Mikrofon und Federkiel Ab den 1960er-Jahren rückte der New-Journalism-Exponent Norman Mailer der Reportage mit literarischen Mitteln zu Leibe

von Steven Thomsen

Abstract: Das Werk von Norman Mailer (1923-2007) ist im deutschsprachigen Raum bei Weitem nicht mehr so verbreitet wie in den Sechziger- und Siebzigerjahren. Von denjenigen, die seine Romane heute noch rezipieren oder neu für sich entdecken, dürften die wenigsten wissen, dass der US-Amerikaner beinahe seine gesamte Karriere über auch als Journalist gewirkt hat. Dabei ist das, was der sich stets als Querschläger im literarischen Establishment gerierende Vielschreiber gerade auf diesem Gebiet geleistet hat, nicht nur von außerordentlichem zeithistorischen Wert: In seinen dem New Journalism zuzuordnenden Texten hat der unabhängige Denker auch ein ums andere Mal gezeigt, wie sich Reportagen in perzeptible Räume verwandeln lassen, die die Leser*innen betreten, in denen sie sich frei bewegen und umtun können und in denen ihnen lebendige Menschen begegnen. Der seinem Heimatland in Hassliebe verbundene Intellektuelle war ein Meister darin, journalistische Texte mit literarischen Mitteln zu vitalisieren. Der Artikel exemplifiziert an dem berühmten Parteitagsbericht »Superman Comes to the Supermarket«, wie Mailer die Grenzen der traditionellen Reportage überschritten und neu definiert hat. Zudem zeigt er, warum ein streitbarer Meinungsmacher wie Norman Mailer in der heutigen Medienlandschaft nicht mehr erwünscht, gleichzeitig aber umso notwendiger ist.

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Die größte Errungenschaft von Literatur ist es, Abbilder von uns selbst zu schaffen, die wir, die Rezipienten und Rezipientinnen, als wahrhafte Menschen zu erkennen vermögen. Die Illusion der Begegnung mit einem in Buchstaben codierten Menschen ist bereits den Tragödiendichtern der Antike geglückt. Auch wenn Antigone, Ödipus, Iphigenie und alle späteren Theaterfiguren als Rollen vor uns treten, sind hinter diesen für uns doch die Menschen auszumachen, als die sie erdacht worden sind und die sie zu sein vorgeben: weil wir ihr Verhalten, so irrational und fern von unserer Lebenswirklichkeit es auch oft erscheinen mag, als für unsere Art typisch erkennen. Das zeitgenössische Publikum hat vor sich Figuren gesehen, die den Unbilden des Schicksals ausgesetzt sind, die lieben, leiden, streiten, hassen, töten. Die das tun, erfahren und erdulden, was das Menschsein ausmacht. Allzu menschlich ist es auch schon drei Jahrhunderte vor Aischylos, Sophokles und Euripides beim Mimus, dem derben Volkstheater in Griechenland, zugegangen.

Menschwerdung in der Epik

Schwerer als den Dramatikern, die ihre Figuren beständig von sich selbst und ihrem Los reden lassen, die sie auf einer Theaterbühne direkt vor den Augen eines Publikums ausstellen und so deren Lebendigkeit sinnlich bezeugen, ist es den Schöpfern von Prosadichtungen gefallen, literarische Techniken zu ersinnen, die den Figuren ihrer Fantasie Leben einhauchen und sie als menschliche Wesen erscheinen lassen. Langsam, über Jahrhunderte, entwickelten sie Wege der Darstellung, mit denen sie ihre Charaktere immer plastischer ausformten. Zunächst tasteten sie ihre Figuren ab und beschrieben so deren Merkmale, Wirken, Fährnisse. Dann ließen sie sie sprechen: Durch ihre Mitteilungen gegenüber anderen Figuren erfuhr die Leserschaft im besten Falle noch mehr über ihr Wesen. Im letzten Schritt offenbarte der Autor auf unmittelbare Weise die Innenwelt seiner von ihm geschaffenen Personen: durch die Form der Perspektive (auktorialer Erzähler, Ich-Erzähler) sowie durch erzähltechnische Mittel (innerer Monolog, Tagebucheintragungen und ähnliches).

Dieser Prozess der Menschwerdung in der Literatur ging ähnlich gemächlich, bisweilen zäh, vonstatten, wie es in der bildenden Kunst der Fall war, wo sich eine getreue Nachahmung unserer selbst sogar erst innerhalb von Jahrtausenden herausbildete: von den unverrückbaren schematischen Darstellungen der Ägypter über die Entdeckung der perspektivischen Verkürzung durch die Griechen, über die entrückte Darstellung der Heiligenfiguren und den Ausdruck des Gefühls in der Kunst des Mittelalters bis zur endgültigen Vermenschlichung und Individualisierung durch Meister wie Dürer, Raffael, Tizian, Correggio oder Caravaggio.

Die Notwendigkeit, einen solchen magischen Funken zu entzünden, blieb denn auch lange Zeit auf den künstlerischen Bereich beschränkt und weitete sich zunächst nicht auf das sich seit dem Ende des 18. Jahrhunderts entwickelnde moderne Pressewesen aus. Journalist*innen bedurften einer solchen schöpferischen Finesse nicht, waren diese überzeugt. Immerhin befassten sie sich in ihren Nachrichten, Artikeln und Kolumnen ohnehin ausschließlich mit realen Personen; sie mussten also erst gar nicht den Beweis antreten, dass diejenigen, über die sie schrieben, echte Menschen vorgeben sollten – sie waren es einfach.

Das vitale Element in der Reportage

Wohl aber sahen die Zeitungsmacher mit dem Aufkommen von Reportagen und Reiseberichten, dass ein lebendigerer Schreibstil und eine flexiblere Form nottaten, um Leserinnen und Leser immer längerer Texte bei der Stange zu halten. »Der besondere Reiz der Reiseerzählung«, so schreibt Michael Haller in seinem Standardlehrwerk zur Reportage, »lag in der freien Gestaltung des Themas: Der Reporter entscheidet, wann er sich wo aufhalten möchte, um Begebenheiten und Eindrücke aufzunehmen. Er organisiert seine Reise und inszeniert sein Thema, das darum nie ganz festgelegt, sondern bis zum letzten Tag für Veränderungen offen ist« (Haller 2020: 32).

Die Menschen, über die es zu berichten galt, mussten auch als solche in den Beiträgen erkennbar sein, das bloße Wissen um ihre reale Existenz langte nicht mehr hin. Lebendigkeit war alleine dadurch, dass man Herrn X oder Frau Y im Artikel zitierte, dass man wiedergab, was er beziehungsweise sie im Einzelfall getan hatte, nicht zu erreichen. Journalist*innen standen plötzlich vor demselben Dilemma wie Jahrhunderte zuvor die Schöpfer von Epen und Novellen, deren Grundlagenforschung bei der Entwicklung von Techniken zur Vermenschlichung beziehungsweise Verlebendigung ihrer Gestalten schließlich von Romanautor*innen übernommen, verfeinert und ergänzt wurde.

In den Redaktionen US-amerikanischer Zeitungen und Zeitschriften herrschte bis in die 1950er-Jahre das Bewusstsein vor, dass Journalisten und Reporter und ihre zu dem Zeitpunkt noch wenigen Kolleginnen in ihrer Berichterstattung unbedingt und ausschließlich eine objektive Haltung einzunehmen und dass sie selbst mit ihren persönlichen Einschätzungen zu dem jeweiligen Sachverhalt unsichtbar zu sein haben. Tatsächlich kam der Anstoß zu einem Sinneswandel in dieser elementaren Frage denn auch nicht von innen heraus, aus den Redaktionsstuben, sondern von den Literaten, die sich nicht selten auch als Textzulieferer von Publikationen wie New York Tribune, Collier’s Weekly oder Harper’s Magazine verdingten. Leute wie Mark Twain, Jack London, Ernest Hemingway oder Richard Wright brachten als Mitgift in die Partnerschaft mit dem Medium Zeitung ihre literarischen Fertigkeiten in der authentischen, szenischen Darstellung von Menschen ein.

Gleichzeitig führte die abrupte Steigerung des Wissenspotenzials innerhalb der US-Bevölkerung seit Ende des Zweiten Weltkriegs, das John Hollowell, Autor einer der kenntnisreichsten Monografien zum New Journalism wie zu dessen großer Schwester, der Nonfiction Novel, als »knowledge explosion« (Hollowell 1977: 24) bezeichnet, dazu, dass das Lesepublikum bei Zeitungen- und Zeitschriftenartikeln nach tiefer gehenden Darstellungen in der Berichterstattung dürstete; nach mehr Hintergrundinformationen, nach schärferen Interpretationen und Analysen sowie nach psychologischer Auslotung der beschriebenen Personen (vgl. Hollowell 1977: 24).

Paradigmenwechsel durch den New Journalism

Es sollte aber bis zu den frühen 1960er-Jahren dauern, bis zum Erscheinen des New Journalism, das Tom Wolfe, einer der profiliertesten Vertreter dieser durchaus heterogenen Strömung, mit dem Einfall der Hunnen in Europa verglich (vgl. Wolfe/Johnson 1973: 3), dass es in den Vereinigten Staaten zu einem Paradigmenwechsel hinsichtlich dessen kam, was in Fragen der Perspektive, der Gewichtung, der Form und nicht zuletzt des Entertainments in der journalistischen Berichterstattung statthaft sei. Die Vertreter dieser neuen Strömung, zu der nicht nur, aber gerade auch Schriftsteller und Schriftstellerinnen zählten, trieben die Präsentation nichtfiktionaler Sachverhalte mit literarischen Stilmitteln radikal voran (dieser Know-how-Austausch geht bis heute freilich auch in umgekehrter Richtung vonstatten, so »übernehmen literarische Autoren regelmäßig Recherche- und Darstellungstechniken, die üblicherweise dem Journalismussystem zugeschrieben werden« [Eberwein 2013: 69]).

Zu der Abenteuerlust der New Journalists trug auch die sich bildende Szene von Undergroundzeitungen in den USA bei. Die Beiträge von Blättern wie Berkeley Barb, East Village Other, Los Angeles Free Press, Rolling Stone (der unter der Leitung Jann Wenners rasch selbst zu einem Musterkatalog des New Journalism wurde und diesen popularisierte) oder The Black Panther waren – zumindest anfangs – oftmals stilistisch unzulänglich geschrieben; doch ihre Verfasser*innen waren couragiert und innovativ, und sie scherten sich nicht um journalistische Standards, sondern schrieben einfach drauflos, was mitunter zu erstaunlichen Einsichten und einem frischen Blick auf die sich rasant verändernde Wirklichkeit der 1960er-Jahre führte, sei es auf gesellschaftlichem, politischem oder kulturellem Gebiet. In dieser aufgeladenen Zeit, in der alles Hergebrachte infrage gestellt wurde, stachelte der Wagemut der Quereinsteiger wiederum ihre professionellen Kollegen und Kolleginnen des New Journalism an, die der US-Autor Marc Weingarten im Titel seines 2006 erschienenen Buches über diese besonders in den 1960er/70er-Jahren prägende Spielart als »the gang that wouldn’t write straight« bezeichnet, ihrerseits weiter Neues auszuprobieren.

Die literarischen Techniken, mit denen in der Folgezeit in Artikeln des New Journalism experimentiert wurde, waren zahlreich. Zu den Elementen, die immer wieder eingesetzt wurden, zählen neben anderen die folgenden (vgl. Hollowell 1977: 26ff.):

  • Dramatic Scene: Der ungewohnt erzählerische, dramaturgische Aufbau einer nichtfiktionalen Story ist eines der Hauptmerkmale des New Journalism, wie es etwa In Cold Blood (1965), Truman Capotes berühmte Aufarbeitung eines Vierfachmordes in Kansas, Hunter S. Thompsons Reportagebuch Hell’s Angels: The Strange and Terrible Saga of the Outlaw Motorcycle Gangs (1967) oder Joe Eszterhas’ Artikel »Charlie Simpson’s Apocalypse« (1972) zeigen.
  • Recording Dialog in Full: Die bei einem Vorkommnis, über das es zu berichten gilt, notierten oder aufgezeichneten Gespräche werden im Artikel in Dialogform vollständig wiedergeben; bekannte Beispiele hierfür sind Gay Taleses in Form einer Kurzgeschichte ausgeführter Report »Joe Louis – The King as a Middle-Aged Man« (1962), Tom Wolfes Black-Panthers-Bericht »Radical Chic« (1970) oder Norman Mailers Tatsachenroman The Executioner’s Song (1979) über den Doppelmörder Gary Gilmore.
  • Status Details: Der Autor respektive die Autorin taxiert die Personen im Text: Die Wiedergabe ihres Auftretens und Gebarens, ihrer Physiognomie, ihrer Kleidung, ihrer Accessoires, ihres Sprechens und anderer Merkmale sollen dem Publikum ihren jeweiligen gesellschaftlichen Status herausstellen, so wie es etwa Mailer in seiner 1970 in dem Magazin Life veröffentlichten Apollo-11-Reportage »Of a Fire on the Moon« anhand der Begegnungen mit den Frauen der Astronauten, mit Wernher von Braun und anderen NASA-Mitarbeitern oder Schaulustigen, die dem Raketenstart beiwohnen, getan hat.
  • Point of View: Statt die Figur selbst über ihre Ansichten und Gedanken sprechen zu lassen und so ein Persönlichkeitsprofil von ihr zu erstellen, wird sie über Dritte, die dieser nahestehen, charakterisiert, in dem der Autor oder die Autorin diese über die betreffende Person erzählen lässt; das berühmteste Beispiel für diese Vorgehensweise ist Gay Taleses Reportage »Frank Sinatra has a Cold« (1966), in der der titelgebende Sänger, die Person, um die sich in dem ausladenden Text letztlich alles dreht, selbst überhaupt nicht zu Wort kommt.
  • Interior Monologue: Um der Leserschaft eine Innensicht ihrer im Text prominent aufgeführten Personen zu ermöglichen, nutzen Autorinnen und Autoren immer wieder die Technik des inneren Monologs, der einen unmittelbaren Zugang zu deren Denk- und Gefühlswelt erlaubt; eine Herangehensweise, die im traditionellen Journalismus tabu ist, einem Gay Talese 1969 für »The Kingdom and the Power«, seinem Bericht über die inneren Strukturen seiner publizistischen Wiege, The New York Times, aber gerade recht kam.
  • Composite Characterization: Mit dieser Technik aus der literarischen Praxis wird eine Figur aus den Komponenten beziehungsweise Attributen mehrerer realer Personen zusammengesetzt und ist somit selbst fiktiv; alles an dieser Kunstfigur ist wahr, alles, was sie sagt, ist so einmal gesagt worden, trifft aber insgesamt nicht auf eine einzelne Person zu; an dieses für eine journalistische Arbeit delikate Vorgehen wagte sich 1971 zum Beispiel die US-Autorin Gail Sheehy mit »Redpants and Sugarman«, dem zweiten Teil ihrer in der Zeitschrift New York erschienenen Artikelserie über Prostitution in New York City, heran.

Diese wie die im weiteren Verlauf des Textes dargestellten formalen Techniken sind im New Journalism verwendet worden, um Reportagen und Berichte wie in Bewegung gesetzte tableaux vivants erscheinen zu lassen, die von allen Seiten zu begutachten und sogar zu begehen sind. Die Journalist*innen setzten damit einen aus dem Spektrum fiktionaler Werke entlehnten und für ihre Bedürfnisse neu gefügten Rahmen, um sauber recherchierte Fakten anschaulich zu präsentieren. Keinesfalls wollten sie ihr Publikum täuschen, indem sie ihrer Fantasie in der Beschreibung oder im szenischen Aufbau freien Lauf ließen. Gay Talese etwa machte es in »Frank Sinatra has a Cold« unmissverständlich klar, dass er die Hauptfigur seines Textes nicht gesprochen hatte. Und dass Leser*innen von Gail Sheehys »Redpants and Sugarman« die dort beschriebene Person für real hielten, ist der Nachlässigkeit der New York-Redaktion zuzuschreiben: Sheehys Hinweis auf besagten Umstand war einfach nicht mit abgedruckt worden. Damals galt das, was auch heute für journalistische Beiträge unabdingbar ist: Fiktionale Einschübe müssen als solche gekennzeichnet sein.

Superman Comes to the Supermarket: JFK als existentialistischer Held

Einer der Texte, auf den sich der in seinem Repertoire eben nicht – wohl aber in der Konsequenz bei dessen Anwendung – originäre New Journalism gründet, ist »Superman Comes to the Supermarket« von Norman Mailer. Im November 1960 im US-Magazin Esquire veröffentlicht, behandelt der umfangreiche Beitrag den Parteitag der Demokratischen Partei vom Juli 1960 in Los Angeles, bei dem diese mit John F. Kennedy ihren Kandidaten für die im selben Jahr stattfindende Präsidentschaftswahl nominierte. Der siebenunddreißigjährige Schriftsteller, der zwölf Jahre zuvor als Debütant mit dem Kriegsroman »The Naked and the Dead« aus dem Stand einen Bestseller abgeliefert hatte, war bis dato in begrenztem Rahmen als politischer Kommentator, nicht aber als politischer Berichterstatter hervorgetreten. Entsprechend zögerlich war er, als ihn Esquire-Redakteur Clay Felker mit diesem Bericht beauftragte. Mailer hatte keine Erfahrung im Umgang mit Politikern und wusste zunächst nicht, wie er einen solchen Text anlegen sollte. Zusammen mit Felker flog er einige Tag vor Beginn des Parteikonvents von New York nach L.A., um ein Gefühl für die Stadt im Vorfeld dieser möglicherweise wegweisenden Delegiertenzusammenkunft zu bekommen. Als Mailer sich in die für ihn neue Szene eingewöhnt und Einblicke in die Abläufe eines solchen Nominierungsparteitages genommen hatte, formten sich in ihm die Parameter für seinen Bericht. Innerhalb von siebzehn Tagen hatte er einen Text mit dreizehntausend Wörtern beziehungsweise rund achtzigtausend Zeichen verfasst (zum Vergleich: Der Artikel, den Sie im Augenblick lesen, bringt es auf gerade mal siebentausend Wörter und knapp fünfzigtausend Zeichen).

»Superman Comes to the Supermarket« ist formal gesehen ein Zwitter aus Reportage und Essay. Zunächst zieht sich Mailer auf die Position des Berichterstatters zurück. Er lässt in Los Angeles den Blick schweifen und skizziert die Stadt am Pazifik, die er bereits in den Jahren 1949/50, als er versucht hatte, in Hollywood als Drehbuschreiber Fuß zu fassen, für sich als »the ugliest city in the whole world« (zit. nach Lennon 2013: 119) ausgemacht hatte, in den düstersten Farben, nicht zuletzt wegen der Pastelltöne der Häuser, die ihm die Monotonie der Kleinstädte des Mittleren Westens und die Leblosigkeit von Suburbia spiegeln und ihm Sinnbild für die Konformität und Oberflächlichkeit der US-Gesellschaft in den Eisenhower-Jahren sind. Das heißt, schon beim Beschreiben äußerer Begebenheiten lässt er durch Assoziationen und Analogien seine eigene Haltung mit einfließen. In der letzten Ausgabe der Journalistik hat Hans Peter Bull zutreffend geschrieben: »Wer wahrhaftig berichten will, muss versuchen, seine Vorurteile zu unterdrücken« (Bull 2021: 145). Doch Mailer ging wie andere Vertreter des New Journalism den entgegengesetzten Weg: »The new journalist’s stance is often openly critical of the powerful interests that control the dissemination of the news. By revealing his personal biases, the new journalist strives for a higher kind of ›objectivity.‹ [!] He attempts to explode the myth that any report can be objective by freely admitting his own prejudices« (Hollowell 1977: 22).

Dieser höheren Form der Objektivität versucht der Romancier Norman Mailer in seiner Funktion als Reporter in teils mäandernden Sätzen (der längste umfasst fünfhundertdrei Wörter) Genüge zu tun, indem er zunächst alles und jeden in auffallender Tristesse schildert: Los Angeles? Aseptische Vorhölle! Das von den Demokraten als Hauptquartier auserkorene Hotel Biltmore? Eine der hässlichsten Herbergen der Welt! Der angrenzende Pershing Square? Sudelareal für männliche Prostituierte und ihre nach außen heterosexuell lebenden bürgerlichen Freier! Die Delegierten? Geschmacklose Hinterwäldler! Die Nominierungskandidaten? Überaltert, energielos, verbraucht! Der amerikanische Mythos? Durch den konservativen, konformistischen, konsumorientierten Zeitgeist erstickt!

Doch da ist einer, ein Einziger, ein junger strahlender Mann, John F. Kennedy, der sich durch seine Aura von der Jeremiade der Mailerschen Wahrnehmung abhebt; so wie er sich knapp drei Monate später in der ersten Fernsehdebatte in seinem schwarzen Anzug auf den Bildschirmen der heimischen Schwarzweißapparate optisch von seinem ältlichen republikanischen Kontrahenten Richard Nixon abhebt, der sich mit seinem hellen Anzug im harmonierenden Ton der Studiowände aufzulösen scheint.

In einem Absatz von »Superman Comes to the Supermarket« heißt es:

»Since the First World War Americans have been leading a double life, and our history has moved on two rivers, one visible, the other underground; there has been the history of politics which is concrete, factual, practical and unbelievably dull if not for the consequences of the actions of some of these men; and there is a subterranean river of untapped, ferocious, lonely and romantic desires, that concentration of ecstasy and violence which is the dream life of the nation« (Mailer 1964: 38).

Norman Mailer ging es in seiner Reportage darum, eben diesen unterirdischen Fluss darzustellen, die brodelnden Kräfte des gesellschaftlichen Unbewussten. Eine Vorgehensweise, wie sie einem Psychiater, vielleicht einem Soziologen oder eben einem Künstler geziemt, nicht eigentlich aber einem Reporter, dessen Gestaltungsmaterial das sinnlich Erfahrbare ist: [The] »›events‹ Mailer chose to describe in this essay were selected by a professional novelist, not a political journalist« (Merrill 1978: 101).

Und noch etwas in der Art, wie Mailer seine Reportage angelegt hat, wäre für einen Journalisten aus dem Politikressort undenkbar. Im Artikel heißt es: »One kept advancing the argument that this campaign would be a contest of personalities, and Kennedy kept returning the discussion to politics. After a while one recognized this was an inevitable caution for him. So there would be not too much point to reconstructing the dialogue since Kennedy is hardly inarticulate about his political attitudes and there will be a library vault of text devoted to it in the newspapers.« (Mailer 1964: 46) Der Reporter Mailer weigert sich, die politischen Verlautbarungen des Kandidaten wiederzugeben. Er sieht seine Aufgabe eben nicht darin, die Vorhaben, Überzeugungen und Visionen Kennedys zu repetieren, dies könnten die Leser*innen schließlich in anderen Zeitungen erschöpfend nachlesen. Er enthält sich hier nicht etwa deshalb, weil er nichts zur politischen Agenda Kennedys zu sagen hätte, sondern weil ihm anderes während des Konvents dringlicher erscheint, was er von einer höheren Warte aus übersieht: Einerseits geht es ihm um eine umfassende Reflexion dessen, was im Land – und eben nicht nur augenblicklich in Los Angeles – vor sich geht; andererseits ist es ihm eben darum getan, einen realen Menschen abzubilden (gleichzeitig entmenschlicht er ihn wieder, indem er ihn zu einer kulturellen Ikone macht und zum existentialistischen Helden ausruft [vgl. Watts 2016: 105], zum Leitbild des Hipster, den er 1957 in seinem berühmten Essay »The White Negro« durchdekliniert hat), der sich hier nach Mailers Ansicht nicht in dem offenbart, was der Kandidat vor Ort an wahlkämpferischem Bling-Bling versprüht. Solches möge von der anwesenden Journaille doch bitteschön wiedergeben, wer wolle, so seine Botschaft, er selbst habe dazu beim besten Willen weder Zeit noch Muße. Denn er ist mit dem diffizilen Werk der Anthropogenese des buchstabencodierten John Fitzgerald Kennedy befasst, dem er mit den Mitteln des Literaten vor den Augen der Leserinnen und Leser den lebendigen Odem einbläst, was sich unter anderem wie folgt darstellt:

»His personal quality had a subtle, not quite describable intensity, a suggestion of dry pent heat perhaps, his eyes large, the pupils grey, the whites prominent, almost shocking, his most forceful feature: he had the eyes of a mountaineer. His appearance changed with his mood, strikingly so, and this made him always more interesting than what he was saying. He would seem at one moment older than his age, forty-eight or fifty, a tall, slim, sunburned professor with a pleasant weathered face, not even particularly handsome; five minutes later, talking to a press conference on his lawn, three microphones before him, a television camera turning, his appearance would have gone through a metamorphosis, he would look again like a movie star, his coloring vivid, his manner rich, his gestures strong and quick, alive with that concentration of vitality a successful actor always seems to radiate« (Mailer 1964: 47).

Mailers Aufsatz schlug hohe Wellen. Sein neuer Ansatz, einen solchen Nominierungsparteitag darzustellen, wurde ebenso anerkannt wie die Art und Weise, wie er den jungen John F. Kennedy inszeniert hatte: als messianische Figur, die dem nach strahlenden Helden dürstenden amerikanischen Volk den Glauben an den eigenen Mythos wiedergibt; eine Figur zudem, die fähig ist, die Verkrustungen der lähmenden McCarthy-Ära und der Eisenhowerjahre abzusprengen. Mailer war im Sommer 1960 keineswegs von der politischen Agenda Kennedys überzeugt, die er, der ehemalige Sozialist, als zu konventionell ansah, »[s]o I swallowed my doubts, my disquiets, and my certain distastes for Kennedy’s dullness of mind and prefabricated politics, and did my best to write a piece which would help him to get elected« (Mailer 1964: 27).

Der Autor selbst sah seinen Artikel, der einige Wochen vor der Präsidentschaftswahl in Esquire veröffentlicht worden war, tatsächlich als Zünglein an der Waage für den überraschenden Triumph Kennedys an. Er habe dem jungen Senator für den Bundesstaat Massachusetts indirekt die Wahl gewonnen, denn »I had done something curious but indispensable for the campaign – succeeded in making it dramatic. I had not shifted one hundred thousand votes directly, I had not. But a million people might have read my piece and some of them talked to other people« (Mailer 1964: 88f.).

Tatsache ist, dass man in politischen Kreisen auf Mailer aufmerksam wurde, und dieser sah seinen Artikel denn auch als Entree auf das politische Parkett. Nach dem knappen Sieg Kennedys erhoffte er sich einen Beraterposten in dessen Stab. Mailer glaubte sich in der Nachfolge eines Walter Lippmann, des einflussreichen politischen Kolumnisten und Autors, Magazinherausgebers und Beraters der Präsidenten Wilson, Kennedy und Johnson. Norman Mailer indes spielte keine Rolle in der sich formierenden Kennedyadministration. Daraufhin drängte es ihn, selbst ein politisches Amt zu bekleiden, und zwar das des Bürgermeisters von New York. Im November 1960 wollte er bekanntgeben, für die im Jahr darauf stattfindende Wahl zu kandidieren.

Kein Platz am Kabinettstisch

Nun war es allerdings so, dass sich der Schriftsteller Norman Mailer seit einigen Jahren in einer Schaffenskrise befand. Nach seinem Erfolg mit The Naked and the Dead hatte er mit dem die Linke Theorie diskutierenden Roman Barbary Shore einen veritablen Flop produziert, der genauso wie das nachfolgende The Deer Park auch bei der Kritik durchfiel. Seit Mitte der Fünfzigerjahre verlegte er sich mehr und mehr auf das Schreiben für Zeitungen und Zeitschriften. 1955 war er Mitgründer der New Yorker Szenezeitung The Village Voice. Für diese schrieb er anfangs eine Kolumne. Nach internen Streitigkeiten über das Lektorat und die Ausrichtung des Blattes zog er sich nach wenigen Monaten aus der redaktionellen Mitarbeit zurück.

Mailer erwies sich in dieser Phase seines Lebens als zur Teamarbeit unfähig. Er steckte voller Selbstzweifel und litt unter Depressionen. Zugleich führte er an der Seite seiner zweiten Frau Adele Morales ein ausschweifendes Gesellschaftsleben in der Stadt. Mailer schlug keine Einladung zu einer Party aus und ging oft als Letzter: volltrunken und zugedröhnt. In jenen Jahren kiffte er, schluckte regelmäßig Uppers und Downers. Diese Gefühls- und Konsumlage führten bei ihm zu oftmals extremen Stimmungsschwankungen, die ihn am 19. November 1960 dazu brachten, auf einer Party, bei der er seine Nominierung für die Bürgermeisterwahl bekanntgeben wollte, mit einem Messer auf seine Frau einzustechen und sie lebensgefährlich zu verletzen – gut eine Woche nach der Wahl John F. Kennedys zum fünfunddreißigsten Präsidenten der USA. Selbst wenn dieser Mailer in seinem Team hätte haben wollen, spätestens jetzt hätte er ihn wieder kaltstellen müssen. Dass bei Kennedys Amtseinführung dann der bereits gebrechliche Robert Frost als erster Poet überhaupt in diesem Rahmen eines seiner Gedichte vortragen durfte, war für Mailer, der – notorisch geltungsbedürftig – keinen Augenblick gezögert hätte, einer Einladung des doch immerhin von ihm inthronisierten President-elect Folge zu leisten, dürfte als weitere Kränkung für ihn kaum noch fühlbar gewesen sein.

Doch als Autor war Norman Mailer nicht erledigt, im Gegenteil. Seine Frau wunderte sich, dass er noch in seinen ausschweifendsten Phasen zu arbeiten imstande war, »nach wie vor fähig, zu schreiben, gelegentlich sogar gut zu schreiben, wie der Artikel über Kennedy im Esquire beweist« (Mailer 2000: 347). Das Besondere an Mailers Artikel war, dass er nicht eigentlich ein Text über Kennedy war. Angesichts der Wirkung, die der Autor seinem Beitrag auf den Wahlausgang beimaß, ist man als Leser sogar erstaunt zu sehen, wie selten Kennedy tatsächlich im Text auftaucht. Entscheidend ist, in welchen Momenten Mailer ihn auftreten lässt. Der szenische Aufbau des Textes ist so gefügt – daran erweist sich der Formwille des Literaten –, dass Kennedy als Deus ex Machina erscheint. Bei seiner Ankunft am Hotel Biltmore erlebt man den jugendlichen Politaufsteiger zunächst aus der Distanz. Doch schon hier sind sein Auftreten und sein Äußeres angetan, das, was man zuvor von Mailer an Abstoßendem von Amerika anno 1960 vernommen hat, vergessen zu machen. Endlich kommt man Kennedy etwas näher im Nachbericht einer Pressekonferenz, und schließlich sitzt er uns förmlich gegenüber beim kurzen Interview, das er Mailer gewährt.

Doch, wie gesagt, dies sind Auftritte von kurzer Dauer. Der Autor will ein Gesamtbild des Konvents erschaffen, ihn drängt es an möglichst viele Orte, er muss sich mit Eindrücken und Gesprächen vollsaugen und diese so anschaulich wiedergeben, dass für die Leser*innen die Illusion entsteht, sie nähmen selbst an dem Parteitag teil. Laut dem zuständigen Redakteur Clay Felker lieferte sein Autor »insights that you yourself could never have thought of« (Manso 1985: 305). Und doch ist bei allem, worüber Mailer im Artikel in Abwesenheit Kennedys berichtet und reflektiert, die Immanenz des kommenden Präsidenten spürbar. Eine erstaunliche publizistische Leistung, über die sich kommende einflussreiche Journalisten wie Ed Kosner, Don Forst, Pete Hamill oder Al Aronowitz damals eifrig untereinander austauschten. Wäre es nach Esquire-Herausgeber Arnold Gingrich gegangen, wäre der Artikel übrigens überhaupt nicht erschienen. Felker berichtet: »Gingrich hated the piece, thought it was just blather. Except for the fact we had left space in the issue, he wouldn’t have run it, and he told me so.« (Manso 1985: 304)

Mailer in der dritten Person

Während Mailer in »Superman Comes to the Supermarket« von den oben erwähnten Stilmitteln »Dramatic Scene«, »Status Details« und »Recording Dialog in Full« für sich anverwandt und in seinen dort angestellten Reflexionen keinen Zweifel daran gelassen hatte, dass er wie schon zuvor als Kolumnist und Essayist jetzt auch als Reporter in dem Gewand eines Poeta doctus vor ein handverlesenes Bildungspublikum zu treten gedachte, fehlte die für seine journalistischen Arbeiten typischste Ingredienz noch. Erst vier Jahre später, in dem Esquire-Artikel »In The Red Light: A History of the Republican Convention in 1964« über den von der Präsidentschaftskandidatenkür des erzkonservativen Senators Barry Goldwater dominierten Parteitag der Republikanischen Partei, findet Norman Mailer erstmals den schreiberischen Dreh, für den er künftig gleichermaßen gerühmt, belächelt und verachtet werden sollte. Hatte er schon im »Superman«-Beitrag angedeutet, dass er nicht gewillt war, sich auf die Position des unbeteiligten Beobachters zu beschränken, so ging er jetzt den entscheidenden Schritt weiter und integrierte sich in seine Reportage selbst als Akteur der Ereignisse, die er als Berichterstatter schildert. Zwar agiert er hier noch nicht wie ein Feuerwehrmann, der Brände legt, um diese eigenhändig löschen zu können (diese Grenze sollte er erst in weiteren vier Jahren überschreiten), aber Mailer ist für seine Geschichte zumindest doch so etwas wie ein Brandbeschleuniger, ein Katalysator der Geschehnisse, die er selbst voranzutreiben gewillt und von denen zu berichten er beauftragt ist. Sein Biograf Carl Rollyson erkennt, »Mailer is not outside the action but an integral part of the setting he describes« (Rollyson 1991, 133). Die Doppelfunktion des Berichtenden und des Handelnden wird er 1968 in dem mit dem Pulitzerpreis bekränzten The Armies of the Night und in dem Reportagebuch Miami and the Siege of Chicago ausdehnen und auf die Spitze treiben.

Nach Ansicht von Werner D’Inka stellt dies ein für einen Journalisten und Reporter gefährlichen, letztlich nicht gangbaren Weg dar, denn der »Autor ist Diener seines Stoffes und Treuhänder seines Publikums, aber nicht Selbstdarsteller« (D’Inka 2019: 219). Tatsächlich sieht Norman Mailer, dessen persönlicher Stil in der Tradition eines William »Peter Porcupine« Cobbett, eines H. L. Mencken und der Muckraker steht, seine Verantwortung in allen drei Funktionen. Er fühlte sich als Autor dem Stoff und dem Publikum in gleichem Maße verpflichtet wie den Geschehnissen, in die er, der Tatmensch, geworfen war. So schildert er etwa in seiner Reportage »Miami and the Siege of Chicago«, wie er in der bürgerkriegsähnlichen Atmosphäre rund um den Parteikonvent der Demokratischen Partei 1968 in Chicago sich den Anweisungen eines Nationalgardisten widersetzt, in der Folge von einer Gruppe Soldaten abgeführt und für kurze Zeit festgesetzt wird, wie er in den tumultuösen Szenen unterhalb des Fensters seines im neunzehnten Stock gelegenen Hotelzimmers, wo Gruppen von Demonstrant*innen von der Polizei mit Tränengas- und Schlagstockeinsatz auseinandergetrieben werden, eine gewisse Schönheit erblickt; und er ergreift sogar offen Partei für die linken Demonstrant*innen, deren Duldsamkeit und Ausdauer angesichts des tagelangen massiven Einschreitens von Polizei und Nationalgarde Mailer tief bewegt, indem er zu ihnen redet und sie seiner Solidarität versichert; später unternimmt er sogar den halbherzigen Versuch, dreihundert Parteidelegierte dazu zu gewinnen, sich einem Protestmarsch anzuschließen, damit diese einen Schutzschild um die jugendlichen Demonstranten bilden.

Journalistisches No-go oder Might-go

Wie Schauspieler*innen bereits früh klargemacht wird, dass sie bei einem Dreh nicht in die Kamera zu schauen haben, so erfahren Journalist*innen in Ländern, in denen Medien nicht von der Politik gegängelt werden, während ihrer Ausbildung, dass Neutralität stets das oberste Prinzip in ihrer Berichterstattung zu sein hat. Doch gibt es Einschränkungen, denn »[w]hile ›neutrality‹ is one standard in journalism, it’s always been clear that journalists need not be neutral about everything. They need not be neutral, for example, about violent attacks upon the institutions that make democracy and self-government possible, a system in which they play a crucial role.« (Clark 2021) Bezögen wir bei den Institutionen den Souverän als Körperschaft mit ein, könnten wir diese Ausnahme auch auf Mailers Ausführungen zu den Ausschreitungen in Chicago und zu seiner Rolle beim Protestmarsch auf das Pentagon 1967 (The Armies of the Night) anwenden. Doch galten dem freiheitsliebenden Mailer selbstverpflichtende Kategorien wie diese in seinem journalistischen Wirken ohnehin als Makulatur.

Die von Werner D’Inka für Reportagen zurückgewiesene Ich-Form zumindest hat Mailer nach einmaliger Anwendung in dem bereits erwähnten Artikel »In The Red Light« für sich gleichfalls ausgeschlossen. Er rekurrierte fortan auf sich selbst in der dritten Person. Er, der sich in seinen Beiträgen als eine Figur neben andere stellte, verpasste sich in seinen groß angelegten Berichten Namen wie »the reporter« (Miami and the Siege of Chicago), »Mailer« (The Armies of the Night), »Aquarius« (Of a Fire on the Moon) oder »the interviewer« (The Fight). Und diese führte er so durch seine Reports und Reflexionen wie ein Romancier seine Figuren durch eine Geschichte navigiert. Entsprechend vorsichtig gilt es für die Forschung zu sein, in Mailers journalistischen Arbeiten eine Kongruenz zwischen dem Autor und den nach ihm modellierten Figuren zu postulieren.

Mailers Weg als Journalist führte ihn neben weiteren Reportagen von Nominierungsparteitagen (bis in die Neunzigerjahre) über Kolumnen, Rezensionen und Interviews (unter anderen mit Madonna) bis zu seiner investigativen Arbeit über Lee Harvey Oswald, für die er Zugang zu bislang verschlossenen KGB-Akten erhalten hatte. Sechzehn Jahre zuvor hatte er mit The Executioner’s Song (1979) einen Text vorgelegt, der auf der Grenze zwischen journalistischem Bericht und Tatsachenroman (»Nonfiction Novel«) stand. Das Buch über den auf seine eigene Hinrichtung insistierenden Mörder Gary Gilmore stellt eine Bravourleistung in Sachen Recherche und Authentizität dar. Zusammen mit dem Autor und Regisseur Lawrence Schiller, mit dem er schon bei seiner umstrittenen wie kommerziell erfolgreichen Marilyn-Monroe-Biografie von 1973 zusammengearbeitet hatte, führte Mailer Hunderte von Interviews und gestaltete daraus einen Text, der die Leserschaft zu den Tatorten, ins Gefängnis, vor Gericht und in den Hinrichtungsraum führt und der darüber hinaus ein Lehrstück über die Wesenhaftigkeit des Mormonenstaates Utah, die Selbstbestimmtheit des Individuums hinsichtlich des eigenen Todes, die Sinnhaftigkeit der Todesstrafe und die behördlichen Abläufe bei einer potenziellen Begnadigung ist.

Die Fülle und der Erkenntnisreichtum der publizistischen Schriften Norman Mailers stehen denen seines belletristischen Werkes in nichts nach, im Gegenteil. In den USA gibt es das geflügelte Wort, »that journalists write the ›first draft of history […]‹« (Vaughn 2008: xxv). In dieser Hinsicht hat Mailer als Beobachter und gleichzeitiger Kommentator der Zeitläufte der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts in den Vereinigten Staaten einen großen Beitrag geleistet, der kommenden Generationen hilft, zu sehen und zu verstehen, wo die Konfrontationslinien innerhalb der amerikanischen Gesellschaft verliefen und wie sich die daraus folgenden Geschichten zu Geschichte verdichteten. Mailer erfasste historische Ereignisse und indem er sie niederschrieb, betrieb er literarisch-journalistisches Reenactment, das als Ergänzung zu herkömmlichen papiernen Geschichtsbüchern verstanden werden muss.

Unbedingte Meinungsstärke

Mailer stand zeit seines Lebens als Autor und öffentliche Person im Ruf, Meinungen zu vertreten, die in den seltensten Fällen common sense waren, diese unter allen Umständen publik zu machen und gegen alle Widerstände zu verteidigen. Nach dem Zweiten Weltkrieg betrieb er zum Beispiel Wahlkampf für den progressiven Präsidentschaftskandidaten Henry Wallace, der für einen Ausgleich mit der Sowjetunion eintrat und den Kalten Krieg beenden wollte, eine Position, die sogar vielen Linken im Land Ende der Vierzigerjahre zu brisant erschien. Und Mailer ging noch weiter und sprach sich für ein sozialistisches Gesellschaftssystem auf amerikanischem Boden aus – eine durchaus unpopuläre und karrieregefährdende Einstellung zu einer Zeit, als der Senator von Wisconsin, Joseph R. McCarthy, »auszog, die Amerikaner das Fürchten vor dem Kommunismus zu lehren« (Angermann 1995: 346). Gleichzeitig stellte Mailer sich bei einer von sozialistischen Kräften finanzierten Friedenskonferenz vor eine Zuhörerschaft aus Kommunisten und Stalinisten und erklärte dieser, dass beide Systeme, das der USA und das der UdSSR, sich einander annähern und auf eine Form des Staatskapitalismus zusteuern würden. Mailer gab sich erstmals vor seinen Genoss*innen und Mitstreiter*innen als Antistalinist zu erkennen – und als jemand, der sich nicht auf Linie bringen lässt, wenn er selbst zu anderen Ergebnissen gelangt. Dabei waren diese nicht immer zwangsläufig richtig. Bezüglich der Notwendigkeit der Verteidigung Europas durch die Amerikaner etwa, ausgeführt in dem 1954 in Dissent veröffentlichten Essay »The Meaning of Western Defense«, erwiesen sich seine Betrachtungen, die, wie er selbst einräumte, die analytische Anmut eines Walter Lippmann vermissen ließen (vgl. Mailer 1992: 187), als ebenso irrig wie seine Überlegungen zu einem von ihm vermuteten Supervulkanismus auf dem Mond, die er in A Fire of the Moon anstellt, seiner alles in allem brillanten Auseinandersetzung mit der ersten Mondlandung, die zugleich einen der Höhepunkte seines Flirts mit dem New Journalism darstellt.

Auch als sich erwies, dass Mailer für den Angriff auf seine Frau nicht ins Gefängnis musste, blieb er meinungsstark und provokant. So trug er etwa öffentliche Fehden mit dem konservativen Kommentator William F. Buckley Jr. oder dem Schriftstellerkollegen Gore Vidal aus. Daneben zog er, der in seinem Leben sechsmal verheiratet war und für seine Promiskuität, seinen ausgeprägten Machismo und seine Faszination von Gewalt bekannt war, spätestens Anfang der Siebzigerjahre mit seiner Streitschrift »The Prisoner of Sex« den geballten Zorn prominenter Feministinnen wie Kate Millett oder Germaine Greer auf sich.

Schon mit seinem Essay »The White Negro« hatte er keine Rücksicht auf etwaige Befindlichkeiten schwarzer US-Amerikaner wie den mit ihm befreundeten Schriftsteller James Baldwin genommen, als er darin Rassenstereotype bediente. Zwar brachte er sich gerne mit gezielten Provokationen ins Gespräch, doch war die Rolle des öffentlichen Buhmanns für Mailer kein Geschäftskalkül. Vielmehr ging es ihm, dem selbsternannten psychic outlaw, darum, Denkanstöße zu geben und – auch auf die Gefahr hin, verfemt zu werden – gesellschaftliche und politische Debatten anzustoßen, indem er an Tabus rührte sowie sensible Themen aufgriff und die kontrovers geführten Diskussionen darüber noch weiter zuspitzte, um wahrhaftiges freiheitliches Leben und Denken zu erstreben und zu gewährleisten. Diese Haltung prägt seine journalistischen Arbeiten.

Unzeit für Mailerschen Vollkontaktjournalismus

Dies war in Zeiten vor entfesselter Political Correctness und Cancel Culture. Beide Kampfbegriffe stehen beispielhaft für eine Entwicklung in der öffentlichen Meinungsbildung, die es einem Norman Mailer heute unmöglich machen würden, den von ihm gepflegten Vollkontaktjournalismus zu seinen Konditionen weiterzuführen. Mailers langjähriger Wegbegleiter und Freund Gay Talese bedauert diesen schleichenden Prozess, der den gesamtgesellschaftlichen Diskurs seines Landes verändert, wie er im Interview ausführt:

»Es gibt keinen Norman Mailer mehr, der die Meinungsfreiheit in den Vereinigten Staaten verteidigen würde. Mein Land wird augenblicklich von einer Welle der Heuchelei im Namen der Tugend überschwemmt. Wir verteidigen die Menschenrechte und predigen sie in der ganzen Welt, halten uns aber selbst nicht daran. Redakteure von Zeitungen und Zeitschriften werden heutzutage gefeuert, wenn sie Dinge abdrucken, mit denen ihre jungen Mitarbeiter nicht einverstanden sind. Der opinion editor der New York Times [James Bennet, S.T.] verlor aus diesem Grund im vergangenen Jahr seine Stellung. Das ist im selben Jahr noch weiteren Redakteuren widerfahren, darunter einem vom Philadelphia Inquirer [Stan Wischnowski, S.T.]. Vor nicht allzu langer Zeit wurde der Herausgeber der New York Review of Books, Ian Buruma, entlassen, weil er den Text eines umstrittenen Moderators veröffentlicht hatte. Warum ich das alles erwähne? Weil es im Moment keine Schriftsteller, keine Redakteure, keine Verleger, weil es überhaupt niemanden gibt, der dagegen protestieren würde. Wir in Amerika setzen uns angeblich für die Redefreiheit ein, für die Freiheit zu schreiben, zu denken und zu reden. Aber wenn da plötzlich etwas ist, was die Mehrheit als beleidigend empfindet, erleben wir Zensur und die Entlassung von Menschen« (Thomsen 2020a).

Während die verschiedenen Stimmen im wissenschaftlichen Diskurs des deutschsprachigen Raumes noch damit befasst sind, den Begriff Cancel Culture überhaupt zu determinieren und darin übereinzukommen, ob und in welcher Form es ein solches Phänomen hier überhaupt gibt, wird es auch bei uns schwieriger, eine Meinung zu platzieren, die dem Konsens entgegensteht. Die das Heft des Handelns bei der Beurteilung dessen in der Hand haben, was politically correct, was in der Öffentlichkeit sagbar ist und was nicht, sprechen mittlerweile immer öfter Empfehlungen aus, wer bei einem allgemeinen Diskurs gelitten sein sollte und wer nicht.

Ein Norman Mailer hatte es als Bestsellerautor sogar in der Ära Eisenhower leichter, öffentliche Plattformen zu finden, von denen aus er seine stets pointiert vertretenen und apodiktisch vorgetragenen Ansichten zu Bereichen wie Literatur, Rasse, Homosexualität, Religion, Gewalt, Drogen oder Politik verbreiten konnte. Die Macher von US-Magazinen wie Esquire, Dissent, Life, The New Yorker oder The Atlantic waren damals freilich auch von einem progressiven Geist durchdrungen, der dem stickigen gesellschaftlichen Klima entgegenstand. Mailer attackierte. Mit seiner Person und der Vehemenz seiner Angriffe provozierte er starke Gegenreaktionen. Doch er blieb mit den meisten seiner Gegner*innen im Gespräch. Der Verfasser des von etlichen Feministinnen als frauenverachtend empfundenen Romans An American Dream stellte sich etwa im Rahmen einer öffentlichen Debatte seinen Widersacherinnen.

Diese Auseinandersetzung fand vor fünfzig Jahren statt. Und heute? Die Professorin und Autorin Wendy Lesser ist überzeugt, dass die augenblicklichen Gegebenheiten im öffentlichen Raum gegen einen Norman Mailer sprechen, dass »die Zeit der Triggerwarnungen und der extremen Sensibilität in Bezug auf Rassen- und Geschlechterfragen nicht wirklich eine Zeit ist, in der man Mailer in vollem Umfang würdigen kann« (Thomsen 2020b).

Dabei wäre eine polarisierende Gestalt, die Einspruch duldet, ja, diesen sogar einfordert, im gegenwärtigen Klima, in der jeder und jede im uferlosen Raum des Internets ihre Ansichten kundtun, gleichzeitig aber selbst komplementären Meinungen gegenüber nicht aufnahmefähig zu sein scheinen, so wichtig. Die Regeln, wem was in welchem Rahmen in der Öffentlichkeit zu sagen gestattet ist, werden im Moment offenbar von der sich durch die eigene moralisch-ethische Kandare selbst gängelnden Volksseele diktiert. John Stuart Mill als unbedingter Verteidiger der Meinungs-, Rede- und Pressefreiheit konstatierte im neunzehnten Jahrhundert: »If all mankind minus one were of one opinion, and only one person were of the contrary opinion, mankind would be no more justified in silencing that one person than he, if he had the power, would be justified in silencing mankind« (Mill 2009: 19). Dass es dieses Prinzip immer wieder aufs Neue zu verteidigen gilt, bestätigte Norman Mailer noch einmal drei Jahre vor seinem Tod, als er in einem Interview sagte: »I hate political correctness. My gut feeling is that at any given moment you have to explore what the nitty-gritty is, what the sense of the occasion is. I’m opposed to ideology« (Hammond 2004).

Über den Autor

Steven Thomsen (*1969), M.A., ist freier Journalist und Autor. Seit den 1990er-Jahren veröffentlicht er Beiträge in Zeitungen und Zeitschriften wie Computerwoche, Die Welt, Management und Training, Westfälische Rundschau, Stuttgarter Zeitung, Darmstädter Echo, Rheinische Post oder Publik-Forum. Derzeit arbeitet der studierte Literaturwissenschaftler an einem Buch über Leben und Werk Norman Mailers, das im Herbst 2022 erscheint. Kontakt: steven.thomsen@gmx.net

Literatur

Angermann, Erich (1995): Die Vereinigten Staaten von Amerika seit 1917 (9. Aufl., zuerst 1966). München: Deutscher Taschenbuch Verlag.

Bull, Hans Peter (2021): Wie wahr ist mediale Berichterstattung? Über Unsitten und Unwissenheit in der öffentlichen Kommunikation. In: Journalistik. Zeitschrift für Journalismusforschung, 4(2), S. 144-162. DOI: 10.1453/2569-152X-22021-11509-de

Clark, Roy Peter: Telling it like it is: When writing news requires a distance from neutrality. In: Poynter, 11.1.2021 https://www.poynter.org/reporting-editing/2021/telling-it-like-it-is-when-writing-news-requires-distance-from-neutrality/ (14.9.2021)

D’Inka, Werner (2019): Ein kleines Wort mit großen Folgen. Die Ich-Form im Journalismus: Grenzgängerei oder Transparenz-Vorbild? In: Journalistik. Zeitschrift für Journalismusforschung, 2(3), S. 218-224. DOI: 10.1453/2569-152X-32019-10161-de

Eberwein, Tobias (2013): Literarischer Journalismus. Theorie – Traditionen – Gegenwart. Köln: Herbert von Halem.

Haller, Michael (2020): Die Reportage: Theorie und Praxis des Erzähljournalismus. (7. Aufl., zuerst 1987). Köln: Herbert von Halem.

Hammond, Margo: Norman Mailer on the Media and the Message. In: Poynter, 5.2.2004 https://www.poynter.org/reporting-editing/2004/norman-mailer-on-the-media-and-the-message/ (14.9.2021)

Hollowell, John (1977): Fact & Fiction. The New Journalism and the Nonfiction Novel. Chapel Hill: The University of North Carolina Press.

Lennon, J. Michael (2013): Norman Mailer. A Double Life. New York: Simon & Schuster.

Mailer, Adele (2000): Die letzte Party. Mein Leben mit Norman Mailer. München, Zürich: Piper.

Mailer, Norman (1964): Superman Comes to the Supermarket. In: Ders.: The Presidential Papers. New York: Bantam Books, S. 27-60.

Mailer, Norman (1968): Miami and the Siege of Chicago. An Informal History of the Republican and Democratic Conventions of 1968. New York: New York Review Books.

Mailer, Norman (1992): Advertisements for Myself (zuerst 1959). Cambridge (Massachusetts), London: Harvard University Press.

Manso, Peter (1985): Mailer. His Life and Times. New York: Simon & Schuster.

Merrill, Robert (1978): Norman Mailer. Boston: Twayne Publishers.

Mill, John Stuart (2009): On Liberty. In: Ders.: The Basic Writings of John Stuart Mill: On Liberty, The Subjection of Women and Utilitarianism. New York: Classic Books America, S. 2-128.

Rollyson, Carl (1991): The Lives of Norman Mailer. A Biography. New York: Paragon House.

Thomsen, Steven (2020a): Interview mit Gay Talese. Unveröffentlichtes Recherchematerial.

Thomsen, Steven (2020b): Interview mit Wendy Lesser. Unveröffentlichtes Recherchematerial.

Vaughn, Stephen L. (Hrsg.) (2008): Encyclopedia of American Journalism. New York, London: Routledge.

Watts, Steven (2016): JFK and the Masculine Mystique. Sex and Power on the New Frontier. New York: Thomas Dunne Books.

Wolfe, Tom; Johnson, E. W. (Hrsg.) (1973): The New Journalism. New York: Harper & Row.


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Zitationsvorschlag

Steven Thomsen: Mikrofon und Federkiel. Ab den 1960er-Jahren rückte der New-Journalism-Exponent Norman Mailer der Reportage mit literarischen Mitteln zu Leibe. In: Journalistik. Zeitschrift für Journalismusforschung, 3, 2021, 4. Jg., S. 238-255. DOI: 10.1453/2569-152X-32021-11782-de

ISSN

2569-152X

DOI

https://doi.org/10.1453/2569-152X-32021-11782-de

Erste Online-Veröffentlichung

November 2021