein soll, noch begründet er die Textauswahl, aufgrund derer er sie umreißt. Der folgende Text ist ein Versuch der Differenzierung: Zum einen wird der AMK-Begriff beleuchtet, seine Brauchbarkeit untersucht und in einer breiteren (Medien-)Kritik-Debatte verortet. Zum anderen werden Ansätze für eine wissenschaftlich fundierte Kritik der von Weischenberg besprochenen Beiträge geboten, und es werden Ideen vorgebracht, wie diese Kritik-Debatte in der Kommunikations- und Medienwissenschaft ihren Niederschlag finden kann.

Im Beitrag »Wie groß ist das ›Elend der Medien‹« nimmt sich Siegfried Weischenberg vor, was in der Kommunikations- und Medienwissenschaft und Journalismusforschung bisher ignoriert wurde: eine wachsende (populärwissenschaftliche) Literatur der Medien- und Journalismuskritik, die allein schon deshalb nicht übergangen werden sollte, weil sie im öffentlichen Diskurs stetig an Bedeutung gewinnt (vgl. Bucher 2020).[1] Weischenberg nennt sie »Alternative Medienkritik« (AMK). Prominente Vertreter:innen sind, folgt man seiner Analyse, Autoren wie Michael Meyen (Die Propaganda-Matrix, 2021 und Das Elend der Medien, 2021), Markus Klöckner (Der Zombie-Journalismus, 2021 und Sabotierte Wirklichkeit, 2019) und der Rubikon-Herausgeber Jens Wernicke (Lügen die Medien?, 2017). Weischenberg bietet einen Überblick über deren Beiträge aus den vergangenen Jahren und positioniert sich gegen sie. Das ist verdienstvoll. Allerdings definiert er weder, was AMK sein soll, noch begründet er die Textauswahl, aufgrund derer er sie umreißt. Auch positioniert er AMK nicht im Kontrast zu einem angenommen legitimen Gegenstück, das man intuitiv »Mainstream-Medienkritik« nennen könnte (in ihrem Editorial nennt Gabriele Hooffacker (2021) als Gegenstück »Professionelle Medienkritik« (S. 196)). Kurz: Weischenberg lässt offen, worüber genau er eigentlich schreibt. Gleichzeitig delegitimiert er eine Reihe kritischer Ansätze, wie etwa das Propagandamodell von Edward S. Herman und Noam Chomsky, die er unter der undefinierten AMK zusammenfasst.

Offen bleiben zudem Fragen, die uns in Anbetracht wachsender sozialer Spannungen beschäftigen sollten: Wodurch zeichnet sich Medien- und Journalismuskritik (als Teil breiter Gesellschaftskritik) aus? Warum ist sie nicht nur legitim, sondern auch wichtig? Und inwiefern können die von Weischenberg diskutierten Beiträge dazu animieren, ein Kritikverständnis zu etablieren, das den Herausforderungen der Gegenwart (Klimakrise, Monopolisierung digitaler Kommunikation etc.) gerecht wird? Ziel dieser Debatte sollte sein, differenzierte Kritikansätze zum Funktionieren und Versagen von Medien und Kommunikation in demokratisch-kapitalistischen Gesellschaften herauszuarbeiten. Denn nur ein fundiertes Kritikverständnis kann der politischen Instrumentalisierung von Medienkritik und damit ihrer Delegitimierung vorbeugen (zur Herleitung eines solchen Kritikbegriffs für die Kommunikations- und Medienwissenschaft und angrenzende Fächer siehe: van den Ecker/Tröger, i.E.).

Es folgt also ein Versuch der Differenzierung. Zum einen soll der AMK-Begriff beleuchtet, seine Brauchbarkeit untersucht und in einer breiteren (Medien-)Kritik-Debatte verortet werden. Zum anderen werden Ansätze für eine wissenschaftlich fundierte Kritik der von Weischenberg besprochenen Beiträge geboten, und es werden Ideen vorgebracht, wie diese Kritik-Debatte in der Kommunikations- und Medienwissenschaft ihren Niederschlag finden kann.

»Alternative Medienkritik«: Ein brauchbares Konzept?

Weischenberg definiert »Alternative Medienkritik« nicht. Über den gesamten Aufsatz verteilt, charakterisiert er aber Werke der postulierten AMK als »einseitig«, »eindeutig«, »kompromisslos«, »aggressiv« (S. 200), »sehr zugespitzt und auch ungerecht« (S. 207) und »polemisch« (S. 209). Nicht selten mache die AMK den »Generalvorwurf der Propaganda« (S. 200), das heißt, ihr liege ein »weitgefasster Propaganda-Begriff« (S. 213) zugrunde. Zudem betrieben AMK-Autoren eine »fundamentale Systemkritik« (S. 200), oftmals in Form einer »Generalabrechnung« (S. 200). Neben dem Thema Covid-19, bei dem AMK-Autoren »einen prinzipiell anderen Standpunkt als der ›Mainstream‹« (S. 200) vertreten würden, seien zentrale Themen »die einseitige Kriegsberichterstattung und das, was man als ›kapitalistischer Komplex‹ bezeichnen könnte« (S. 201), also die gesellschaftliche »Durchsetzung der neoliberalen Ideologie« (S. 202). Letztlich zeichne sich AMK durch eine »selektive und auch redundante Kritik« (S. 211) aus, die »voller Zynismus« (S. 210) zu Werke gehe.[2]

Warum die so umrissene Art der Kritik das Etikett »alternativ« verdient, wird nur angedeutet. Zum einen scheint sie durch Nicht-Mainstream-Medien, also Blogs wie multipolar oder Rubikon (und dazugehörigen Verlag), produziert, um dann »multimedial«, auf »allen Kanälen« (S. 212) und durch »befreundet[e] Quellen« (S. 213) verbreitet zu werden. Da Weischenberg aber weder eine Definition noch Eingrenzung dieser Medien bietet und auch die Auswahl der besprochenen Beiträge nicht begründet, ist AMK hier schwer greifbar. Zum anderen scheinen die Art der Kritik (in Sprache und Stil) und deren Themen und politische Haltung (zu Corona, Krieg usw.) »alternativ« (oder nicht Mainstream) zu sein und so in die AMK-Klassifikation hineinzuspielen. Das (offenbar legitime) Gegenstück zur AMK wird nur bruchstückhaft umrissen als »ausgewogen« (S. 200) und als eine »systemkonforme Kritik« (S. 200), die »Relativierung und Differenzierung« (S. 200) biete. Versucht man dieses Gegenstück im Kontrast zur AMK-Charakterisierung herzuleiten, kommt eine kompromissbereite, gerechte und unpolemische Art der Kritik heraus, die keine Systemkritik ist.

Der Versuch der Begriffsdefinition verdeutlicht: Die von Weischenberg angebotene AMK-Klassifikation ist unbefriedigend bis unbrauchbar. Auf einer forschungspraktischen Ebene vermischt sie interessierende Aspekte und Ebenen der Medienkritik (behandelte Themen, politisch-ideologischer Standpunkt, Stil, Qualität). Auf einer zweiten analytischen Ebene werden weder die zugrunde liegenden Dynamiken der Produktion und Distribution erläutert, noch wird der Begriff »alternativ« thematisiert (siehe hierzu Hooffacker 2020).

Dabei täte eine qualitative Bestimmung der Begriffe »alternativ« und »Kritik« und deren historische Beziehung zueinander not. Folgt man beispielsweise Herbert Marcuses Abhandlung »The chance of the alternatives« aus dem Jahr 1964, bedingen beide sich gegenseitig. »Uncritical thinking derives its beliefs, norms, and values from existing thought and social practices, while critical thought seeks alternative modes of thought and behavior from which it creates a standpoint of critique« (Marcuse 1964, zit. nach Kellner 2007: xiv). »Alternativ« meint hier zuallererst also sozialistisch-linke System- und Fundamentalkritik. Dieses Begriffsverständnis lag der 1968er Bewegung zugrunde. Ihr Gegenstück, nach Marcuse, ist eine »affirmative Kritik«. In den 1970er Jahren etablierte sich »alternativ« als linker Gegenbegriff zu »bürgerlich«. Die Gründung der alternativen tageszeitung (taz) im Jahre 1978 ist hier exemplarischer Ausdruck einer linken Gegenöffentlichkeit (Hooffacker 2020). Mit einer zunehmenden Entpolitisierung des Begriffs und der Adaption alternativer Medien an den Mainstream wurde der Begriff »alternativ« in den 1990ern durch verschiedene Gruppen besetzt. Heute wird er vor allem mit rechtspopulistischen Parteien wie »Alternative für Deutschland« assoziiert und sogenannte »Alternativmedien« werden in der Kommunikations- und Medienwissenschaft unter dem Aspekt rechter Gegenöffentlichkeiten diskutiert (vgl. Engesser/Wimmer 2009; Holt 2019).

Marisol Sandoval (2011) definiert alternative Medien hingegen vor allem als kritische Medien. Die Frage ist dann, wo »kritisch« im politischen Spektrum anzusiedeln ist (rechts, links, bürgerliche Mitte) und wie Kritik entsprechend ausformuliert wird. Sieht man nun auf die, wie Weischenberg sie nennt, »Propaganda-Schlacht um die Corona-Berichterstattung« (S. 199), in der AMK zentraler Bestandteil sein soll, wird klar: Kategorien wie »rechts« und »links« greifen nicht unterhinterfragt. Laut der Studie »Politische Soziologie der Corona-Proteste« (Nachtwey/Schäfer/Frey 2020) ist die Bewegung gegen Corona-Maßnahmen politisch divers. Die Bewegung sei:

»vor allem durch eine tiefe Entfremdung von Kerninstitutionen der liberalen Demokratie zu charakterisieren. Der parlamentarischen Politik und den Parteien, der Wissenschaft und den Medien – allen Institutionen schlägt grosses [sic] Misstrauen entgegen. […] Die Kritiker:innen sehen sich in ihrer Abweichung vom Mainstream verkannt und geächtet; gleichzeitig werten sie sich und ihre Expertise im Vergleich zum Mainstream auf« [eigene Hervorhebung, M.T.] (Nachtwey et al. 2020: 62).

Folgt man dieser Charakterisierung, die hier nur teilweise wiedergegeben werden kann, bietet sie eine mögliche Blaupause, mittels derer man auch die Journalismus- und Medienkritik der von Weischenberg diskutierten Beiträge analysieren kann. Gemeinsamer Nenner der von ihm genannten Autoren ist die Kritik der Corona-Berichterstattung im Rahmen einer umfassenden (und eventuell einseitigen) Systemkritik. Mit dieser analytischen Einschränkung ist die Kategorisierung Weischenbergs nicht unbedingt fassbarer, auch begründet sie nicht seine Textauswahl. Aber sie bietet einen nicht-statischen Orientierungsrahmen für »normative Unordnung« (ebd.): Sie impliziert politische Diversität und macht den Weg frei, den sozialen Realitäten analytisch gerechter zu werden – zwischen etablierten (politischen) Kategorien hin zu definierenden Tendenzen einer Bewegung (Entfremdungserfahrung, Misstrauen etc.).

Kritik an der Kritik und mögliche Lösungsansätze

Durch die Unschärfen der AMK-Kategorisierung bietet Weischenberg einen (unkritischen) Rundumschlag gegen Medienkritik allgemein: Zum einen delegitimiert er eine Reihe kritischer Ansätze der Medien- und Journalismusforschung, die er unter der undefinierten AMK zusammenfasst. Vor allem in Bezug auf das Propagandamodell überwiegt allerdings der Eindruck, dass eine ordentliche Lektüre der Literatur und der Vielzahl der Werke Chomskys einen differenzierteren Blick ermöglicht hätten.[3] Zum anderen folgt Weischenberg unhinterfragt den proklamierten Ansprüchen der kritisieren Autoren. Anders ausgedrückt: Nur weil Autor:innen für sich in Anspruch nehmen, auf Grundlage bestimmter theoretischer Perspektiven zu arbeiten, bedeutet das nicht, dass sie dies auch (gut) tun. Es sollten also weniger die Theorien als deren Anwendung im Fokus der Kritik stehen.

Mögliche Punkte, an denen sich die von Weischenberg besprochenen Beiträge fundiert diskutieren ließen, wären beispielsweise eine unterkomplexe Anwendung von Theorien, verkürzte Lesarten ganzer Werke oder ein eklektisches Zusammenschrauben simplifizierter Theoriekomplexe (vgl. Kannapin 2022). Im Rahmen einer möglichen Neuklassifizierung der Texte entsprechend der oben genannten Blaupause wäre zudem zu prüfen, inwiefern die von den Autoren betriebene Medien- und Journalismuskritik an der Corona-Berichterstattung tatsächlich von tiefen Entfremdungserfahrungen und Misstrauen in demokratische Institutionen zeugt. Wird explizit gegen einen Mainstream-Wissenschaftskanon (mit den ihm inhärenten Qualitätskriterien) angeschrieben und werten die Autoren dabei ihre Expertise als »verkannt« und »geächtet« (Nachtwey et al. 2020: 62) in Abweichung vom Mainstream auf? Und wenn ja, wie tun sie dies? In der Beantwortung dieser Fragen könnten die Okkupierung und/oder Instrumentalisierung bestimmter Begriffe (wie »alternativ« oder »kritisch«) oder der Gebrauch von Totalitäten und Verallgemeinerungen (der Journalismus, die Medien, die Eliten) untersucht und mit der Analyse anderer stilistischer Mittel, die Weischenberg als »polemisch« und »einseitig« definiert, in Beziehung gesetzt werden.

In diesem Zusammenhang scheint auch eine Analyse des Kritikanspruchs der Autoren nötig. Journalist Klöckner fordert laut Weischenberg vom »Journalismus unserer Zeit« beispielsweise »Sachlichkeit, Neutralität, Ausgewogenheit, Meinungsvielfalt« (Klöckner 2021: 11f., zit. nach Weischenberg), Kommunikationswissenschaftler Meyen möchte einen Beitrag zur »Zukunft des Journalismus« (von Mirbach/Meyen 2021: 10) leisten. Eine mögliche Frage wäre demnach, inwiefern die Autoren diesen Ansprüchen und Zielen gerecht werden (können), wenn sie im selben Atemzug vom »Zombie-Journalismus«, von »Schamlosigkeit« und »journalistische[r] Schande« (Klöckner 2021: 11f.) schreiben oder den Journalismus als »schwer krank«, »arbeitsunfähig und durchseucht von Politik am Tropf der Industrie« und nun »nach langem Siechtum« für »tot« erklären (Meyen 2021: Klappentext)? Impliziert die hier angewandte Sprache nicht doppelte Standards? Inwiefern ist Kritik, die sich solcher sprachlichen Mittel bedient, zielführend, wenn das Ziel tatsächlich ein konstruktives sein soll? Armin Scholl (2016) spricht in diesem Zusammenhang von instrumentalisierten Forderungen nach der »Liberalisierung der Öffentlichkeit«: Wenn Autor:innen »Vielfalt, Beteiligung, Repräsentanz, Toleranz« fordern, diese anderen aber nicht im selben Maße zugestehen, dann ginge es »schlicht um die Propaganda der eigenen Ziele« und um »die (eine) richtige Meinung«. Folgt man Scholl, ist die Frage also, inwiefern der Vorwurf des »Zombie-Journalismus« eine Instrumentalisierung der Forderung nach »Sachlichkeit, Neutralität, Ausgewogenheit, Meinungsvielfalt« impliziert. Das sind wichtige Fragen, denen Weischenberg nicht nachgeht, die sich aber für künftige Analysen anbieten.

Eine Debatte »alter, weißer Männer«?

In seinem Blogbeitrag »Siegfried Weischenberg und die AMK« widmet sich auch der angegriffene Michael Meyen (2021) dem Aufsatz Weischenbergs. Auffällig ist hier das Narrativ des Widerstands (Meyen als W3-Professor-Underdog und Sprachrohr kritischer Bürger:innen) sowie die Darstellung von Hintergründen, die nach Meyens Meinung Weischenbergs Kritik treiben. Das passiert auf einer individualisierenden bis persönlichen Ebene (mit Insider-Wissen), der faktisch kaum zu begegnen ist. Dadurch kann man sich aber auch des Eindrucks nicht verwehren, dass diese Debatte von den Ich-Narrativen alter weißer Männer getrieben ist.

Exemplarisch hierfür stehen zum einen der männliche AMK-Autoren-Pool, zum anderen die von diesen Autoren benutzten argumentativen Mittel. In Meyens Beiträgen (Die Propaganda-Matrix und Das Elend der Medien) beispielsweise stehen das »Ich« (sowie persönliche Motive) auf Seite eins, um dann in den jeweiligen Rollen (Akademiker, Forscher, Medienkritiker, Journalist, DDR-Bürger etc.) entsprechend dem jeweiligen Argument ausgespielt zu werden. Das ist nicht unbedingt schlecht. Wissenschaft (oder Produktion von Wissen) funktioniert nicht ohne Subjekt, und das wird hier transparent gemacht. Allerdings lässt sich mit persönlichen Motiven, Hintergründen und Rollen auf analytischer Ebene kaum argumentieren, vor allem dann nicht, wenn sie (wie im Fall Weischenberg) auf sich überschneidenden Ebenen (persönlich und analytisch) genutzt werden, um legitime Kritik zu entkräften, und wenn strukturelle (nicht die Summe individueller) Probleme im Zentrum des Interesses stehen.

Zusammenfassend lässt sich also sagen: Jede Kritik schwächelt an den Egos ihrer Autor:innen. Wenn im Mittelpunkt die (Re-)Produktion des Ichs steht und selbstbezogene Narrative die Argumentation zu treiben scheinen, ist das Indiz dafür, dass es sich um die Instrumentalisierung kritischer Perspektiven und die Übertragung privater Kämpfe in öffentliche Arenen handelt. Was zu einem gewissen Grad Grundlage jeder Kritik sein muss, kann durch die Übersteigerung des Ichs also kontraproduktiv werden. Auf der Strecke bleibt die Kritik selbst.

Weischenbergs Beitrag und die Diskussion über diesen sollten daher Anreiz bieten, unser Kritik- und wissenschaftliches Selbstverständnis zu schärfen und unsere Arbeit auf ihre gesellschaftliche Relevanz abzuklopfen. Denn die Kommunikations- und Medienwissenschaft sowie angrenzende Fächer sind im Zugzwang, wollen sie die Definitionsmacht über Lesart und Anwendung bestimmter (systemkritischer) Theorien und damit das Feld der Medienkritik zurückerobern. Es braucht ein fundiertes Kritikverständnis, das emanzipatorische Medienkritik in das Zentrum legitimer Gesellschaftskritik rückt, um den aktuellen Herausforderungen gerecht zu werden.

Folgt man beispielsweise dem Kritikverständnis des Netzwerks Kritische Kommunikationswissenschaft (van den Ecker/Tröger, i.E.), tritt eine ideale Medien- und Journalismuskritik für einen radikalen Pluralismus der Identitäten, Perspektiven und Meinungen zum Ziele kollektiver Emanzipation ein. Sie ist, nach Marcuse (1964 [2007]), nicht affirmativ, kann also auch Systemkritik sein. In der Analyse aktueller Gesellschaftsstrukturen distanziert sie sich von Reduktionismen, Dogmatismen und eröffnet Komplexität durch selbstreflexive Forschung, die auch selbstkritisch ist. Sie analysiert und kritisiert Leitmedien genau wie Alternativmedien und fragt nach den Ideologiekonstrukten beider. Sie nimmt also Medien- und Journalismuskritik in »alternativen Medien« (Kommerzialisierung und Vermachtung des Journalismus, einseitige Corona-Berichterstattung etc.) so ernst wie möglich, arbeitet deren Wahrheitsgehalt heraus und geht ihr mit wissenschaftlichen Methoden nach. Gleichermaßen fragt sie nach den Ideologien, die dieser Kritik zugrunde liegen, nach der jeweiligen Sprache zu ihrer Legitimation und den ihr inhärenten Machtverhältnissen (siehe hierzu auch van den Ecker 2021). Diesen Umriss einer idealtypischen Medien- und Journalismuskritik kann man befürworten oder nicht. Letztlich aber sollte jedwede Kritik-Diskussion nicht durch alte Grabenkämpfe bestimmt, sondern durch neue, theoretisch fundierte Perspektiven bereichert werden.

Über die Autorin

Mandy Tröger (PhD) ist Gastprofessorin am Institut für Journalistik und Kommunikationsforschung der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover. Sie hat am Institute of Communications Research der Universität Illinois (USA) studiert und wurde dort 2018 promoviert. Seit November 2017 ist sie Mitglied des Netzwerks Kritische Kommunikationswissenschaft. Ihre Forschungs- und Publikationsschwerpunkte liegen in deutsch-deutscher Mediengeschichte und internationaler Kommunikation.

Literatur

Bucher, Hans-Jürgen (2020): Einführung – Medienkritik. Zwischen ideologischer Instrumentalisierung und kritischer Aufklärung. In: Ders. (Hrsg.): Medienkritik. Zwischen ideologischer Instrumentalisierung und kritischer Aufklärung. Köln: Herbert von Halem.

Engesser, Sven; Wimmer, Jeffrey (2009): Gegenöffentlichkeit(en) und partizipativer Journalismus im Internet. In: Publizistik, 54(1), S. 43-63. DOI: 10.1007/s11616-009-0024-2

Holt, Kristoffer (2019): Right-Wing Alternative Media. New York: Routledge.

Hooffacker, Gabriele (2020): Copycats oder innovativ und integrativ? Ein Vorschlag zur Beurteilung von »Alternativmedien«. In: Journalistik, 3(3), S. 250-261. DOI: 10.1453/2569-152X-32020-10982-de

Hooffacker, Gabriele (2021): Editorial. In: Journalistik, 4(3), S. 196-198. DOI: 10.1453/2569-152X-32021-11505-de

Kannapin, Detlef (2022): Unmögliche Ideologiekritik. Vom Scheitern des Mediendiskurses und seiner »Demokratisierung« . In: Junge Welt, 14. Januar 2022, S. 12. https://www.jungewelt.de/loginFailed.php?ref=/artikel/418486.unter-medien-schweigen-die-musen-unm%C3%B6gliche-ideologiekritik.html

Marcuse, Herbert (1964 [2007]): One-Dimensional Man. 2. Aufl. London and New York: Routledge.

Meyen, Michael (2021): Siegfried Weischenberg und die AMK. In: Medienrealität 2021. https://medienblog.hypotheses.org/10078 (9.1.2022)

Nachtwey, Oliver; Schäfer, Robert; Frei, Nadine (2020): Politische Soziologie der Corona-proteste. SocArXiv. 20. Dezember 2020. DOI:10.31235/osf.io/zyp3f

Sandoval, Marisol (2011): Warum es an der Zeit ist, den Begriff der Alternativmedien neu zu definieren. In: Hüttner, Bernd; Leidinger, Christiane; Oy, Gottfried (Hrsg.): Handbuch Alternativmedien 2011/2012. Neu-Ulm: AG SPAK Bücher, S. 24-36. http://www.zeitschrift-marxistische-erneuerung.de/article/256.warum-es-an-der-zeit-ist-den-begriff-der-alternativmedien-neu-zu-definieren.html (5.12.2021)

Scholl, Armin (2016): Zwischen Kritik und Paranoia: Wo hört Medienkritik auf und wo fangen Verschwörungstheorien an? Bundeszentrale für politische Bildung. https://www.bpb.de/dialog/netzdebatte/235319/zwischen-kritik-und-paranoia-wo-hoert-medienkritik-auf-und-wo-fangen-verschwoerungstheorien-an (1.12.2021)

van den Ecker, Marlen; Tröger, Mandy (2022, i.E.): Zum Kritikbegriff des Netzwerks Kritische Kommunikationswissenschaft. In: Studies in Communication and Media. Themenheft: Kritik (in) der Kommunikationswissenschaft, Proceedings.

Van den Ecker, Marlen (2021): Die alternative Mülltonne der Ideologie. Eine ideologiekritische Analyse alternativer Medien. Unveröffentlichte Masterarbeit. Friedrich-Schiller-Universität Jena, Institut für Soziologie.

Weischenberg, Siegfried (2021): Wie groß ist das »Elend der Medien«? In: Journalistik, 4(3), S. 199-217. DOI: 10.1453/2569-152X-32021-11778-de

Fussnoten

1 Dieser Text basiert auf Diskussionen, die ich im Rahmen des Netzwerks Kritische Kommunikationswissenschaft geführt habe, steht aber nicht für das Netzwerk als Ganzes. Er ist in Absprache mit Mitgliedern des Organisationsteams entstanden, dennoch bin allein ich für seinen Inhalt verantwortlich.

2 Dank an Uwe Krüger, der diese Textanalyse erarbeitet und bei der Onlineveranstaltung KriKoWi:talks »›Alternative Medienkritik‹: Ein brauchbares Konzept von Siegfried Weischenberg?« am 15. Dezember 2021 vorgestellt hat.

3 Die Kritik am Propagandamodell ist reduktionistisch, die Sprache polemisch. So schreibt Weischenberg von Chomsky, der »verschwörungstheoretisch unterstellt« (S. 203) und der »Säulenheiliger« (S. 201) der AMK sei. Um auf diese und andere Vorwürfe einzugehen, bedarf es eines eigenen Artikels (siehe hierzu Florian Zollmanns Debattenbeitrag).


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Zitationsvorschlag

Mandy Tröger: Was ist »Alternative Medienkritik«?. Eine Streitschrift für ein fundiertes Kritikverständnis. In: Journalistik. Zeitschrift für Journalismusforschung, 1, 2022, 5. Jg., S. 64-72. DOI: 10.1453/2569-152X-12022-12029-de

ISSN

2569-152X

DOI

https://doi.org/10.1453/2569-152X-12022-12029-de

Erste Online-Veröffentlichung

März 2022