Editorial

Liebe Leserinnen und Leser,

bei Bundesligaspielen besteht das bundesdeutsche Publikum aus 82 Millionen Schiedsrichtern. In der Pandemie sind daraus 82 Millionen Virologen geworden. Und manchmal scheint es, vor allem, wenn man in den sozialen Netzwerken unterwegs ist, dass es gelegentlich zu 82 Millionen Medienkritikern mutiert.

Dabei gerät die professionelle Medienkritik naturgemäß etwas in den Hintergrund. Es fällt auf, dass populärwissenschaftliche Literatur rund um das Thema Medienkritik äußerst erfolgreich ist. Titel wie Zombie-Journalismus oder Die Propaganda-Matrix finden ein breites Publikum. Siegfried Weischenberg hat dafür in seinem Aufsatz »Wie groß ist das ›Elend der Medien‹?« für diese Ausgabe der Journalistik den Begriff der Alternativen Medienkritik (AMK) geprägt. Er dekonstruiert die »Säulenheiligen« der alternativen Medienkritik von Noam Chomsky bis Walter Lippmann und wünscht sich beim »ambitionierten Frame Apocalypse now« etwas »sprachliche Abrüstung«.

Wer die Lage des Journalismus analysieren und kritisieren möchte, kommt an Fragen der ökonomischen Rahmenbedingungen nicht vorbei. Die Frage nach der ökonomischen Situation hat Jana Rick bei ihrer Untersuchung von Seniorinnen und Senioren im Journalismus in den Fokus genommen. Sie stellt die Frage nach den Bedingungen, unter denen freie Journalistinnen und Journalisten arbeiten, die im Seniorenalter sind. Denn das hat ihre Studie ergeben: Diese Gruppe verfügt oft über viel journalistische Erfahrung und Professionalität.

Jana Rick geht den Fragen nach: Brauchen die Seniorinnen und Senioren das Zubrot zur Rente? Oder lieben sie einfach ihren Beruf so sehr, dass sie weitermachen? Und was bedeutet das für die Themen, über die sie schreiben? Die letzte Frage kann und will der Beitrag von Jana Rick nicht beantworten, sie wäre aber eine interessante Forschungsfrage. Denn es ist davon auszugehen, dass die erfahrenen Journalistinnen und Journalisten generationentypische Einstellungen und Haltungen zum Berufsbild mitbringen. Deshalb wäre interessant zu wissen, welche Kritik sie an der gegenwärtigen Lage des Journalismus üben. Um einen sperrigen und »sich als Querschläger gerierenden« Publizisten geht es Stephen Thomson in seinem Beitrag »Mikrofon und Federkiel« über Norman Mailer als Journalisten. Der US-amerikanische Autor ist dem heutigen Publikum nicht mehr so präsent wie in den 1960er- und 1970er-Jahren, als seine Werke wie etwa der Kriegsroman Die Nackten und die Toten Bestseller waren. Wenig bekannt ist die Tatsache, dass Norman Mailer sein ganzes Leben als Journalist gearbeitet hat, und auch hier als eigenwilliger Autor aufgefallen ist.

Stephen Thomson zeigt auf, wie Norman Mailer die Grenzen zwischen Reportage und Roman, zwischen nonfiktionalem und fiktionalen Schreiben, systematisch überschreitet. Dabei zeichnet Thomson den Weg des »New Journalism« und seiner Grundsätze nach und analysiert insbesondere Mailers Beitrag über John F. Kennedy, »Superman comes to the Supermarket«.

Thomson würdigt den exzentrischen Publizisten und wünscht sich auch für die Gegenwart eine solche polarisierende Figur wie Norman Mailer, »die Einspruch duldet, ja, diesen sogar einfordert, im gegenwärtigen Klima, in der jeder und jede im uferlosen Raum des Internets ihre Ansichten kundtun, gleichzeitig aber selbst komplementären Meinungen gegenüber nicht aufnahmefähig zu sein scheinen.« Polarisieren und dabei komplementäre Meinungen aufnehmen – wäre das nicht eine hilfreiche Forderung in den Auseinandersetzungen um professionelle wie »alternative« Medienkritik?

Ebenfalls mit einem medienkritischen Autoren des 20. Jahrhunderts beschäftige ich mich in meinem Essay über Ernest Callenbachs Ökotopia-Roman aus dem Jahr 1975 mit dem Titel »Lasst uns über Utopien sprechen«. Ernest Callenbach, hauptberuflich Redakteur der renommierten Zeitschrift Film Quarterly, lässt seinen Helden, den US-amerikanischen Journalisten William Weston, im Jahr 1999 in das Land Ökotopia reisen. Er berichtet regelmäßig für die Times-Post; gleichzeitig schreibt Weston Tagebuch. Aus der zunehmenden Diskrepanz zwischen den Reportagen für die Times-Post und den eigenen Tagebuchaufzeichnungen Westons lässt sich auf mehreren Ebenen Kritik am US-amerikanischen Mediensystem und dem amerikanischen Journalismus der 1970er-Jahre ablesen.

Mich interessierte zusätzlich zur Vision einer Öko-Fiction aus den Siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts die Frage der Rezeption bei heutigen Studierenden. Und ich hatte meine Freude daran, dass Callenbachs Medienkritik auch heute vor dem Hintergrund des Klimawandels und seiner medialen Repräsentation verstanden und aufgenommen wird.

Wiederum um ökonomische Rahmenbedingungen und ihre Auswirkungen auf den Journalismus geht es Mandy Tröger in ihrem Debattenbeitrag »Journalismus in Zeiten des Tech-Sponsoring?« Sie hat sich die Motive näher angesehen, mit denen Konzerne wie Google oder Facebook als Sponsoren des digitalen Journalismus auftreten.

Sind das wirklich nur hehre Bemühungen um die Verbesserung des Qualitätsjournalismus‘? Mandy Tröger kommt zu dem Schluss: »Das übergeordnete Ziel dieser weitgestreuten Maßnahmen ist, ganze Informationslandschaften im Sinne der Konzerninteressen zu beeinflussen«. Sie fordert ein, dass Abhängigkeitsverhältnisse in globalen Zusammenhängen erklärt werden müssen.

Medienkritik erreicht auf vielen Wegen ihr Publikum; diese Zeitschrift ist einer davon. Gerade wegen der Bedeutung des Themas bleibt für mich die Frage offen, warum die professionelle Medienkritik aus Medien- und Kommunikationswissenschaften für ein breiteres Publikum wenig sichtbar ist.

Warum ist die »alternative Medienkritik« so erfolgreich? Warum gibt es nur wenige Beispiele von publikumswirksamen Wortmeldungen aus der Wissenschaft wie Uwe Krügers Buch über die Mainstream-Medien oder die mediale Präsenz von Bernhard Pörksen? Warum findet die sichtbarste Medienkritik in satirischen Formaten wie Die Anstalt oder Jan Böhmermanns ZDF-Magazin Royale statt? Vielleicht könnte die professionelle Medienkritik einiges von der »alternativen« Medienkritik lernen. Vielleicht könnte sie ein wenig leichtfüßiger, witziger und unterhaltsamer werden.

Wenn Sie sich am wissenschaftlichen Mediendiskurs in der »Journalistik« beteiligen möchten, schicken Sie Ihre Themenvorschläge gern an redaktion@journalistik.online!

Auf ertragreiche Debatten freut sich

Gabriele Hooffacker