Von Jochen Zenthöfer
Abstract: Kurz vor einer Wahl erreichen Plagiatsvorwürfe die Redaktion. Was ist zu tun: Berichten oder ignorieren? Der Beitrag enthält Empfehlungen, die sicherstellen sollen, dass sich Journalistinnen und Journalisten nicht zu Werkzeugen von Plagiatsjägern und Plagiatsjägerinnen machen. Denn manche Vorwürfe entwickeln, nachdem über sie berichtet wird, ein Eigenleben; andere stellen sich im Nachhinein als falsch heraus. Inzwischen sind Plagiatsvorwürfe zu einem Teil politischer Auseinandersetzung geworden. Relevant sind zudem die Grundsätze der Verdachtsberichterstattung. Wenige Tage vor einer Wahl sollte gar nicht mehr über Vorwürfe berichtet werden, die in der Kürze der Zeit unüberprüfbar sind. Allerdings muss man auch nicht warten, bis eine Universität entschieden hat.
Keywords: Plagiat im Journalismus; Plagiat in der Wissenschaft; Verdachtsberichterstattung; politischer Kampf; Missbrauch von Medien zu politischen Zwecken
Wenige Tage vor der Landtagswahl in Thüringen veröffentlichte ein Kommunikationswissenschaftler Vorwürfe gegen den CDU-Spitzenkandidaten. Er soll in seiner Doktorarbeit plagiiert haben. Nun sind Plagiatsvorwürfe in der öffentlichen Wahrnehmung ein Aufregerthema, sie garantieren den berichtenden Medien viele Klicks und gute Quoten. Grund ist, dass bei einer plagiierten Doktorarbeit der akademische Grad auch noch nach Jahrzehnten entzogen werden kann, während das bei einer inhaltlich schlechten Dissertation nicht der Fall ist. Mehrere Politikerinnen und Politiker sind in der Vergangenheit wegen entdeckter Plagiate zurückgetreten, zuletzt im April 2024 eine Berliner Verkehrssenatorin von der CDU (in Gang gesetzt von: Schimmel 2023). Doch bei den Vorwürfen gegen den thüringischen Politiker blieben die meisten Medien still. Ein Grund war, dass es bereits Wochen zuvor erste Vorwürfe gegeben hatte; eine Prüfungsanzeige der Universität ließ das Informationsinteresse abflachen. Ein weiterer Grund war wohl, dass die zweite Vorwurfswelle zeitlich genau platziert war: wenige Tage vor einer Wahl, von der sich der Kandidat erhoffte, erstmals das Amt des Ministerpräsidenten zu erlangen. Mit dem Veröffentlichungszeitpunkt der Vorwürfe sollte also – vielleicht – ein politisches Ereignis manipuliert werden. Der Politiker, fest eingebunden in der heißen Wahlkampfphase, hatte kaum die Möglichkeit, sich zu verteidigen. Die Abfassung der Doktorarbeit lag über 15 Jahre zurück, die dazugehörigen Unterlagen sind wohl kaum in ständiger Griffnähe. Hätten Medien über Vorwürfe, gegen die man sich kurz vor einem Wahltag nicht verteidigen kann, berichtet, wären sie zu Werkzeugen geworden. Denn die Leserinnen und Leser, die Zuschauerinnen und Zuschauer hätten nur die eine Seite erfahren können, statt das ganze Bild zu erhalten.
Erste Plagiatsvorwürfe für 2025 bereits angekündigt
Nun sind auch im Wahljahr 2025 wieder Plagiatsvorwürfe zu erwarten, darüber hinaus werden wieder Lebensläufe von Kandidatinnen und Kandidaten geprüft und deren auch nicht-wissenschaftliche Publikationen begutachtet. Bei der Bundestagswahl 2021 waren Annalena Baerbock die Unklarheiten in ihrem Lebenslauf zum Verhängnis geworden. Eine Skandalisierungswelle brach über sie herein. Nicht ganz zu Unrecht: Wer Kanzlerin werden will, muss supersauber sein. Doch bei Baerbock vermischten sich zutreffende Beanstandungen mit frauenfeindlichen Motiven und Grünenhass. Diese Wirkungen der Berichterstattung können seriöse Journalistinnen und Journalisten nicht steuern, aber durch solide Information und passende Einordnung kann der ›Weiterdreh‹ zu Fake News schwerer gemacht werden. Der eingangs erwähnte Kommunikationswissenschaftler hat inzwischen neue Entdeckungen über Robert Habeck angekündigt. Im Overton-Magazin (2024) wurde er interviewt unter dem Titel »Kommt nach der ›Plagiatsjagd‹ die Plagiatsforschung? Oder nur die Verbannung der Jäger?«. Darin heißt es: »2025 kommt wieder ein großer Fall eines bundesdeutschen Spitzenpolitikers. Ich will den Prototypen meiner neuartigen intrinsischen und textkorpus-orientierten Plagiatssoftware endlich herzeigbar machen.« Auf die Frage »Wer der Politiker ist, wollen Sie noch nicht sagen?« folgt die Antwort: »Doch, gerne. Es handelt sich um Robert Habeck, aber vor allem ganz massiv um seine Frau und langjährige Ko-Autorin.« Hier ist also der nächste Skandal bereits angekündigt. Vermutlich liegt dem Experten zum Zeitpunkt des Interviews, im September 2024, bereits Material vor. Veröffentlichen will er dies aber erst 2025, dem Jahr der Bundestagswahl. Habeck wird dann im Wahlkampf sein.
Was für Journalistinnen und Journalisten wichtig ist
Spielen wir diesen Fall einmal durch und nehmen an: Zehn Tage vor der Bundestagswahl werden die Vorwürfe gegen das Ehepaar Habeck lanciert. Für Journalistinnen und Journalisten spielen dann drei Fragen eine Rolle: 1. Sind die Vorwürfe gegen ihn (und/oder seine Frau) berechtigt? 2. Unabhängig von der ersten Frage: Ist über die Vorwürfe zu berichten? 3. Wann ist darüber zu berichten?
Diese drei Fragen will ich im Folgenden beantworten.
Sind Plagiatsvorwürfe berechtigt?
Obwohl Plagiatsvorwürfe seit vielen Jahren eine wichtige Rolle in der politischen Berichterstattung einnehmen – im Jahr 2011 trat der damalige CSU-Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg wegen Plagiaten in seiner Doktorarbeit zurück –, ist das Wissen über dahinterliegende Beurteilungen und Prozesse bei journalistisch Tätigen nur schwach ausgeprägt. Eine Lappalie mag es darstellen, dass regelmäßig, fälschlicherweise, von »Doktortitel« gesprochen wird, obwohl es sich nicht um einen Titel, sondern einen akademischen Grad handelt. Deutlich dramatischer ist indes das vor allem bei Boulevardmedien zu beobachtende fehlende Vermögen, die Vorwürfe zu verstehen und einzuordnen.
Zu betrachten ist zunächst der objektive Tatbestand eines Plagiats. Dieser liegt bereits vor, wenn auch nur eine einzige ungekennzeichnete Übernahme gegeben ist. In einer wissenschaftlichen Arbeit ist alles mit einer Quelle zu kennzeichnen, was anderswo hergeholt wurde, und zwar komplett. Nicht zulässig ist das Setzen einer Fußnote am Satzende, wenn im Satz danach noch weiter zitiert wird. Denn für die Leserinnen und Leser ist nicht ersichtlich, dass die Fremdautorin oder der Fremdautor auch für diesen Gedanken noch verantwortlich ist. Nicht zu kennzeichnen sind lediglich allgemeingültige Tatsachen (»Wasser ist schwerer als Luft«, »das Tanztheater von Pina Bausch befindet sich in Wuppertal«, »das Grundgesetz wurde am 8. Mai 1949 beschlossen«) sowie eigene Schlussfolgerungen, Thesen und Forderungen. In der Regel sind Plagiatsanzeigen auf der Ebene des objektiven Tatbestands akkurat. Allerdings müsste man sich als Journalistin oder Journalist, zur gewissenhaften Überprüfung, die Doktorarbeit auch selbst ansehen. Viele dieser Arbeiten sind online im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek verfügbar; sind sie es nicht, ist an eine Fernleihe zu denken. Diese dauert indes mehrere Wochen. Hier gibt es noch ein Folgeproblem: Universitäten bewerten die eingereichte Arbeiten. Diese können sich inhaltlich von den später veröffentlichten Büchern unterscheiden. In Büchern finden sich womöglich Sätze, die in der Ursprungsarbeit nicht enthalten sind; etwa, weil der Doktorandin oder dem Doktoranden aufgegeben wurde, vor Drucklegung noch etwas zu ergänzen. Auch Dankesworte zu Beginn eines Buches sind nicht Teil der eigentlichen Doktorarbeit und daher nicht plagiatsfähig. Trotzdem wurden dem thüringischen CDU-Politiker vier Plagiate im Dankeswort vorgeworfen. Das ist Unsinn.
Tipp: Lassen Sie sich bei Plagiatsvorwürfen nicht nur die Konkordanz der Beanstandungen zusenden, sondern auch eine Kopie der Doktorarbeit. Plagiatsprüfer haben diese in der Regel elektronisch vorliegen. Ist eine Übersendung urheberrechtlich zu problematisch, verlangen Sie zumindest jene Passagen im Volltext, in denen Plagiate enthalten sein sollen. Fragen Sie nach, ob es sich um die Originaldoktorarbeit handelt oder um eine später entstandene Veröffentlichung. Letztere kann inhaltlich von der Prüfungsarbeit abweichen. Das müssen Sie in der Berichterstattung deutlich machen. Die Originaldoktorarbeit findet sich meist nur in der Universität, in der die Doktoratsprüfung stattfand, dort in der Bibliothek oder im Archiv.
Um Nachlässigkeit aufgrund von Flüchtigkeitsfehlern auszuschließen, folgt sodann die Prüfung des subjektiven Tatbestands. Das ist der Vorsatz. Die Autorin oder der Autor der Doktorarbeit muss willentlich und wissentlich plagiiert haben. Um das sicher festzustellen, bringt es nichts, die Person zu fragen. Jede/r würde Vorsatz verneinen. Deshalb wird Vorsatz von den prüfenden Universitäten und von den letztendlich entscheidenden Gerichten bei einer gewissen Anzahl von ungekennzeichneten Übernahmen angenommen. Leider gibt es keine schematische Lösung, keine Grenze (»mehr als zehn Plagiate ist Vorsatz«). Geht es um die Frage, ob ein Doktorgrad entzogen wird, wenden die Verwaltungsgerichte folgendes Kriterium an: Es müssen Plagiate eine Arbeit quantitativ, qualitativ oder in beiden Dimensionen gemeinsam prägen. Dies sei der Fall, wenn die Plagiatsstellen im Gesamtumfang der Arbeit überhandnehmen. Plagiate »prägen die Arbeit qualitativ, wenn die restliche Dissertation den inhaltlichen Anforderungen an eine beachtliche wissenschaftliche Leistung nicht genügt«. Nun ist mit dieser Formel im journalistischen Alltag auch nicht viel geholfen. Denn jeder Fall ist anders. Daher sollte bei der Frage, ob Vorsatz vorliegt, eine Expertin bzw. ein Experte zu Plagiaten befragt werden. Solche Expert(inn)en findet man, wenn man sich ansieht, wer sich früher bereits einmal zu Plagiaten in den Medien geäußert hat. Die Expertinnen und Experten, die bei der Wissenschaftsplattform »VroniPlag Wiki« mitwirken, sind eine gute Anlaufstelle (Prof. Debora Weber-Wulff, Prof. Gerhard Dannemann, Prof. Roland Schimmel). Achtung: Dies ist nicht zu verwechseln mit dem kommerziellen Angebot »vroniplag.de« (vgl. Zenthöfer 2022: 416).
Tipp: Wenn Sie in Betracht ziehen, dass die Vorwürfe lediglich Lappalien betreffen oder Flüchtigkeitsfehler beschreiben, fragen Sie eine Expertin oder einen Experten! Im besten Falle wählt man dafür jemanden, der bei »VroniPlag Wiki« mitwirkt (»VroniPlag« mit »Wiki«; dagegen ist vroniplag.de das kommerzielle Angebot eines Kaufmanns). »VroniPlag Wiki«-Mitwirkende geben entweder offen eine Einschätzung und lassen sich damit zitieren oder helfen Ihnen im Hintergrund bei der Einordnung.
Wenn Vorwürfe objektiv begründet sind und subjektiv in einer Quantität oder Qualität vorliegen, dass Vorsatz gegeben ist, handelt es sich um Plagiate. Das bedeutet indes noch nicht, dass eine Universität den Doktorgrad wegen »Verstoß gegen die Grundsätze guter wissenschaftlicher Praxis« entziehen wird. Zum einen können die Universitäten eigenen Regelungen folgen, die möglicherweise weitere Tatbestandsvoraussetzungen kennen, etwa einen zugleich zwingenden Verstoß gegen das Urheberrecht. An der LMU München bestand sogar zeitweilig eine Verjährungsregelung, nach der der Entzug von Doktorgraden nach fünf Jahren unmöglich war. Zum anderen haben die Hochschulen in jedem Fall auch einen Ermessensspielraum. Sie können überlegen, was der Entzug des Grades für die betroffene Person beruflich bedeuten würde. Wird etwa einem Professor der Doktorgrad entzogen, entfällt in manchen Bundesländern (wie Berlin) zugleich die Lehrbefugnis, was ein Ende des Beamtenverhältnisses bedeuten kann. Das hat auch massive sozialversicherungsrechtliche Folgen. Für die journalistische Berichterstattung ist trotz alledem nebensächlich, wie die Universität den Fall sieht. Denn über Plagiatsvorwürfe darf berichtet werden, auch wenn noch kein Prüfverfahren an einer akademischen Institution stattgefunden hat. Genauso dürfen Plagiatsvorwürfe in Sachbuchrezensionen geäußert werden.
Tipp: Plagiatstäter und Plagiatstäterinnen verweisen gerne auf Hochschulen, die bereits alles prüfen würden. Das ist zwar richtig, aber solche Prüfungen können, zumal mit den anschließenden verwaltungsgerichtlichen Verfahren, Jahre dauern. Solange muss sich keine Redaktion gedulden. Berichtet werden darf bereits, wenn ersichtlich der Verdacht vorliegt, und valide ist, dass vorsätzlich plagiiert wurde.
Manche Plagiatstäter und -täterinnen verweisen darauf, dass die »Unschuldsvermutung« gelte. Obwohl es diese Phrase inzwischen in manche universitäre Ordnungen zur guten wissenschaftlichen Praxis geschafft hat, ist sie Nonsens. Genauso wenig wie jemand unschuldig des Plagiats sein kann, ist jemand deswegen schuldig. »Schuld« ist ein Fachbegriff aus dem Strafrecht und Disziplinarrecht (für Beamtinnen und Beamte) und moralisiert ohne Not.
Tipp: Sprechen Sie in Ihrer Berichterstattung besser nicht von »Unschuldsvermutung«.
Ist über die Vorwürfe zu berichten?
Liegen Plagiatsvorwürfe vor, darf über sie nicht einfach so berichtet werden, selbst wenn sie nach kursorischer Durchsicht valide erscheinen. Es gelten die Grundsätze der Verdachtsberichterstattung. Zunächst muss also ein Informationsinteresse der Öffentlichkeit bestehen, und dies bezüglich Tat und Identität der Person. Bei jemandem aus der Politik ist das zu bejahen, bei der Ehefrau von Robert Habeck aber nicht. Ob über die Ehefrau eines Kanzlerkandidaten berichtet werden darf, hängt letztendlich von einer Abwägung zwischen dem Berichterstattungsinteresse und dem Persönlichkeitsrecht der betroffenen Person ab. Bei der Frau von Robert Habeck überwiegt das Persönlichkeitsrecht: Sie ist nicht in der Politik aktiv, hält sich vielmehr zurück und wird von Habeck auch nicht für seine Außenwahrnehmung eingesetzt (er muss seine Frau indes auch nicht verstecken). Dass sie Schriftstellerin ist, führt nicht automatisch dazu, dass es ein Informationsinteresse gibt. Denn die Doktorarbeit spielt keine Rolle, wenn jemand Romane schreibt. Allein die Eigenschaft als Ehefrau eines Politikers ist nicht ausreichend, um bei einer Person das Berichterstattungsinteresse zu belegen. Etwas anderes mag nur bei gemeinsamen Texten gelten. Dann müssen aber genau hierin Plagiate zu finden sein.
Liegt allerdings ein Berichterstattungsinteresse vor, muss ein Mindestbestand an Beweistatsachen gegeben sein. Dies ist zu bejahen, wenn die Plagiatsvorwürfe nachvollziehbar sind und gegengeprüft wurden, entweder von der Redaktion selbst oder durch eine Expertin oder einen Experten. Sodann muss der/die Betroffene die Gelegenheit zur Stellungnahme bekommen. Diese Frist muss fair bemessen sein. Wenige Stunden reichen jedenfalls nicht aus. Selbst bei Prominenten ist hier von mindestens 48 Stunden (eher länger) nach Zugang der Anfrage auszugehen, weil Plagiatsvorwürfe komplex sind und oft Geschehnisse in lange zurückliegender Vergangenheit betreffen. Wird vom Betroffenen eine längere Frist erbeten, ist diese zu gewähren, wenn es sich um Stunden oder wenige Tage handelt. Das Wochenende, ab Freitagabend, fällt aus der Fristberechnung heraus. Von einer Berichterstattung in den letzten Tagen vor einer Wahl ist ganz abzusehen, weil die Gefahr zu groß ist, dass die Öffentlichkeit die Vorwürfe nicht mehr selbst prüfen und der Betroffene nicht mehr gewissenhaft widersprechen kann. Zuletzt ist bei einer Verdachtsberichterstattung auf jeden Fall zu sichern, dass wahrheitsgemäß berichtet und der oder die Betroffene nicht vorverurteilt wird.
Bei den Vorhaltungen gegen den thüringischen CDU-Politiker stellte sich dann nach der Wahl heraus, dass mindestens einige Vorwürfe nicht so eindeutig waren. Erkennen ließ sich das aber erst nach intensiverer Prüfung. Beispielsweise wurde die Zitierung eines Buches in einer speziellen Weise kritisiert. In der Tat war diese Zitation falsch. Doch hunderte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler hatten dies in den vergangenen Jahrzehnten genauso gemacht, sogar an Ivy League-Universitäten. Solche Details kann eine Redaktion natürlich nicht auf die Schnelle erkennen, ebenso wenig werden sie dem oder der Betroffenen 15 Jahre nach der Promotion noch sofort auffallen.
Tipp: Teilt die Universität mit, sie werde aufgrund der Vorwürfe »ein Verfahren eröffnen«, sagt das erst einmal nichts aus. Denn die Universität ist dazu verpflichtet. Die Eröffnung eines Verfahrens, konkret die Entgegennahme eines Briefes oder einer E-Mail, ist eine Eingangsbestätigung und keine amtliche Auskunft, die eine Eigenrecherche abdingbar macht. Anders ist das, wenn eine Universität inhaltlich zu den Vorwürfen Stellung nimmt (das ist allerdings nicht zu erwarten, bevor die Prüfung angeschlossen ist).
Wann ist darüber zu berichten?
In den letzten zehn Tagen vor einer Wahl sollte über Plagiatsvorwürfe gegen eine Kandidatin oder einen Kandidaten nur sehr vorsichtig berichtet werden, es sei denn, der/die Betroffene äußert sich umfänglich und inhaltlich dazu. Die Zurückweisung des Vorwurfs und der Verweis auf universitäre Prüfung ist keine inhaltliche Äußerung, die dann zur Berichterstattung berechtigt. Zu groß ist bei Plagiatsvorwürfen die Gefahr, dass diese »in der Schublade« aufbewahrt, um zu einem gewissen Zeitpunkt über die Medien »gespielt« zu werden. Damit werden Medien zu Verstärkern einer politischen Kampagne. Bei Plagiaten sollte es um die Grundsätze guter wissenschaftlicher Praxis gehen, mithin um Wissenschaft. Solche wissenschaftlichen Themen benötigen eine wissenschaftliche Analyse und damit Zeit. Wer sich verteidigen möchte und muss, braucht also Zeit. In der Endphase eines Wahlkampfes ist solche Zeit nicht gegeben. Es herrscht dann eine Asymmetrie: Derjenige, der die Vorwürfe äußert, hat ein Skandalisierungsinteresse und immer den Überraschungsmoment sowie den Vorbereitungsvorteil. Das gilt auch dann, wenn an den Vorwürfen nichts oder kaum etwas dran ist. Die Medien müssen Symmetrie herstellen, gegebenenfalls, indem sie erst nach Wahlen berichten. Selbst seriöse Expertinnen und Experten werden auch nicht innerhalb weniger Stunden eine fundierte Stellungnahme abgeben können.
Über den Autor
Jochen Zenthöfer, Dr. (*1977) berichtet seit 15 Jahren in luxemburgischen und deutschen Medien über Plagiate in Wissenschaft und Journalismus, vor allem in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Er ist Jurist und lebt in Luxemburg. Kontakt: zenthoefer@pt.lu
Literatur
Overton Magazin (2024): Kommt nach der »Plagiatsjagd« die Plagiatsforschung? Oder nur die Verbannung der Jäger? https://overton-magazin.de/top-story/kommt-nach-der-plagiatsjagd-die-plagiatsforschung-oder-nur-die-verbannung-der-jaeger/ (24.9.2024)
Schimmel, Roland (2023): Deutschland, Deine Dissertationen. In: beck aktuell, 3. August 2023. https://rsw.beck.de/aktuell/daily/magazin/detail/deutschland–deine-dissertationen
Zenthöfer, Jochen (2022): Wissenschaftsplagiate aus Sicht eines Journalisten. In: Soziologie, 51(2), 2022, S. 408-418.
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Zitationsvorschlag
Jochen Zenthöfer: Plagiatsvorwürfe im Wahlkampf: Wie berichtet man über einen Verdacht?. Handreichung für Redaktionen bei Funden sogenannter Plagiatsjäger und Plagiatsjägerinnen. In: Journalistik. Zeitschrift für Journalismusforschung, 3/4, 2024, 7. Jg., S. 297-304. DOI: 10.1453/2569-152X-3/42024-14630-de
ISSN
2569-152X
DOI
https://doi.org/10.1453/2569-152X-3/42024-14630-de
Erste Online-Veröffentlichung
November 2024
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