Lasst uns über Utopien sprechen Zur Aktualität der ökologischen Visionen und der Medienkritik in Ernest Callenbachs Ökotopia-Roman

von Gabriele Hooffacker

Abstract: Utopien erlauben, die Gegenwart aus einer als positiv ange­nom­menen Perspektive aus der Zukunft zu kritisieren. Derzeit dominieren jedoch Dystopien den Diskurs. Am Beispiel von Ernest Callenbachs Ökotopia-Roman von 1975 hat die Autorin die Aktualität einer positiven ökologischen Utopie in der Lehre erprobt: Im Rahmen einer Sommerakademie lasen Studierende Auszüge des Romans und untersuchten ihn auf seine positiven ökologischen Zukunftsvisionen einerseits, auf seine Kritik am zeitgenössischen Mediensystem andererseits. Die Studierenden waren fasziniert davon, wie viel Wissen über ökologische Zusammenhänge bereits Mitte der 1970er-Jahre verfügbar war, und nahmen sich vor, künftig die Auswahl von Informationen sowie die mediale Darstellung von Krisenphänomenen stärker zu hinterfragen.

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Vor dem großen Thema des Klimawandels treten andere große Fragen der Menschheit wie Hunger, Krieg oder sogar Pandemien in den Hintergrund, insbesondere für diejenigen Generationen, die den größten Teil ihres Lebens noch vor sich haben. Sie kämpfen mit aller Kraft darum, die Welt, wie wir sie kennen, für sich und ihre Nachkommen zu erhalten. Doch sind sie angesichts dieser anstehenden Katastrophe überhaupt noch für positive Utopien empfänglich? Und wie sehen sie die Rolle der Medien?

Utopien liefern eine gute Möglichkeit, die Gegenwart im Gewand der Perspektive aus der Zukunft kritisch darzustellen. Ursprünglich auf Politik und Gesellschaft bezogen, haben sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts die Wege wissenschaftlicher und literarischer Utopie getrennt (vgl. Seeßlen 1980: 21f.). Seit der industriellen Revolution sind Utopien auch immer technische Utopien. Oft ist es ein Reisender, der an einem unbekannten Ort, Utopia bei Thomas Morus, oder am selben Ort in einer künftigen Epoche, bei H. G. Wells mittels Zeitmaschine in der Zukunft, landet und den Zurückgebliebenen – bei Wells sind auch Journalisten darunter – davon berichtet. Im Verlauf der Entwicklung des Genres steht der Spannungsaufbau immer mehr im Mittelpunkt sowie die Psychologie des Reisenden, der sich nunmehr auf »Heldenreise« begibt. Doch im Laufe des 20. Jahrhunderts treten an die Stelle der positiven Utopien eines Idealstaats, auch »Eutopien« genannt (Poltrum 2011: 23), immer mehr Dystopien: Zukunftsvisionen von katastrophenartigem Ausmaß.

Medien und Journalismus sind zwar oft Gegenstand von Science-Fiction-Filmen (vgl. Godulla 2017: 260f.), jedoch eher selten von Utopien in literarischer Form. Und wenn, dann sind es eher satirische Anspielungen und Seitenhiebe, wie bei Terry Pratchett im Band Die volle Wahrheit, einem Roman aus der Scheibenwelt-Serie, in dem der Held William de Worde die schönen Worte spricht: »Nachrichten sind hauptsächlich Dinge, von denen irgendwo irgendjemand möchte, dass wir sie nicht in der Zeitung bringen« (Pratchett 2003: 407).

Im Rahmen einer Sommerakademie zum Thema »Utopien – Dystopien« im August 2021 hatte die Autorin Gelegenheit, mehrere Tage mit von der Studienstiftung geförderten deutschsprachigen Studierenden über Utopien und ihre Rezeption zu diskutieren. Ein Workshop widmete sich einer ökologischen Utopie aus dem Genre Öko-Fiction, dem Roman Ökotopia von Ernest Callenbach. Der ganze Roman ist praktisch eine einzige Medienkritik, eine These, der die Teilnehmenden der Sommerakademie im Einzelnen nachgegangen sind. Und er ist eins der wenigen Beispiele einer weitgehend positiven Utopie, die technische und gesellschaftliche Entwicklungen verbindet.

Eine Auswahl der Ergebnisse dieses Lehrexperiments wird im Folgenden vorgestellt, zum einen, weil der Roman anlässlich der »Fridays for future«-Bewegung bei den Studierenden einen Nerv getroffen hat, aber auch in der Hoffnung, wieder ein wenig Aufmerksamkeit für die umwelttechnische und soziale Utopie Callenbachs zu wecken, die in der Gründungsphase der ökologischen Bewegung in den USA und in Europa eine wesentliche Rolle gespielt hat.

Vorweg: Die Studierenden waren fasziniert von den ökologischen Visionen Callenbachs auf der Basis der bis dahin bekannten Forschungsergebnisse. Und sie konnten sich nicht genug darüber wundern, wie lang es bis zu ihrer Umsetzung gedauert hat und zum Teil noch dauert.

Ökotopia – eine ökologische Utopie von 1975

Ernest Callenbach lässt seinen Helden, den US-amerikanischen Journalisten William Weston, im Jahr 1999 in doppelter Mission in das Land Ökotopia reisen. Dabei handelt es sich um die US-Bundestaaten Washington, Oregon und Nordkalifornien, die sich Ende der 1970er-Jahre von den USA abgespalten und einen ressourcenschonenden Alternativstaat aufgebaut haben – eine Art »alternate time stream novel«.

1999 bestehen keine Kontakte zwischen den beiden Ländern, auch keine diplomatischen. Es gibt eine nahezu undurchlässige Grenze; das Wissen in den USA über Ökotopia ist gering. Weston reist einerseits im Auftrag der Times-Post nach Ökotopia, aber auch im Auftrag des Präsidenten und des Weißen Hauses, um erste Kontakte nach Ökotopia zu knüpfen.

Er berichtet regelmäßig für die Times-Post, angefangen von der Anreise, dem Empfang an der Grenze, seinen ersten Eindrücken, seinen Reisen ins Landesinnere, seinen Erkundungen zum Verkehrswesen, zur Land- und Forstwirtschaft, zum Bildungs- und Wissenschaftsbetrieb, zum allesbeherrschenden Recycling und natürlich zu den Kommunikationstechniken und dem Mediensystem der Ökotopianer.

Gleichzeitig schreibt Weston Tagebuch. Im Roman sind den journalistischen Beiträgen jeweils die zeitlich parallelen Tagebucheinträge gegenübergestellt. Formal handelt es sich also zum einen um einen klassischen Roman in Tagebuchform, andererseits um einen Roman in Form journalistischer Beiträge.

Es gibt eine zunehmende Diskrepanz zwischen den Reportagen für die Times-Post und den eigenen Tagebuchaufzeichnungen Westons. Daraus lässt sich auf mehreren Ebenen Kritik am US-amerikanischen Mediensystem und dem amerikanischen Journalismus der 1970er-Jahre ablesen.

Die ökotopianische Gesellschaft

Ohne die Einzelheiten der ökotopianischen Gesellschaft, wie Callenbach sie 1975 konstruiert hat, nachzuzeichnen, zum besseren Verständnis der Medienkritik eine Skizze seiner ökologischen Utopie.

Von zentraler Bedeutung ist das »stabile Gleichgewicht« als Grundprinzip des ökotopianischen Wirtschaftens. Dahinter steht ein ausgefeiltes Recycling-System mit Mülltrennung und der Wiederverwendung sämtlicher Abwässer und Abfälle. In der Produktion werden für Kleidung oder Baustoffe ausschließlich nachwachsende Rohstoffe verwendet, insbesondere Baumwolle, Leinen und Holz.

Entsprechend spielt die Forstwirtschaft neben der Landwirtschaft eine große Rolle (Weston erlebt im Lauf des Romans eine intensive Liebesbeziehung zu einer Art Oberförsterin namens Marissa, die neben der pragmatischen auch eine spirituelle Beziehung zu Bäumen hat). Bäume und Wälder sind zahlreich, ebenso Wild, und die Stadtbewohner gehen regelmäßig mit Pfeil und Bogen auf die Jagd.

Die großen Städte wurden in überschaubare Gemeinschaften aufgeteilt. Die Möglichkeiten basisdemokratischer Mitwirkung sind zahlreich und werden auch gern genutzt. Überhaupt diskutieren die Ökotopianer gern; auf diese Weise lösen sie auch ihre Konflikte.

Magnetschwebebahnen überwinden lange Strecken, in den Städten gibt es kostenfreie elektrisch betriebene Busse und kostenlose Fahrräder für alle. Autos sind in den Städten zwar kaum mehr erforderlich, es gibt sie jedoch weiterhin. Sie werden aus normierten Bauteilen konstruiert, die man selbst zusammenstellen und leicht reparieren kann. Da viele Wege zu Fuß zurückgelegt werden, sind die Ökotopianer von bester Gesundheit.

Fabriken gehören den Arbeitern gemeinschaftlich. Sie haben das fordistische System der Arbeitsteilung überwunden; Maschineneinsatz erleichtert die Arbeit, alle Mitarbeiter:innen kennen den gesamten Produktionsablauf und haben vielfältige Aufgaben. Ähnlich überschaubar wie die Betriebseinheiten sind auch die Wohneinheiten. In großzügigen Mehrfamilienhäusern leben Menschen in Gruppen zusammen, wobei es jederzeit Rückzugsmöglichkeiten gibt. Gekocht und gegessen wird meist gemeinschaftlich, dasselbe gilt auch für die Kinderbetreuung. In den Schulen herrscht Präsenzunterricht, während die USA des Jahres 1999 längst zum computergestützten individuellen Heimunterricht übergegangen sind (Callenbach 1975/1990: 155).

Selbstverständlich sind Frauen (fast) vollständig emanzipiert. Ökotopia wird von einer Präsidentin regiert. Es gibt ein garantiertes Mindesteinkommen, das für Lebensmittel, Wohnung und medizinische Grundversorgung ausreicht. Lediglich eine Körperschaftssteuer wird erhoben, aber es gibt auch Konkurrenz wischen den kleinen Unternehmen (Schwendter 1994: 38). Marihuana ist legal (hier zeigt sich eine direkte Wunschvorstellung der 1970-er-Jahre), freie Sexualität möglich (der Schilderung sexueller Aktivitäten gibt Callenbach viel Raum, was ihm Kritik aus feministischer Perspektive eingetragen hat), die meisten Ökotopianer leben jedoch in stabilen Paarbeziehungen. Es gibt Breitensport, aber keine sportlichen Wettkämpfe.

Besonders irritierend wirkt auf den Helden Weston die Rückbesinnung auf Tradition und Spiritualität der indigenen Bevölkerung, die sich auch in sonderbarer Kleidung äußert, und in den berüchtigten regelmäßigen Kampfspielen, die oftmals blutig enden.

Callenbach spart auch den Transfer von der US-Gesellschaft zur ökologischen Wirtschaftsform nicht aus und beschreibt nahezu genüsslich, wie wohlhabende Bürger das Land nach dem friedlichen Umschwung fluchtartig verlassen, woraufhin aus der Krisenerfahrung heraus spontan ihre Produktionsstätten und Betriebe vergesellschaftet werden.

Insgesamt ist Ökotopia ein Gegenentwurf zu Thomas Morus‘ Utopia. Ein Beispiel ist etwa das Verhältnis zum Wald: Bei Morus wird er nutzbar gemacht und abgeholzt. Bei Callenbach stehen bei aller Nutzung ein Aufforstungsprogramm im Mittelpunkt und ein reflektierter Umgang mit der Bedeutung, die Holz für den ökologischen Kreislauf hat.

Ähnlich unterschiedlich wird das Verhältnis von Arbeit und Muße gesehen. Wird bei Morus zu Beginn der Neuzeit eine strikte Trennung als Ideal angesehen, gehen zum Ausklang des industriellen Zeitalters bei Callenbach Arbeit und Muße direkt ineinander über.

Doch es gibt auch Gemeinsamkeiten:

  • Utopia ebenso wie Ökotopia sind reale Orte, auch wenn es sich bei Ökotopia um eine Projektion in die nähere Zukunft handelt,
  • beides sind formal Reiseberichte,
  • beide üben im Gewand der Utopie Kritik an der eigenen Gegenwart.

Autor, Entstehungszeit und Rezeption

Offensichtlich lässt sich ein großer Teil der ökotopianischen Vision auf die Herkunft aus den Anfängen der sozial-ökologischen Bewegungen, insbesondere an der Westküste Kaliforniens zurückführen. Die Bezüge zur Krisenerfahrung in der Gesellschaft der USA in den 1970ern wurden von Richard Saage herausgearbeitet (vgl. Saage 2000: 1179f.). Ernest Callenbach selbst hat es so ausgedrückt: »Ich möchte sogar sagen, daß Ökotopia nur von jemand geschrieben werden konnte, der speziell hier in der San Francisco Bay Area lebt. Hier gibt es den ›Sierra Club‹, ›The Friends of the Earth‹ und viele andere ökologische Initiativen, die zu diesem Zeitpunkt anderswo gar nicht denkbar gewesen wären« (Saage 2000: 1180).

Wer war der Autor? Ernest William Callenbach (3. April 1929 in Williamsport, Pennsylvania – 16. April 2012 in Berkeley, Kalifornien) arbeitete als Schriftsteller und Filmjournalist. Als Universitätsdozent an der University of California in Berkeley war sein Lehrgebiet Filmgeschichte und Filmtheorie . Er gab bis 1991 die Zeitschrift Film Quarterly heraus (vgl. Saage 2000: 1181). Ökologie ist sein Lebensthema, Ökotopia sein Lebenswerk, wie er selbst schreibt.

So lässt er seinen Helden Weston, der seine Kinder in News York zurücklassen musste, betrauern, dass sie »ein Leben leben, das schließlich gefährlich ist und immer gefährlicher wird. Nicht nur wegen der Kriminalität und der verrückten Leute um sie herum, sondern weil abzusehen ist, daß Smog und Chemikalien noch unsere Kindeskinder vergiften werden.«

Anfangs wollte kein Verlag das Manuskript veröffentlichen, und Callenbach gab es schließlich 1974 im Selbstverlag heraus. Erst nach dem Erfolg des Romans konnte es bei Bentham erscheinen (vgl. Saage 2000: 1180). Nach und nach wurde er in neun Sprachen übersetzt, 1978 erschien er auf Deutsch beim Rotbuch-Verlag, und bis Anfang der neunziger Jahre waren 600 000 Exemplare verkauft. Der Roman war teilweise Schullektüre; so kam bei Reclam eine gekürzte englischsprachige Fassung heraus. Aufgrund des Erfolgs schob Callenbach später noch ein Prequel unter dem Titel Ein Weg nach Ökotopia nach.

Insgesamt nahm der Roman großen Einfluss auf die Gegenkultur und die Entwicklung der grünen Bewegung Ende der 1970er-Jahre in den USA ebenso wie in Europa (vgl. Saage 2000: 1181). Viele Bausteine der vorhersehbaren ökologischen Entwicklung waren bereits seit Beginn der 1970er-Jahre bekannt, insbesondere seit der Veröffentlichung von »Die Grenzen des Wachstums« (1972) des Club of Rome. Darauf nahm die Autorin in ihrem kurzen einleitenden Vortrag vor Beginn der Gruppenarbeit auch Bezug, was später von den Studierenden aufgegriffen wurde.

Medienkritik bei Callenbach

Weston stellt im Verlauf seines Aufenthalts in Ökotopia fest: Die sozialen Beziehungen haben sich durch das veränderte Wirtschaften und Zusammenleben in den 24 Jahren von Ökotopias Bestehen grundsätzlich gewandelt. Eine wesentliche Rolle spielt dabei das ökotopianische Mediensystem, das den Helden besonders interessiert, da er selbst als Journalist arbeitet. Doch das ist nicht die einzige Form der Medienkritik, die Callenbach eingearbeitet hat.

Im Folgenden werden vier Ebenen der direkten und indirekten Medienkritik bei Ernst Callenbach identifiziert:

  1. Darstellung des ökotopianischen Mediensystems
  2. Erkennbares Framing in den Berichten und Reportagen für die Times Post
  3. Das Mediensystem als Erfüllungsgehilfe der Regierung (Erkenntnis des Reisenden: Zahlreiche kriegerische Auseinandersetzungen werden den US-Bürger:innen verschwiegen)
  4. Zunehmendes inhaltliches Auseinanderdriften der Zeitungsbeiträge und der Tagebucheinträge bis hin zum (erwartbaren) Entschluss des Autors, nicht mehr in die USA zurückzukehren.

Mediensystem

Das ökotopianische Mediensystem ist die direkte Antwort auf den seit den 1960-er-Jahren beobachtbaren Konzentrationsprozess der Medienunternehmen in den USA, horizontal wie vertikal. Als Gegenentwurf wurden in Ökotopia die großen Medienkonzerne zerschlagen und kleine, lokale Medienunternehmen aufgebaut, insbesondere Fernsehsender. Entsprechend wird das Programm von Lokalnachrichten dominiert, etwa der Übertragung von Bürgerversammlungen, und einer anarchistisch anmutenden Programmzusammenstellung zwischen Komikerauftritten, alten Spielfilmen, Rockmusik und übernommenen Dokumentarfilmen. Mittels eines telefonischen Rückkanals können alle Zuschauer mitdiskutieren.

Das ökotopianische Pressegesetz verbietet Medienkonzentration. Bei der Werbung sollen kleine Produktionsunternehmen bevorzugt werden. Und anstelle einer großen Tageszeitung gibt es in San Francisco nun viele – sie bilden das gesamte Meinungsspektrum ab. Aber auch die anderen Städte verfügen nun über mehrere Presseorgane: vier in Seattle, drei in Portland, drei in Sacramento – angesichts des aktuellen Zeitungssterbens in den USA eine wahrhaft utopische Vision.

Technisch setzen die Zeitungen das Prinzip des E-Papers um: Sie werden zentral in Computern gespeichert und können dezentral sehr schnell kopiert oder auch nur vorübergehend mit einer Art elektronischer Tinte ausgegeben werden. Ähnlich werden Bücher verbreitet, so dass der Zugang zum Buchmarkt auch kleinen und Kleinstverlegern möglich ist. Alle Bücher können von der Nationalbibliothek in Berkeley elektronisch abgerufen und übermittelt werden (vgl. Callenbach 1975/1990: 149).

Bewegtbild dominiert auch die individuelle Kommunikation in Ökotopia: Nahezu flächendeckend ist kabelgebundene Videotelefonie verfügbar. Entsprechend entfallen zahlreiche Geschäftsreisen, Reisen findet vorwiegend zum Vergnügen statt (vgl. Callenbach 1975/1990: 53). Insgesamt ist die technische Entwicklung weit fortgeschritten: Es gibt »bemerkenswerte elektronische Kleingeräte«, etwa winzige tragbare Stereoanlagen und Funksprechgeräte in kleinen leichten Kopfhörern sowie hochempfindliche Steuerungsgeräte für Solarheizungssysteme.

Den Studierenden des Jahres 2021 fiel positiv auf, dass es im ganzen Roman keine Technikfeindlichkeit gibt. Im Gegenteil werden elektrotechnische Erfindungen geschätzt; Technik wird in Ökotopia auf hohem Niveau unter ökologischen Gesichtspunkten weiterentwickelt und dient dem gesamten Gemeinwesen. Damit nimmt Callenbach die Entstehung der ersten virtuellen Gemeinschaften vorweg, die ebenfalls in Kalifornien angesiedelt und aus der Alternativszene entstanden waren, wie »The Well«, das Howard Rheingold beschreibt (vgl. Rheingold 1994).

Framing

Den Studierenden fiel beim Lesen ausgewählter Beispiele auf, dass Weston in seinen Beiträgen für die Times-Post zu Beginn alles andere als nachrichtlich schreibt. Seine Berichte und Reportagen sind stark meinungsgefärbt; sie sehen Ökotopia durch die Brille des zeitgenössischen US-Amerikaners.

Er beschreibt bespielsweise den ökotopianischen Staatssekretär, der ihm das Wirtschaftssystem erklärt, mit herablassenden Adjektiven und Verben. Zwar gibt er wieder, wie der Staatssekretär die Vorteile des eigenen Umweltkreislaufs gegenüber der Ressourcenverschwendung der USA herausstellt, fährt aber in seiner Reportage fort: »Natürlich erweckte diese selbstgefällige Aufrechnung in jeder Beziehung meine Skepsis« (Callenbach 1975/1990: 27). Über die ökotopianische Vorliebe für gemeinsame sportliche Aktivitäten schreibt er: »Sogar Volleyball – Gott sei ihnen gnädig! – ist ein beliebter Zeitvertreib […]« (Callenbach 1975/1990: 49).

Offensichtlich kann der Journalist Weston sicher sein, dass seine Einschätzung vom Publikum in den Alt-USA geteilt wird, und stellt auf diese Weise Einvernehmen her. Eine Studentin beobachtete, dass die Trennung von Information und Meinung, eine Grundregel des angloamerikanischen Journalismus, hier von Callenbach mit voller Absicht nicht durchgehalten werde. Er karikiere hier wohl die zeitgenössische US-Berichterstattung über Länder des Ostblocks, Asiens oder Lateinamerikas, die voll von Vorurteilen und entsprechenden Frames gewesen sei.

Im Verlauf des Romans treten die Meinungsanteile in den Zeitungsbeiträgen in den Hintergrund. Der Journalist Weston scheint sich zunehmend zu bemühen, nunmehr objektiver über die Lage und die Verfasstheit Ökotopias zu berichten.

Zensur und Selbstzensur

Die stärkste Kritik am US-amerikanischen Mediensystem dürfte jedoch in einer Tagebuch-Szene beschrieben sein, in der Weston, der sich nunmehr mit ökotopianischen Journalisten angefreundet hat, gefragt wird: »Was war denn deiner Meinung nach die größte Story, die die Times je unterdrückt hat?« (Callenbach 1975/1990: 150). Weston versucht zunächst, sich aus der Affäre zu ziehen, in dem er »die Sache mit der Schweinebucht« nennt, die dann schließlich doch veröffentlicht worden sei. Er spielt damit auf die Invasion in der Schweinebucht 1961 auf Kuba an, als mithilfe der CIA Fidel Castro gestürzt werden sollte. Die US-Regierung hatte zunächst ihre Beteiligung abgestritten, musste sie dann jedoch zugeben.

Ebenfalls nennt Weston die »Pentagon-Papiere« als Beispiel und hebt die positive Rolle der Post an der Veröffentlichung der zunächst geheim gehaltenen Studie zur Außenpolitik der USA hervor (in der Realität war es zunächst die New York Times), worin ihm die ökotopianischen Journalisten zustimmen.

Doch nun stellt sich heraus, dass die US-Medien ihren Bürgerinnen und Bürgern einen kompletten Krieg verschwiegen haben, den sogenannten Hubschrauberkrieg an der Grenze zwischen USA und Ökotopia. »Welcher Hubschrauberkrieg?« fragt Weston, und das nehmen ihm wiederum die ökotopianischen Journalisten zunächst nicht ab.

Warum wurde der Krieg verschwiegen? Weil die Ökotopianer ihn mit überlegener Technik, modernen Hubschrauber-Abwehrraketen in wenigen Tagen und unter großen Verlusten des US-Militärs gewonnen hatten. (Wer will, kann hier Anspielungen auf moderne Raketen-Abwehrsysteme während des Kalten Krieges entdecken). Ökotopia verteidigte sich also erfolgreich militärisch, nicht zuletzt auch wegen seines ausgezeichneten Geheimdiensts, gegen die USA, die versuchten, mit einer Strategie aus dem Vietnamkrieg zu siegen, was jedoch misslang (Callenbach 1975/1990: 153).

Obwohl Weston nunmehr von der Realität des Hubschrauberkriegs überzeugt ist, nimmt er sich vor, seinen Zeitungsleserinnen und -lesern davon nichts zu berichten. Vor sich selbst begründet er das damit: »(…) ich bin kein verantwortlungsloser Narr, der alles schreibt, was ihm gerade in den Kopf kommt« (Callenbach 1975/1990: 155). Später entschließt er sich, auf keinen Fall darüber zu schreiben, obwohl er inzwischen glaubt, »daß es in der jüngeren Geschichte unseres Landes möglicherweise noch weitere dunkle Kapitel von ähnlicher Ungeheuerlichkeit gibt […]« (Callenbach 1975/1990: 163).

Formaler Aufbau

Wie beschrieben stellt der Roman jeweils den journalistischen Beitrag einer längeren Tagebuch-Eintragung Westons gegenüber. Die Studierenden haben herausgearbeitet, dass dabei den Berichten und Reportagen die Funktion zukommt, Callenbachs ökologische Vision zu beschreiben. Demgegenüber dienen die Tagebucheintragungen dazu, der Figur Weston psychologische Tiefe zu verleihen und Spannung zu erzeugen.

Zunächst stehen jedem Beitrag für die Times-Post jeweils thematisch passende und von ähnlichem Tenor getragene Tagebucheinträge gegenüber. Während das Unverständnis in den journalistischen Texten noch mit Sachargumenten gestützt wird, zeigt sich Weston in seinen Tagebucheinträgen als waschechter US-Amerikaner der Zukunft, etwas überheblich und von der US-Gesellschaft überzeugt.

Im Verlauf des Romans verändert sich das Verhältnis. Die journalistischen Beiträge werden zum einen objektiver, zum anderen stellen sie die ökotopianischen Verhältnisse mit zunehmendem Verständnis und sogar Sympathie dar. Schließlich wird der Autor von der Präsidentin Ökotopias empfangen. In seinem letzten Beitrag für die Times-Post zieht er als Fazit, »dass die hier durchgeführten sozialen Experimente auf biologischer Ebene erfolgreich gewesen sind« (Callenbach 1975/1990: 201) – die Luft sei kristallklar, die Menschen seien gesund und fühlten sich wohl, und das Wirtschaftssystem könne auf unbegrenzte Zeit weiterhin funktionieren. Diese Aussage relativiert er in der Folge jedoch wieder und lobt die USA als das bessere System – so sehr, dass ihn am Schluss der eigene Beitrag anwidert.

Schließlich führt den Helden die Vorstellung, mit seiner Rückkehr in die USA seine Beziehung zur Ökotopianerin Marissa und zu den Menschen in Ökotopia zu verlieren, in eine tiefe psychische Krise, aus der er mit ökotopianischer Hilfe gestärkt hervorgeht und sich entschließt, in Ökotopia zu bleiben. Der Roman endet mit einem sachlichen Nachwort des New Yorker Herausgebers, dem Weston sein Tagebuch übersandt hat, und einem persönlichen Abschiedsbrief Westons an seinen New Yorker Freund – auch hier wird die formale Zweiteilung beibehalten.

Rezeption durch Studierende 2021

So wenig die Autorin einschätzen konnte, wie Callenbachs Öko-Fiction auf heutige Studierende wirkt, so sehr war sie von der positiven Aufnahme der Textauszüge überrascht. Die Studierenden berichteten sich gegenseitig von der ökotopianischen Wirtschafts- und Gesellschaftsform und hatten sichtlich Spaß an den technischen Spielereien, die Callenbach seinen Ökotopianern zugesteht.

Im Feedback bekundeten fast alle ihr Interesse, zum einen den Roman lesen zu wollen. Andere schrieben, dass sie die Medien künftig kritischer betrachten würden, oder dass man seine eigenen Frames hinterfragen sollte, wenn man berichtet.

Noch in der Mittagspause diskutierten sie heftig und mit einer für uns Lehrenden überraschenden Wendung. Eine Studentin forderte zunächst weiteren Raum für die Studierenden ein, in denen sie auf der Basis des bisher Gehörten ihre eigenen Visionen und Utopien aufschreiben wollten. Und ans Dozententeam gerichtet fragte sie leidenschaftlich: Wenn das alles 1975 schon bekannt war – warum habt ihr die Klimakatastrophe nicht verhindert?

Die weitere Diskussion sei hier nicht wiedergegeben – sie nahm ein paar Stereotypen der »Boomer«-Debatte auf und wandte sich schließlich der Möglichkeit einer generationenübergreifenden Zusammenarbeit zu, bei der auch die Rolle der Medien diskutiert wurde. Doch die Aktualität, ja geradezu die Notwendigkeit einer positiven Utopie angesichts der Klimakatastrophe hat sie insgesamt bestätigt.

Über die Autorin

Gabriele Hooffacker (*1959), Dr. phil., lehrt als Professorin an der Fakultät Informatik und Medien der HTWK Leipzig. Sie ist Mitherausgeberin der Zeitschrift Journalistik. Kontakt: g.hooffacker@link-m.de

Literaturverzeichnis

Callenbach, Ernest (1975/1990): Ökotopia. Notizen und Reportagen von William Weston aus dem Jahre 1999 (2 Ausg., zuerst 1978). Berlin: Rotbuch.

Heinisch, Klaus (1980): Der utopische Staat. Morus: Utopia, Campanella: Sonnenstaat, Bacon: Neu-Atlantis. Reinbek: Rowohlt.

Godulla, Alexander (2017): Schlechte Nachrichten aus Dystopia? In: Communicatio socialis 50(4), S. 460-471.

Poltrum, Martin (2011): Eutopie, Dystopie, Kolonie. Utopisches Denken in der Psychotherapie. In: Musalek, Michael; Poltrum, Martin (Hrsg.): Ars medica. Berlin: Lengerich, S. 121-147.

Pratchett, Terry (2003): Die volle Wahrheit. Ein Scheibenwelt-Roman. München: Wilhelm Goldmann.

Rheingold, Howard (1994): Virtuelle Gemeinschaft. Soziale Beziehungen im Zeitalter des Computers. Bonn: Addison Wesley.

Saage, Richard (1991): Politische Utopien der Neuzeit. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft.

Saage, Richard (2000): Zwischen Innovation und Regression. Zu Ernest Callenbachs »Ökotopia«. Notizen und Reportagen von William Weston aus dem Jahr 1999. In: Utopie kreativ (11)121/122, S. 1179-1191.

Schwendter, Rolf (1994): Utopie. Überlegungen zu einem zeitlosen Begriff. Berlin, Amsterdam: Edition ID-Archiv. Online unter: https://www.nadir.org/nadir/archiv/PolitischeStroemungen/utopie/utopie.html (4.8.2021)

Seeßlen, Georg (1980): Kino des Utopischen. Geschichte und Mythologie des Science-Fiction-Films. Reinbek: Rowohlt.


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Zitationsvorschlag

Gabriele Hooffacker: Lasst uns über Utopien sprechen. Zur Aktualität der ökologischen Visionen und der Medienkritik in Ernest Callenbachs Ökotopia-Roman. In: Journalistik. Zeitschrift für Journalismusforschung, 3, 2021, 4. Jg., S. 256-266. DOI: 10.1453/2569-152X-32021-11784-de

ISSN

2569-152X

DOI

https://doi.org/10.1453/2569-152X-32021-11784-de

Erste Online-Veröffentlichung

November 2021